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"Wiener Typen" und ihre Karriere in der Unterhaltungsindustrie

Dienstmann und Wäschermädl

Von Christian Rapp

Wir leiden ja keinen Mangel an Dichtern, die aus dem Berliner Volksleben, den gesammelten Klassikern und den Predigten Pater Abraham de Santa Clara's Wiener Typen schöpfen, Rollen auf den Leib schreiben, Unpassendes austauschen und Bestellungen der Schauspieler promptest effectuie-ren.

Was Marie Weyr hier vermutlich Operetten-Librettisten, Bühnenautoren und Liedtextern vorwirft, gilt zu einem guten Teil für sie selbst. Weyr gehörte zu jenem Reigen fleißiger Publizisten, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Genre "Wiener Typen" in zahlreichen Zeitungen, Sammelbändchen, Reiseführern und Repräsentationswerken kreiert und verbreitet haben. Bis heute verstellen die Ergüsse dieser Literaten den Blick auf das, was tatsächlich der Wiener Straßenalltag gewesen sein könnte. Denn die "Wiener Typen" des Feuilletons bezeichnen nur mittelbar bestimmte Berufsvertreter oder soziale Milieus, sie sind vielmehr eine literarische Schöpfung, die ihre Glaubwürdigkeit daraus bezog, dass es manche von ihnen tatsächlich gegeben haben könnte. Die Gattung Feuilleton spielte dabei insofern eine entscheidende Rolle, als sie es möglich machte, unauffällig zwischen Beschreibung und Interpretation zu wechseln und die Leser im Unklaren zu lassen, was gesehen und was erfunden wurde.

Wandergewerbe

Natürlich gab es in Wien Kesselflicker, Dienstmänner und Schuhputzer, aber diese waren vermutlich nicht viel origineller in ihrem Auftreten als Fotografen und Regenschirmausbesserer, die das Statistische Handbuch der Stadt Wien von 1910 ebenfalls unter der Rubrik "Wandergewerbe" verzeichnet. Auch handelt es sich bei "Wiener Typen" keineswegs nur um Verliererfiguren, wie das Feuilleton gerne suggeriert. Die Zahl der Gemüsehändler stieg bis etwa 1905 noch an und auch Kurzwarenhändler, Spielwarenhändler und Rastelbinder nahmen der Zahl der erteilten Lizenzen nach bis etwa 1907 zu. Der Wiener Fiaker war bis 1910 eine Profession mit Zuwachsraten.

Wiener Typen werden gerne auf die so genannten "Kaufrufserien" zurückgeführt. Kaufrufe, "Cries" oder "Cris", kennzeichneten seit dem ausgehenden Mittelalter mobile Berufsgruppen, die wesentliche Versorgungsfunktionen innehatten. Kaufrufe waren eine Form der Produkt- und Dienstleistungswerbung in einer weitgehend analphabetischen Gesellschaft. Manche Wanderhändler standen direkt unter dem Schutz des Landesherrn, dem sie ihre Abgaben lieferten. Sie waren also dem Zugriff des Stadtregimes entzogen und verkörperten einen Rest feudaler Präsenz innerhalb der bürgerlichen Stadt.

Im Spannungsfeld von Außenseitertum und Popularität, von Deklassierung und Heroisierung bewegte sich die Überlieferung von "Typen" bis ins frühe 19. Jahrhundert. Sie wurden in Schwänken und Satiren persifliert und hatten in zahlreichen europäischen Stadtmärchen Schlüsselrollen inne. Unter Druck gerieten Straßenhändler durch neue Vertriebsformen wie Kaufhäuser und durch die industrielle Warenfertigung

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich auch eine Veränderung in der Interpretation von Straßentypen ab. Grafiker und Zeichner neigten zu grotesken Paraphrasierungen, nutzten sie als Vorlagen für Kartenspiele oder deformierten sie zu Witzfiguren. Die literarische Darstellung spaltete sich in zwei Richtungen auf: in eine, welche die für gefährdet erachtete Spezies retrospektiv verklärte, und eine andere, die bemüht war, die Menschen und ihre Existenzbedingungen hinter den "Typen" offen zu legen. 1851 publizierte der "Punch"-Herausgeber Henry Mayhew sein Sammelwerk "London Labour & the London Poor". Es war der erste Versuch, Akteure des großstädtischen Straßenlebens zu dokumentieren. Mayhew unterteilte die Kleingewerbetreibenden und Vagabunden in hunderte Einzelfiguren. Selbst "Cigar End Finders", Mäusedompteure und Puppenaugenmacher stellten für ihn eigene Typen dar. Mayhew bettete seine Sozialporträts in Schilderungen ihrer Familienverhältnisse, individueller Karrieren und Freizeitverhalten ein und ergänzte seine Darstellungen mit Statistiken und sozialkritischen Betrachtungen. Damit unterlief er die alte überzeitliche Konstruktion des Typus. Denn der Kutscher mit Arbeitsbiographie und statistisch erfassten Tageseinkünften verlor das "Statuarische" als Bedingung einer unveränderlichen Existenz.

