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Am 4. Juli wird der Komet "Tempel 1" von der NASA "beschossen"

Martialisches Manöver

Ein

Ein "Brösel" des Meteoriten "Orgueil" unter dem Mikroskop. Foto: Pinter

Ein Foto des Kometen

Ein Foto des Kometen "Wild 2" – "Tempel 1" ist ähnlich zernarbt. Foto: NASA

Von Christian Pinter

Ernst Tempel, geboren am 4. Dezember 1821 im sächsischen Niedercunnersdorf, ist Lithograph. Zunächst arbeitet er in Kopenhagen, später in Venedig. Dort erwacht sein Interesse an der Himmelskunde. Er beobachtet das Firmament, hält Ausschau nach bisher unbekannten Objekten. 1859 geht ihm tatsächlich ein Komet ins Netz – ein Dutzend weiterer wird folgen. Tempel will die Astronomie nun professionell betreiben. Er besitzt jedoch keine wissenschaftliche Ausbildung. Am Pariser Observatorium lehnt man seine Aufnahme ab. An der Sternwarte Marseille akzeptiert man ihn nur wenige Monate lang. Tagsüber wieder Lithograph, betätigt sich Tempel nachts als Amateurastronom. Er stöbert fünf Kleinplaneten auf.

Im April 1867 findet er jenen Himmelsvagabunden, den man später "Tempel 1" nennen wird. Vier Jahre danach muss er, weil Deutscher, Frankreich verlassen. Giovanni Schiaparelli nimmt ihn als Assistent am Mailänder Observatorium auf. Der Italiener berechnet die Raumbahn jener Sternschnuppen, die Mitte November über den Himmel huschen. Sie stimmt mit dem Orbit des Kometen Tempel-Tuttle überein, den Tempel und Horace Tuttle 1865/66 entdeckt haben. Offenbar verliert der kosmische Vagabund Material. Kreuzt die Erde die Kometenbahn, verdampfen Teilchen in der Lufthülle.

Staub und Gas im Schweif

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften zeichnet Ernst Tempel mehrfach aus. Mit Hilfe eines seiner Funde aus dem Jahr 1864 werden erste Kometenspektren angefertigt – unter anderem von Giovanni Donati nahe bei Florenz. Sie belegen: Im Kometenschweif gibt es nicht nur Staub, sondern auch Gas. Donati, selbst Entdecker, fand 1858 den prächtigen Himmelsvagabunden, von dem helle parabolische Hüllen fortzogen. Offensichtlich strömte die Materie auf der sonnenzugewandten Seite des Kometenkopfs mit hohem Tempo ins All hinaus.

Nach Donatis Tod schlägt Schiaparelli seinen deutschen Assistenten als Leiter der nun verwaisten Sternwarte in Arcetri vor. Doch diese Stelle ist nur sehr dürftig datiert. Tempel führt das halbfertige Observatorium am Sterbeort Galileis als Einmannbetrieb. Tempel stirbt am 16. März 1889.

116 Jahre später nimmt die NASA den Kometen Tempel 1 aufs Korn. Vor langer Zeit verdammte ihn eine Begegnung mit dem Riesenplaneten Jupiter dazu, immer wieder ins innere Planetensystem zurückzukehren. Heute pendelt er auf einer sehr exzentrischen Ellipse zwischen den Bahnen von Jupiter und Mars hin und her. Nur etwa 14 mal 5 km klein, kommt der erdnussförmige Himmelskörper alle 5½ Jahre "ins Schwitzen": In Sonnennähe verwandelt sich das Wassereis knapp unter seiner Oberfläche in Gas. Hoher Druck treibt es in den Weltraum.

Dabei wird Staub mitgerissen. Er reflektiert die Sonnenstrahlen, während solares UV-Licht das Gas zum Leuchten bringt. Rasch bildet sich in diesem Bahnabschnitt um den Kern eine auffällige Hülle, die Koma (vgl. griech. kome , Haar). Nähern sich die "Haarsterne" der Sonne noch mehr, erfasst der Sonnenwind Gas und Staub und formt daraus die berühmten Kometenschweife. In ihnen hat die Spektralanalyse seit Donatis Lebzeiten schon vier Dutzend verschiedener Moleküle identifiziert. Zu den komplexesten zählt das erst jüngst nachgewiesene Ethylenglykol.

Das Innere von Kometen besteht wohl aus einem Konglomerat von Eis, Steinchen und Staub. Deshalb verglich sie Fred Whipple 1950 mit "schmutzigen Schneebällen" . Die Staubkörner an der rauen Oberfläche tragen wahrscheinlich silikatische Kerne in sich, die von organischen Verbindungen und anfangs auch noch von Wassereis ummantelt sind. Beim Bad in der Sonne gehen die flüchtigen Substanzen verloren. Die so veränderten organischen Mäntel kleben aneinander, bauen eine schwarze Kruste auf. Sie wächst mit jeder neuen Annäherung an die Sonne.

