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Der Mythos vom Stahl

Über den Werkstoff, der die Antike mit der Moderne verbindet
Von Ingeborg Waldinger

So nah am Feuer lebend - da liegt der Glaube nahe: Schmiede besäßen überirdische Kräfte. Wie sonst brächten sie das Kunststück zuwege, mittels höllischer Feuersglut Geräte zu fertigen, welche extremer Belastung standhalten oder Verderben bringen? Hephaistos hieß der göttliche Schmied der Hellenen. Aus seiner Werkstatt stammten legendäre Waffen und Requisiten. Für Achilles schmiedete er eine neue Rüstung, für Helios einen kosmostauglichen Wagen und für Eros magische Pfeile. Als Gehilfen standen ihm die Kyklopen zur Seite - sie fabrizierten die Blitze des Zeus.

Auch durch die nordische Sagenwelt spuken mächtige Schmiede. Zwerg Alberich etwa oder Meister Wieland, dessen Ansprüche an das geschmiedete Material besonders hoch waren. Als ein spezielles Werkstück seinen Erwartungen nicht entsprach, feilte er es zu Spänen, verknetete diese in einen Teig und verfütterte das Backwerk an Hühner. Danach sammelte er deren Kot ein, schmolz diesen aus und schuf aus dem so gewonnen Material sein Meisterstück, das Schwert Mimung.

Es muss ein besonders robuster Werkstoff gewesen sein, der den mythischen Schmieden zur Verfügung stand. Kannte die frühe Menschheit etwa bereits die Verhüttungstechnik zur Stahlgewinnung? Nun, die Erfindung dieses Verfahrens geht auf die Inder und Hethiter zurück. Die hatten schon im 16. vorchristlichen Jahrhundert Eisenerz verhüttet, um daraus gehärtete Waffen und Werkzeuge herzustellen. Die Kaukasier beherrschten seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. die Erzeugung von Schweißstahl sowie die Verstählung von Oberflächen. 400 Jahre später wurde Stahl auch im deutschen Gebiet Siegerland geschmolzen.

Was Eisen von Stahl scheidet

Als früher Prozess der Stahlgewinnung gilt die Rennarbeit. Um das Eisen aus dem Erz zu schmelzen, grub man Erdmulden, kleidete diese mit Ton aus und füllte sie mit Holzkohle und Erz aus. Noch eine Schicht Lehm darüber, und das Rennfeuer konnte entzündet werden. Es wurde durch natürlichen Luftzug angefacht. Rennöfen befanden sich daher an windigen Orten. Das Eisen schmolz als breiiger Klumpen aus, wurde durch Umrühren von den Schlacken befreit und sank in ein tiefer gelegenes Becken. Durch die Oxydation wurden die Begleitelemente Silizium, Mangan, Phosphor oder Schwefel aus dem Erz herausgelöst - und vor allem der hohe Kohlenstoffanteil. Dieser ist auch das Kriterium, welches Eisen von Stahl scheidet. Ab einem Kohlenstoffgehalt von unter 1,7 Prozent spricht man von Stahl.

Bald ersetzte ein Blasebalg den natürlichen Luftzug. Die Mulde entwickelte sich zu einer rechteckigen, mit Gusseisen ausgekleideten Grube. Durch wiederholtes Niederschmelzen von Roheisen - es tropfte durch den zugeführten Luftstrom - wurden die Nebenmetalle noch stärker reduziert. Ein besonders "gefeintes" Endprodukt entstand. Diesem so genannten "Herdfrischen" folgte der Schachtofen. Er war an die zwei Meter hoch und besaß Öffnungen für die Luftzufuhr sowie zum Ausziehen der Schlacke. Schachtöfen standen meist an Wasserläufen, deren Wasserräder die Gebläse antrieben. Die Öfen wurden immer größer - der erste Hochofen entstand.

