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Im Überlebenskampf der Palästinenser ist Umweltschutz ein Luxus

Die Armut von Bethlehem

Von Thomas Veser

Issa Kalilieh könnte sich in diesem Jahr über eine besonders üppige Olivenernte freuen, dennoch wirkt der 49-jährige Landwirt aus der palästinensischen Gemeinde Beit Jalah bei Bethlehem keineswegs glücklich. Von einem seiner Olivenhaine aus blickt er auf den gegenüberliegenden Hügel, auf die israelische Siedlung Gilo, an der Trennlinie zwischen dem palästinensischen Autonomiegebiet Bethlehem und dem Großraum Jerusalem gelegen. "Dort unten will Israel den Sperrzaun errichten", sagt Issa Kalileh und beschreibt mit seinem Zeigefinger den imaginären Verlauf des Sicherheitszaunes, der Terroristen den unkontrollierten Grenzübertritt nach Israel erschweren soll. Der aus Betonplatten und Metallabschnitten bestehende Wall, der auf einer Gesamtlänge von

662 Kilometern israelisches von palästinensischem Gebiet trennen und auf diese Weise klare Territorialverhältnisse schaffen soll, würde den Bethlehemer Bauern einen Talkessel mit fruchtbarem Boden entziehen. Auch Issa Kalilieh wäre davon betroffen, da der Hauptteil seines etwa fünf Hektar großen Grundbesitzes dann in einer militärischen Sperrzone jenseits des Zaunes liegen würde.

Die Folgen des Grenzzauns

Allerdings ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: Gegenwärtig beschäftigt sich der Oberste Gerichtshof in Jerusalem mit einer Fülle von Eingaben, in denen ein anderer Verlauf des Zaunes gefordert wird. Illusionen gibt sich der Landwirt indessen nicht mehr hin, schließlich hat er miterlebt, wie das Gebiet seiner Heimatgemeinde durch den Verlauf der bisher fertig gestellten Abschnitte von ursprünglich 14 Quadratkilometern auf 4 zusammengeschrumpft ist. "Verlieren wir auf diese Weise noch mehr Grundbesitz, haben wir keine Zukunft mehr", meint Issa Kalilieh nüchtern. "Aber vielleicht sind ja Zauntore vorgesehen und möglicherweise lässt uns die Armee sogar durch, damit wir wenigstens unsere Ernte einbringen können."

Aber nicht nur für die Landwirtschaft des an fruchtbaren Gebieten nicht sonderlich reich gesegneten Autonomiegebietes hätte der vorgesehene Grenzverlauf schwerwiegende Folgen. Er würde auch alte Verbindungsstraßen im palästinensischen Gebiet in Sackgassen verwandeln und Wohnviertel zerschneiden. Fahrten in die Stadt Ramallah, die man früher in einer Dreiviertelstunde erreichen konnte, würden dann zu zeitraubenden Unterfangen.

Davon hat Mitri Awad, der mit seiner Familie nahe des Autotunnels auf israelischer Seite lebt, schon einen Vorgeschmack bekommen. Einen Teil seines Grundbesitzes büßte er schon früher ein, nun hat die israelische Armee die Sicherheitszone nochmals zu seinen Ungunsten auf palästinensisches Gebiet ausgeweitet: "Mitten durch den Hof unseres Wohnhauses soll die Trennlinie verlaufen, man hat mir schon mitgeteilt, dass demnächst meine Oliven- und Walnussbäume gefällt werden müssen, aus Sicherheitsgründen", klagt er.

Fast ein Drittel des gesamten Zaunes sind inzwischen fertig gestellt, auf rund 3,4 Milliarden US-Dollar schätzen die Vereinten Nationen die Baukosten. Nach Angaben der israelischen Tageszeitung "Haa-retz" wurden dafür bisher knapp 400 Hektar Land enteignet, das sich in palästinensischer Hand befand.

Südlich von Jerusalem erstreckt sich das Autonomiegebiet Bethlehem auf einer Fläche von

rund 600 Quadratkilometer, etwa 172.000 Menschen wohnen in der weitgehend offenen und nur spärlich mit Vegetation überzogenen Gegend, in der sich zudem drei Flüchtlingslager befinden. Fast die Hälfte der Einwohner lebt in städtischen Räumen, die gemäß dem

Oslo-Abkommen zu den A und B genannten Abschnitten mit den höchsten Autonomiebefugnissen für die Palästinenser zählen. Während diese zwei Zonen nur etwa

13 Quadratkilometer umfassen, fällt der Großteil von Bethlehem unter die Kategorie C, wo Israel weitgehend selbst entscheiden kann.

Dort liegen auch die landwirtschaftlich wertvollsten Böden, "sie sind durch den geplanten Verlauf der Sperranlage in besonderem Maße betroffen", berichtet Jad Issac, Diplomlandwirt und Dekan an der Universität Bethlehem und Direktor des "Applied Research Institute Jerusalem" (ARIJ). Das 1990 gegründete Forschungsinstitut beschäftigt sich vor allem mit dem Erstellen geographischer Informationssysteme (GIS), wofür umweltbezogene Informationen, etwa über natürliche Ressourcen, Landnutzung und Bevölkerungsdichte, benötigt werden. Mit finanzieller Unterstützung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und Zuschüssen internationaler Organisationen, auch von der EU, beschäftigen sich die 45 ARIJ-Mitarbeiter vor allem mit den Themen Landwirtschaft, Umwelt und natürliche Ressourcen.