In der Wiener Publizistik gab es keine auch nur annähernd vergleichbare Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Gesellschaftskritische Autoren haben sich für Straßentypen wenig interessiert. Viktor Adler, Max Winter oder Emil Kläger konzentrierten sich auf eindeutig als Opfer kapitalistischer Verhältnisse erkennbare Personen, und das waren die Straßentypen nicht. Im Gegenteil: In einer streng marxistischen Auslegung konnte man sie als Unternehmer und damit als Gegner im Klassenkampf disqualifizieren. Immerhin verfügten viele von ihnen über (bescheidene) Produktionsmittel.

"Ur-Wiener" - "Neu-Wiener"

Umso intensiver bemühte sich die bürgerliche Publizistik um diese Milieus, allerdings nicht im erwähnten dokumentarischen Sinn. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, die alten Rollen festzuschreiben und ideologisch neu auszustatten: Typen wurden nun Garanten einer althergebrachten Ordnung, die sich der Entwicklung zur Metropole tapfer entgegenstemmten.

Klaus Müller-Richter sieht in den ethnographischen Stadtbeschreibungen des 19. Jahrhunderts eine europaweite Tendenz, die Asymmetrie der Macht in der modernen Großstadt zu legitimieren und ein Überlegenheitsbewusstsein der Metropolenbewohner gegenüber den kolonialisierten Völkern außerhalb des Mutterlandes herzustellen. Die Wiener Publizistik trägt diesen "kolonialistischen" Diskurs in der Stadt selbst aus. So konstatierten Eduard Pötzl und 30 Jahre später Josef August Lux, dass sich die Straßentypen aus den "occupierten Provinzen", beziehungsweise dem "Völkergemisch an der Donau" erneuerten, was die Kommentatoren aber nicht daran hinderte, die Straßentypen als Repräsentanten des "Ur-Wienertums" zu beschreiben.

Der "Urtyp" des Wieners ist an der sozialen Peripherie zu finden, er muss sich aber auch gegenüber zugewanderten Nicht-Wienern behaupten. Daraus leitet sich sein wichtigstes Differenzierungsmittel ab: Der einzigartige "Schmäh", den man angeblich nicht erlernen kann. Natürlich halten sich Literaten für prädestiniert, diese "angeborene" Sprache aufzuzeichnen und zu interpretieren - einerseits, um im ethnischen Konkurrenzkampf der Großstadt den "Ur-Wiener" aus den vielen Neo-Wienern herauszufiltern, andererseits, um damit seine ideologische Konstruktion zu verstärken. Denn der "Wiener Typ" ist zu Fleiß, Anstand und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit verpflichtet. Er unterwirft sich der Autorität und nutzt seine "Sprachgewandtheit" nur, um sich gegen andere Außenseiter durchzusetzen. Der Wiener Lehrbub zum Beispiel hat, Friedrich Schlögl zufolge, trotz der vielen Prügel, die er beziehen muss, "eine furchtbare Waffe: den Witz, und seiner schneidigen Dialectik fiel schon so mancher geschniegelte Dandy zum Opfer." Die freche Pose ist eine Ersatzhandlung für reale Machtlosigkeit, die sich jedoch umso eindringlicher als Protestgeste stilisieren lässt. "Eine Million Bajonette sind nicht so spitzig, wie zweihundert solch auserlesener Zungen", würdigte Vincenz Chiavacci die Rhetorik der Wiener Gemüsehändlerinnen.