Weil Tempel 1 das vermutlich schon mehr als hundert Mal gemacht hat, ist seine Kruste mehrere Meter dick. Auf dem Weg ins Vakuum hinaus müssen sich Gas und Staub durch Risse oder Poren dieser Deckschicht zwängen. Besitzer größerer Amateurteleskope erspähen den äußerst lichtschwachen Kometen jetzt nahe dem hellen Stern Spica in der Jungfrau. Im Juli durchläuft er wieder seinen sonnennächsten Bahnpunkt. Wenige Stunden zuvor wird er jedoch das Opfer eines bösen Angriffs.

Die Sonde "Deep Impact" steuert auf ihn zu. Zunächst nur, um ein paar Fotos zu machen, sodass den Forschern bald Nahaufnahmen von insgesamt vier Kometenkernen vorliegen werden. 1986 porträtierte die europäische Sonde "Giotto" den Schweifstern Halley, 2001 beäugte der NASA-Roboter "Deep Space 1" dessen Kollegen Borrelly, und im Vorjahr nahm die US-Sonde "Stardust" den Kometen "Wild 2" unter die Lupe. Die Oberfläche dieser nur 4 km kleinen Welt ist von etlichen Kratern gezeichnet. Sie zeugen von Kollisionen mit noch winzigeren Himmelskörpern.

Mit Fotos allein begnügt sich Deep Impact ( impact , engl. Einschlag, Wirkung) aber nicht. Am 3. Juli entlässt sie ihre nur einen Meter kleine Tochtersonde. Diese nähert sich "Tempel 1" noch mehr, überwindet in jeder Sekunde 10,2 km. Ihre Bordkamera hält immer feinere Details fest. Die Muttersonde spielt Relaissatellit, leitet die Kometenbilder zur Erde weiter. Bei uns treffen sie 7,5 Minuten später ein. So lange braucht der lichtgeschwinde Datenstrom, um 134 Millionen km zu überwinden. Die letzte Aufnahme sendet das kleine Raumfahrzeug am 4. Juli knapp vor 8 Uhr MEZ. Augenblicke später existiert es nicht mehr.

Gern würden Wissenschaftler "ein Stück Komet" im Labor untersuchen. Doch die Meteorite in unseren Sammlungen stammen von Kleinplaneten. Keines der Handstücke ist zweifelsfrei kometarer Herkunft. Eine an Kohlenstoff und Wasser reiche Untergruppe der Himmelsboten zeigt allerdings Eigenschaften, die man, spekulativ, auch der Kometenmaterie zuschreiben könnte. Ein berühmter Vertreter dieser äußerst seltenen CI-Chondrite traf die Erde 1864 im französischen Orgueil, als Tempel noch in Marseille arbeitete.

Heftige Sondierungsmethode

Was die Zusammensetzung des Kometenmaterials anlangt, sind Wissenschaftler bisher auf Mutmaßungen angewiesen. Noch schaffte es die NASA nicht, auf einem Himmelsvagabunden zu landen, um eine Probe zur Erde zu bringen oder sie wenigstens vor Ort zu analysieren. Deshalb wählt sie eine einfachere Sondierungsmethode. Die 370 kg schwere Tochtersonde donnert mit 36.700 km/h in die Kruste des Tempel 1. Der enormen Geschwindigkeit wegen setzt sie die Zerstörungskraft von fünf Tonnen TNT frei.

In Bruchteilen einer Sekunde schmilzt oder verdampft das kleine Raumfahrzeug, gemeinsam mit dem direkt getroffenen Gestein. Dann bewegt sich eine heftige Schockwelle vom Einschlagspunkt fort – innerhalb weniger Minuten entsteht ein neuer Krater. Trümmer werden ins All katapultiert und bilden den trichterförmigen Auswurfvorhang. Jene, die auf die Kometenoberfläche zurückstürzen, umgeben die frische Narbe mit der Auswurfdecke. Solche Einschlagskrater prägen fast alle Körper des Sonnensystems. Auf dem nahen Erdmond lassen sie sich schon mit kleinsten Fernrohren studieren. Am 4. Juli 2005 ist man erstmals "live" bei der Entstehung einer derartigen Struktur dabei!