"Sollte Israel den Sperrriegel wie vorgesehen verwirklichen, besteht die Gefahr, dass 46,8 Prozent des Westjordanlandes für die Sicherheitszone beansprucht werden. Und das würde für die Autonomiegebiete den Verlust von 40 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen nach sich ziehen", erklärt Jad Issac. Und dann sei zu befürchten, dass die Schäden für die Umwelt stark zunehmen, fügt er hinzu. Da die Autonomiegebiete so gut wie keine alternativen Wirtschaftszweige besitzen "wird die Armut noch zunehmen", glaubt Jad Issac.

Rund 80 Prozent der ingesamt

3,6 Millionen Bewohner der Autonomiegebiete leben unterhalb der Armutsgrenze und benötigen Notstandshilfe, die durch Zuschüsse der Arabischen Liga und der EU

finanziert wird. Nur Landwirtschaft und Fischerei haben sich einem UN-Bericht zufolge bisher der negativen Entwicklung widersetzen können. Fanden vor der zweiten Intifada 13,4 Prozent der Arbeitskräfte ein Auskommen in der

Landwirtschaft, die 8 Prozent des

Bruttoinlandsproduktes sicherte, bindet der Sektor nun bereits ein Drittel der Arbeitskräfte. Sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt schwankt zwischen 12 und 20 Prozent. Die Autonomiegebiete lieferten früher Waren in die arabischen Nachbarländer, diese Absatzmärkte sind inzwischen völlig zusammengebrochen. Auf rund 2,2 Milliarden US-Dollar schätzt die UNO die Schäden an der Infrastruktur, entstanden durch Zerstörungen der israelischen Armee von 2000 bis 2004.

Herrschte Ende der 1990er Jahre noch eine gewisse Aufbruchstimmung in der 20.000 Einwohner zählenden Stadt Bethlehem, wirkt die Altstadt um die Geburtskirche heute desolater als je zuvor. Die meisten Geschäftsbesitzer haben die Stahlrollläden heruntergelassen. Im Jahre 2000 waren weite Teile des historischen Zentrums mit ausländischer Hilfe renoviert, neu gepflastert und mit einem Kanalisationssystem ausgestattet worden. Diente der zentrale Manger-Square vor der Geburtskirche einst als Parkplatz für Lastwagen, ist der erneuerte Platz heute autofrei; ausländische Besucher erblickt man jedoch so gut wie nie und kaum jemand übernachtet in den damals entstandenen Pensionen und Hotels.

Seit Beginn der zweiten Intifada hat die Zahl der Neubauten, die auf die Vollendung warten, deutlich zugenommen. Kaum noch jemand erhält die Erlaubnis, auf israelischem Territorium einer Arbeit als Pendler nachzugehen, und daher ist vielen Bauherren das Geld ausgegangen. Steuern werden schon lange nicht mehr entrichtet und selbst Stromrechnungen bleiben immer häufiger offen. Aber auch die Stadtverwaltung hat kapituliert: Da die Gemeindekassen leer sind, erhalten die Bediensteten keinen Lohn mehr. Überleben können die meisten Familien nur, weil sie in besseren Zeiten Geld gespart haben oder von Verwandten, die im Ausland leben, regelmäßig Überweisungen erhalten.

Gedämpfte Stimmung herrscht auch in der Nachbargemeinde Beit Jala, die zu 90 Prozent von arabischen Christen bewohnt wird. Dort hatte die Österreichische Kooperation in den vergangenen Jahren die schmucke Altstadt renoviert. Die Hoffnung, der einst gut besuchte Ort könnte ein touristisches Comeback erleben, habe sich zerschlagen, klagt der Bürgermeister. Wie das Bethlehemer Gebiet trotz Abriegelung seine Zukunft eigenständiger gestalten kann, ist Hauptanliegen von ARIJ: Seit Jahren versorgt das Institut Landwirte mit Saatgut, vor allem Weizen und Gerste. ARIJ-Mitarbeiter helfen den Bauern, das Bewässerungssystem zu verbessern; dabei geht es um Techniken, die einen ökonomischeren Umgang mit dem knappen Gut Wasser ermöglichen.

Gefährdetes Ökosystem

Besonders schlecht ist es um den Umweltschutz bestellt, ordnungsgemäß angelegte Mülldeponien sucht man im Autonomiegebiet vergeblich. An vielen Orten entstehen wilde Abfalldeponien, die ab und zu in Brand gesetzt werden.

Wenn im Bethlehemer Autonomiegebiet überhaupt noch Neubauten entstehen, dann erstellt man sie häufig ohne Genehmigung und außerhalb der ausgewiesenen Bauzonen. Konsequenzen haben die Bauherren nicht zu befürchten, da die Autonomiebehörden die Kontrolle eingestellt haben. Und die Besitzer von Viehherden treiben ihre Tiere durch das ganze Land und lassen sie nach Belieben grasen. Diese Überweidung bildet eine weitere Gefahr für das empfindliche Ökosystem des Bethlehemer Gebietes, aus dem Waldgebiete fast völlig verschwunden sind.

"Inzwischen kämpfen die Menschen fast ausschließlich um das tägliche Überleben", meint Jad Issac, der mit seinen Mitarbeitern zwar immer wieder Kampagnen zur Bewusstseinsschärfung veranstaltet und sich dafür einsetzt, dass der Umweltschutz Eingang in den Schulunterricht findet. "Aber unter diesen Umständen ist Umweltschutz ein Luxus."

Freitag, 24. Dezember 2004

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