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Wien 1913/14: Wohnort von Männern, die später die Welt veränderten

Bahnhof der Geschichte

Von Milo Dor

Im Jahr 1913 war Österreich-Ungarn ein mächtiges Reich, das sich von den Alpen bis zu den Karpaten und von der Adria bis zu den wolhynischen Sümpfen erstreckte. Ungefähr in der Mitte dieses unförmigen Gebildes lag Wien, die Metropole eines Vielvölkerstaates, in dem außer Österreichern und Ungarn auch noch Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Polen, Juden, Rumänen, Serben, Kroaten, Slowenen und Italiener mehr oder weniger freiwillig lebten.

Sieben Bahnhöfe

Wien hatte zu dieser Zeit sieben Bahnhöfe. Jeder davon war dazu bestimmt, der Verbindung mit einem Teil der Monarchie zu dienen: Der Westbahnhof mit Salzburg, Innsbruck, Bozen und Meran. Der Südbahnhof mit Agram, Sarajewo, Triest. Der Ostbahnhof mit Budapest, Temesvar und Czernowitz. Der Nordbahnhof mit Krakau und Lemberg. Der Nordwestbahnhof mit Prag. Der Franz-Josefs-Bahnhof war als Lokalbahnhof gedacht, der die Verbindung zum nördlichen Niederösterreich und südlichen Böhmen herstellte. Der Aspang-Bahnhof sollte die Kopfstation einer Fernbahn sein: der Wien-Saloniki-Bahn. Noch heute kann man auf alten Kilometersteinen die Initialen W.S.B. lesen. Aber die Bahn blieb in Aspang, 70 Kilometer von Wien entfernt, stecken.

"In keinem Land des Kontinents wurde vor 1914 die auswärtige Politik unter dem Gesichtspunkt des Friedens geplant", schrieb der englische Historiker H. L. Fisher. "Jedes auswärtige Amt hegte Träume, die nur durch Kriege verwirklicht werden konnten. Frankreich erstrebte die Rückgewinnung des Elsass, Deutschland eine Vergrößerung seines Kolonialbesitzes und die Vorherrschaft im Nahen Osten, Österreich die Unterwerfung Serbiens und einen Hafen in Saloniki, Russland den Bosporus und die Dardanellen, Serbien hatte Absichten auf Bosnien und die Herzegowina,

Italien auf Triest und Trient, Rumänien auf Transsylvanien, das

den Ungarn, und auf Bessarabien, das den Russen entrissen werden sollte."

Der Bau des neuen Kriegsministeriums am Stubenring dauerte von Oktober 1912 bis Mai 1913. In das prunkvolle Gebäude wurden elfeinhalb Millionen Kronen investiert. An der Rückfront des Mammutgebäudes stand in großen Lettern zu lesen: "Si vis pacem, para bellum" ("Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor"). Der neu ernannte Chef des Generalstabs, Conrad von Hötzendorf, drängte auf einen Präventivkrieg gegen Serbien, das gerade die Türken besiegt hatte. Er fand aber kein Gehör bei den allerhöchsten Stellen. Noch herrschte Friede.

In dem um die Jahrhundertwende errichteten "Vorwärts"-Gebäude, in dem die Leitung der Sozialdemokratischen Partei sowie die Redaktion und die Druckerei der "Arbeiter-Zeitung" untergebracht waren, residierte Dr. Victor Adler, Arzt, Reichsratsabgeordneter, Journalist und Vorsitzender jener Partei, die 1906 das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt hatte. "Wir Österreicher tragen jetzt die schwerste Verantwortung", sagte er 1912 auf dem internationalen Friedenskongress in Basel. "Wir in Österreich und Ungarn sind aus zwölf Völkern zusammengekoppelt, aber keines dieser Völker hat von einem Krieg, wie er jetzt losbrechen will, etwas zu erwarten, keines der Völker will ihn. Alle diese Völker brauchen Kultur, Spitäler, Schulen. Wir brauchen Bildung, ein wenig Freiheit und ein ganz klein wenig Verstand bei den obersten unseres Landes . . . Sicher ist, dass selbst ein siegreicher Krieg neben dem Massenelend, das er mit sich bringt, für das Staatsgefüge Österreichs den Anfang vom Ende bedeuten würde."

Eine zeitgenössische Untersuchung über die Lebensverhältnisse der Wiener Arbeiterfamilien in den Jahren 1912 bis 1914 ermittelte durchschnittlich mehr als sechs Bewohner in einem Wohnraum. Es wurden aber auch Haushalte vorgefunden, in denen für zehn Personen außer der Küche nur ein Kabinett vorhanden war. In den Arbeiterfamilien gab es 17 Prozent Bettgeher, also Menschen, die nur zum Schlafen kamen, und zwar oft in einem Bett, in dem vorher schon jemand anderer geschlafen hatte.