Ihre Haltbarkeit erhielten "Wiener Typen" durch die unablässige Umwandlung von realen in fiktive Figuren, und das in nahezu allen Medien. Nicht einmal in der Fotografie, anderswo längst geläufiges Medium der Sozialdokumentation, vermochte sich ein unverstellter Blick durchzusetzen. Noch um 1900 werden vom renommierten Fotografen Charles Scolik zur Belebung von Stadtansichten "Wiener Typen" in Straßenfluchten hineinmontiert - dargestellt durch "populäre Wiener Schauspieler".

Ihre breitenwirksamste Karriere haben "Wiener Typen" in der Musik und in den darstellenden Künsten gemacht, in Operette und Singspiel, im Wiener Lied, in Lustspiel und Kabarett. Dabei kam es zu Transfers zwischen echten Professionisten und ihren künstlerischen Interpreten. Einerseits machten Vertreter bestimmter Gewerbe beachtliche Bühnenkarrieren, wie etwa der legendäre Fiaker Josef Bratfisch, der Leibkutscher des Kronprinzen Rudolf, andererseits wurden viele Schauspieler in Typen-Rollen berühmt und mit diesen zeitlebens assoziiert: Alexander Girardi als Interpret des Fiakerliedes, und Edmund Guschelbauer in der von ihm selbst kreierten Rolle des "Drahrers". Auch Hans Moser hatte mit einer "Typen"-Nummer seinen künstlerischen Durchbruch. Mitte der 1920er Jahre wurde er erstmals für einen Dienstmann-Sketch engagiert. Moser zeigt darin einem aufgeregten Ehepaar, wie man fachgerecht einen Koffer schultert. Immer wieder wurde diese Szene verfilmt und variiert.

Allerdings steht das Beispiel Hans Moser auch für einen Paradigmenwechsel in der Darstellung von "Wiener Typen". Kinoproduzenten und Filmschauspieler gingen lässig mit dem traditionellen Repertoire um. In Willi Forsts "Burgtheater" (1935) agierte Hans Moser als Bühnensouffleur wie als Wienerlied-Sänger und Wiener Kammerdiener. Er formte aus allen Bestandteilen einen Wiener Metatypus.

"Serwas die Buam"

Auch ließen sich Typen mitunter schon allein dadurch herbeizitieren, dass Schauspieler einige charakteristische Redewendungen oder Gesten einsetzten. Ein eingeweihtes Publikum vermochte diese immer noch als Bestandteile des Ganzen zu erkennen. Als der Radio- und Fernsehunterhalter Heinz Conrads in den späten 1940er Jahren sein berühmtes "Guten Abend die Madln, Serwas die Buam" zur fixen Formel seiner Begrüßung machte, wusste vermutlich noch ein Großteil des Publikums, dass Grußformeln wie diese einst den Deutschmeistern zugeschrieben wurden.

Doch trotz ihrer Anpassungsfähigkeit an die neuen Medien und trotz des ewigen Lebens, das die Feuilletonisten den "Wiener Typen" einst zu verleihen versucht hatten, machte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein rascher Alterungsprozess bemerkbar. In der Unterhaltungskultur der Wiederaufbauzeit spielten "Wiener Typen" bestenfalls noch eine sentimentale Rolle. Die ihnen zugeschriebene Resistenz gegen Veränderungen passte nicht zu Wiederaufbau und Stadtmodernisierung.

Schließlich setzen drastische Entmythologisierungsakte den "Wiener Typen" zu. Die Fernsehausstrahlung des "Herrn Karl" (1961) - immerhin ein Verwandter der vom Wiener Feuilleton so verehrten Greißler und Gemüsehändler - war so etwas wie ein Fanal. Die Empörung des Publikums zeigte noch einmal, dass das Identifikationspotential der "Wiener Typen" bis ins Bürgertum reichte, das sich damals den Luxus eines Fernsehgerätes leisten konnte und Zeuge der brutalen Demaskierung war. Trotzdem ging die Attacke an die Substanz. Die einst verkitschten Alltagshelden waren nun Antitypen.

Andererseits versuchten junge Schriftsteller wie H. C. Artmann und Liedermacher wie André Heller oder Karl Hodina, die verstoßenen Typen wieder zu beleben und neue zu kreieren: Keine devoten Figuren, wie das Wiener Feuilleton sie geprägt hatte, sondern unbequeme Stadtnomaden, die sich nun gegen den Kleingeist und das Fortschrittsdenken der Mehrheit in Stellung bringen ließen.

Freitag, 19. November 2004

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