Mit Henry Corts "Puddelverfahren" begann 1784 die nächste Ära der Stahlgewinnung. Das Industriezeitalter hungerte nach Eisen und Stahl, die alten Produktionsverfahren wurden der steigenden Nachfrage nicht mehr gerecht. Ihr Brennstoffverbrauch war hoch, das Schmieden von Hand teuer, und Steinkohle im Frischfeuer nicht einsetzbar (sie hätte die Qualität des Stahls vermindert). Der Engländer Cort entwarf einen separaten Flammofen zur Verfeuerung von Steinkohle, sodass nur die umgeleitete Flamme auf das Eisen einwirkte. Erfahrene Fachkräfte, die "Puddler", rührten das halbflüssige Roheisen mit langen Stangen (puddel, engl.: umrühren) und formten es zu Klumpen, den so genannten Luppen. Mechanische Hämmer verdichteten die Luppen. Im Walzwerk wurden sie zu Stangen ausgewalzt.

Schweiß-, Schmiede- und Walzstahl waren also erfunden. Den Gussstahl hatte Benjamin Huntsman schon 1746 in Sheffield entwickelt. Der Kreis der produzierenden Konkurrenten wurde größer. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand im deutschen Ruhrgebiet eine mächtige Stahlindustrie. Zu den Großen dieser Branche zählten Thyssen, Klöckner, Mannesmann oder der Essener Fabrikant Alfred Krupp. Seine extrem widerstandsfähigen, bruchresistenten Gussstahlprodukte lieferten das geeignete Material für die Eisenbahn. Mit dem 30 bis 50 Tonnen schweren Dampfhammer "Fritz", der als Weltwunder galt, schrieb Krupp Geschichte.

Die Arbeit des Puddlers war kräfteraubend, sein Geschick entschied über die Qualität des Stahls. Entsprechend gut honorierte die Industrie ihre besten Stahlkocher. Aber es handelte es sich noch um ein vorindustrielles Verfahren. Den maßgeblichen Fortschritt in Richtung Massenstahlerzeugung brachte die "Bessemer-Birne", abermals eine britische Erfindung. Der mechanische Antrieb dieses Verfahrens und die Prozesskontrolle durch einen Chemiker ersetzten die teure Körperarbeit des Puddlers. Sidney Gilchrist Thomas erweiterte die Methode.

Ob Bessemer- oder Thomasverfahren: die Flammenerscheinungen waren so spektakulär, dass man von der "kleinen Hölle" sprach. Nach 1880 kam die Elektroschmelze in Gebrauch. Sie eignete sich speziell zur Erzeugung legierter Stähle, maßgeschneiderter Materialien für die Bau- und Werkzeugindustrie. Stahlskelette und zugfester Stahlbeton eroberten im 19. Jahrhundert die Architektur und prägten die Baustile der Moderne.

Der Siemens-Martin-Ofen ermöglichte schließlich die kostensenkende Verarbeitung von Schrott. Dieses Verfahren wurde vom Ersten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre angewandt. Seit 1962 war auch das in Linz und Donawitz ausgearbeitete "LD"-Verfahren im Gebrauch.

Durch verschiedene Nachbehandlungsverfahren wird Rohstahl weiter verfeinert. Als fehlerfreier Edelstahl kommt er in den Bereichen Luft- und Raumfahrttechnik, Öl- und Atomwirtschaft, Auto- und Turbinenbau oder in der Medizin- und Labortechnik zum Einsatz. Er garantiert maximale Korrosionsbeständigkeit, Widerstandsfähigkeit und Polierbarkeit. Doch auch Schlittschuhkufen, Tauchflaschen oder Weintanks, Orchesterglockenspiele und Boule-Kugeln sind aus diesem Werkstoff gefertigt.