Die Kamera der Muttersonde wird das Inferno festhalten, wenngleich ein Optikproblem die Schärfe der Aufnahmen zunächst mindert. Das mitgeführte Infrarot-Spektrometer analysiert die mineralische Zusammensetzung des Aufwurfmaterials. Durchdringt der Einschlag die Kruste, schauen beide Instrumente sogar ein wenig "in den Kometen" hinein.

Die Muttersonde analysiert die Gestalt des Auswurfvorhangs. Sie vermisst die Radien der geschlagenen Wunde und der Auswurfdecke. Niemand weiß, wie groß der Krater sein wird. Schätzungen schwanken zwischen 30 und 250 Metern. Der Grund für diese Unschärfe ist unser geringes Wissen über die physikalischen Eigenschaften des kometaren Oberflächenmaterials: lokale Dichte, Festigkeit und Porosität beeinflussendie Kraterentwicklung. Sie lassen sich nun erstmals ermitteln.

Das Flugverhalten der Trümmermassen verrät die Anziehungskraft des Kometen – und somit seine Masse. Teilt man die Masse durch das Volumen des Kerns, erhält man dessen mittlere Dichte. Ist sie sehr gering, dominieren Wassereis und andere gefrorene Substanzen; vor allem Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Methan und Ammoniak. Bei sehr hoher mittlerer Dichte müsste vergleichsweise viel steiniges Material im Eis eingebettet sein; vielleicht sogar mehr, als es das beliebte Bild vom "schmutzigen Schneeball" suggeriert.

Der Muttersonde bleibt kaum eine Viertelstunde Zeit, den neuen Krater zu studieren. Längst hat sie ein Ausweichmanöver gestartet, um nicht selbst in den Kometenkern zu krachen. Sie passiert ihn in 500 km Sicherheitsabstand. Dann wendet sie und blickt weitere vier Wochen lang zurück auf Kern und Koma. Anfang August klingt die Mission Deep Impact aus. Ihr Name erinnert an Mimi Leders 1998 gedrehtes Film-Drama, in dem ein Riesenkomet die Erde verwüstet. Tempel 1 kommt uns niemals nahe. Auch der wuchtige Einschlag verschiebt seinen Orbit bloß um wenige Meter.

Kometen ballten sich vor 4,6 Milliarden Jahren in jener kalten Region zusammen, die heute von den sonnenfernsten Planeten beherrscht wird. Viele entstanden sogar noch weiter draußen im All. Derart "tiefgefroren", erfuhr ihr Innerstes wahrscheinlich keine Veränderung mehr. Geraten solche Urwelten das erste Mal in Sonnennähe, treten Gas und Staub großflächig aus. Ein Paradebeispiel ist der Komet Hale-Bopp, der 1997 am Himmel grandios glänzte. In jeder Sekunde entließ er 130 Tonnen Gas. Der zur steten Wiederkehr verurteilte Komet Borrelly schafft bloß eine Tonne; nur ein Zehntel seiner pechschwarzen Oberfläche ist noch "aktiv". Stellenweise reflektiert sie weniger als ein Prozent des Sonnenlichts.

Kometen im Tarnanzug

Periodische Kometen wie Borrelly oder Tempel 1 verlieren bei jedem Sonnenbesuch an Substanz. Vielleicht ist ihr Eisvorrat in 5.000 Jahren verbraucht. Möglicherweise stellen sie die Gasproduktion aber schon vorher ein, versiegeln die Eisreserven unter der all zu dick geratenen Kruste. Mangels Schweif und Koma sehen "schlummernde" Kometen den dunkelsten Kleinplaneten zum Verwechseln ähnlich. Der 6 km kleine Phaethon und sein erst vor zwei Jahren entdeckter Kollege 2003EH1 haben sich verdächtig gemacht. Die Erde kreuzt deren Orbits stets Mitte Dezember bzw. Anfang Jänner. Dann huschen Sternschnuppen über unseren Himmel, als handle es sich bei den beiden Kleinplaneten um Kometen im Tarnanzug.

Tempel 1 zeigt wenig Aktivität. Er setzt pro Sekunde bloß 100 kg Staub frei. Wird seine Deckschicht am 4. Juli durchschlagen, könnte plötzlich frisches Material in die Koma strömen und deren Glanz einige Tage lang steigern: dann hielte er noch reichlich Eis unter der Kruste verborgen. "Blutet" die Wunde nicht, heißt dies, dass seine Ressourcen weitgehend aufgebraucht sind. Um das zu klären, hält Deep Impact Ausschau nach Helligkeitsausbrüchen. Weltraumteleskope und Großobservatorien unterstützen sie dabei. Gut ausgerüstete Amateure überwachen Ernst Tempels Komet ebenfalls.

Informationen

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien.

Freitag, 01. Juli 2005

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