Stahl aus Damaskus

Seit je verbinden sich mit dem Begriff Stahl vornehmlich kriegerische Szenen. Man denkt an Harnische und Rüstungen, an Feuerwaffen und Klingen. Als geradezu ästhetische Leistung galt der damaszierte Stahl, ein aus unterschiedlichen Eisensorten geschweißter, hochqualitativer Verbund-stahl. Dieser "wurmbunte" Stahl wies eine durchgängige dekorative Maserung auf. Die von den Römern in Damaskus gegründeten Waffenfabriken brachten die Kunst des Damaststahlschmiedens zur Hochblüte. Doch man damaszierte Stahl auch in Indien, Indonesien und Japan, in Arabien, Dänemark und Deutschland.

In all diesen Kulturen kam dem Schwert mythische Bedeutung zu. Siegfrieds Klinge Balmung zieht sich durch die Nibelungensage - die Namen Hildebrand-Hadubrand-Heribrand bedeuten nichts anderes als Schlachtschwert-Kampfschwert-Heeresschwert. Sigurd produzierte mit Schmied Regin die drachentötende Klinge Gram.

Zauberer Merlin hatte das Schwert Excalibur in den Marmelstein eingepflanzt, aus dem es nur König Artus herauszuziehen vermochte. Mohammeds Schwert Dzulfaqar prangte mit zweigespitzter Klinge auf Janitscharenfahnen, und die Klinge eines Samurai verkörperte dessen Kriegerseele. Die kaukasischen Sarmaten wiederum dachten sich ihre Stammesgottheiten als aufrecht in den Boden gepflanzte Schwerter. Als "stählerner" Kaukasier ging "Väterchen" Stalin in die Geschichte ein.

Schwerter tragen in den Sagen oft eigene Namen, nehmen den Charakter magischer Wesen an. Einen starken Zug zur mythischen Überhöhung des Kampfes enthält auch das 1920 erschienene Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" von Ernst Jünger. Das Waffengemetzel erscheint hier gleichsam als Naturereignis, als elementare Gewalt. Auch der "Stahlhelm", ein von Franz Seldte 1918 gegründeter, militant nationalistischer Wehrverband, trägt den Stahl im Titel. Der am 22. Mai 1939 geschlossene "Stahlpakt" schließlich sollte die Festigkeit der Achse Berlin-Rom versinnbildlichen.

Das Prädikat "stahlhart" steht für außergewöhnliche Zähigkeit, Stärke und Dauer. Als Sprachbild beliebt ist die Wendung "Nerven aus Stahl". Der Stahlwerker indes wurde zum Inbegriff der Arbeiterklasse. Die Kunst machte sich das symbolische Potential des Industriearbeiters zunutze. Alfred Menzel schuf das Gemälde "Eisenwalzwerk", Constantin Meunier das Pastellbild "Puddler". Fritz Langs ideologisch unscharfer Kultfilm "Metropolis" geriet zur pathetischen Symphonie der Arbeit, eine "Mischung aus Wagner und Krupp", wie Siegfried Kracauer kommentierte.

Die Kunst der aufstrebenden Industriemacht Sowjetunion und der sozialistischen Länder bemächtigte sich des Stahl-Sujets zur gleichnishaften Überhöhung der Werktätigen. Sergej Prokofjews übersetzte das Thema in eine Ballettversion. Sein Werk "Le Pas d'Acier" ("Der stählerne Schritt") schildert den Zusammenbruch des alten Russland und dessen revolutionäre Umwandlung in ein System organisierter Arbeit. Das Ballett kam einer Apotheose der Technik gleich, akustisch untermalt vom Hallen der Werkbänke und stahlartigen Klangfarben. Mit ihrem Produktionsroman "Stahl" (1952) wurde die Berliner Autorin Maria Langner bekannt. Sie verknüpft darin den Aufbau eines Brandenburgischen Stahlwerkes mit privaten Handlungssträngen.

In der heutigen Literatur hat das Thema Stahl merklich an Bedeutung verloren. Moderne Architektur und "Raumplastik" setzen hingegen weiterhin auf den Werkstoff Stahl, ob auf Hochglanz, mit Anstrich oder gezielter Rostpatina. Werke aus Stahl sind Werke für die Ewigkeit.

Freitag, 04. Februar 2005

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