Broz und Trotzki

Unter den vielen tausenden Menschen, die Jahr um Jahr aus allen Gegenden der Monarchie nach Wien kamen, um hier ihr Glück zu suchen, war auch der zwanzigjährige Schlossergeselle Josip Broz, der sich später als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens Tito nannte. Er stammte aus Kroatien, kam aber über Pilsen, wo er bei Skoda, und Mannheim, wo er bei Benz gearbeitet hatte, im Spätherbst 1912 nach Wien. Hier fand er Beschäftigung in der Metallbrückenfabrik Griedl. Bald jedoch ging er nach Neudörfl bei Wiener Neustadt, wo sein Bruder lebte. Im Frühjahr 1913 musste Josip Broz seine Stelle als Einfahrer bei Daimler aufgeben und seinen Monteuranzug gegen den Uniformrock eintauschen. Er wurde in ein kaiserliches Regiment in Wien eingezogen.

Von allen russischen Emigranten hielt sich Leo Dawidowitsch Bronstein, genannt Trotzki, am längsten in Wien auf. Nach dem Scheitern der ersten russischen Revolution von 1905, als er der Vorsitzende des Sowjets in Petersburg gewesen war, wurde er lebenslänglich nach Sibirien verbannt. 1907 gelang ihm nach einer abenteuerlichen Fahrt durch die winterliche Tundra die Flucht nach Westeuropa.

"Im Oktober 1907 war ich schon in Wien", schrieb er in seiner Autobiographie. "Bald kam meine Frau mit dem Kind. In Erwartung der neuen revolutionären Welle ließen wir uns außerhalb der Stadt, in Hütteldorf, nieder. Man musste lange warten. Aus Wien trug uns nach sieben Jahren eine ganz andere als die revolutionäre Welle hinaus, jene, die den Boden Europas mit Blut getränkt hat."

"Der Stadtteil Hütteldorf hatte mir gefallen", schrieb Trotzkis Frau Natalia Sedowa. "Die Wohnung hier war besser, als wir sie sonst haben konnten, da hier die Villen gewöhnlich erst im Frühjahr vermietet werden, wir sie aber für den Herbst und Winter mieteten ... Im April, als wir unsere Wohnung verlassen mussten, da die Miete verdoppelt wurde, blühten im Garten schon die Veilchen. Hier wurde Serioscha geboren. Wir mussten dann in das demokratischere Sievering umziehen."

Seit Oktober 1908 gab Trotzki in Wien die russische Zeitung "Praw-da" heraus, die unregelmäßig erschien und nach Russland geschmuggelt wurde. "In dieser Zeitung", schrieb der spätere Stalinist Swertschkow, "setzte Trotzki in alter Weise beharrlich und hartnäckig den Gedanken von der ,Permanenz' der russischen Revolution auseinander, das heißt, er versuchte zu beweisen, dass die Revolution, einmal begonnen, nicht aufhören würde, bis sie zur Niederwerfung des Kapitalismus und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der ganzen Welt geführt haben wird".

Im September 1912 fuhr Trotzki als Kriegskorrespondent der Zeitung "Kijewskaja Mysl" ("Kiewer Gedanke") auf den Balkan. Als er über die von den Bulgaren verübten Bestialitäten an den gefangenen Türken berichtete, wurde er von der russischen Presse als österreichischer Spion bezeichnet.

"Mein Einkommen aus der ,Kijewskaja Mysl' hätte für unsere bescheidene Existenz gereicht. Aber es gab Monate, wo die Arbeit an der 'Prawda' mir keine Möglichkeit ließ, auch nur eine bezahlte Zeile zu schreiben. Dann trat eine Krise ein. Meine Frau kannte den Weg ins Leihhaus Dorotheum gut, und ich habe wiederholt meine in üppigeren Tagen erworbenen Bücher

zu den Antiquaren getragen. Es kam vor, dass unsere bescheidene Wohnungseinrichtung rückständiger Miete wegen gepfändet wurde."

"In jenen ruhigen sieben Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wurde Trotzki zum Wiener, wenn man will als Beweis seiner kosmopolitischen Grundhaltung", schrieb Harry Wilde in seiner Trotzki-Monographie. "Die Hauptstadt der Donaumonarchie war der Schmelztiegel der rund ein Dutzend Völkerschaften dieses Reiches. Die wahrhaft ,europäische' Hauptstadt vermittelte ihm dazu reiche Kenntnis der deutschen Literatur, des Theaters und der Wissenschaften. Hier eignete er sich jene universelle Bildung an, die der völlig einseitig geprägte Lenin nie erreichte und wie sie unter den russischen Emigranten, selbst wenn sie schon länger als ein Jahrzehnt im Ausland lebten, äußerst selten war."

Das Café Central war ein Symbol für die kosmopolitische Grundhaltung, von der Herry Wilde spricht. Hier lagen im Jahre 1913 251 in- und ausländische Zeitungen auf. Hier kamen sie alle zusammen - die Adeligen und die Bürger, die Reichsratsabgeordneten und die Revolutionäre, um sich zu informieren. Sie sprachen vielleicht nicht miteinander, aber sie waren unter einem Dach.

Nikolaj Bucharin

Zwei Jahre lang, zwischen 1912 und 1914, lebte in Wien auch Nikolaj Bucharin, der später zum führenden Wirtschaftstheoretiker des Kommunismus und neben Trotzki zum großen Gegenspieler Stalins wurde. Nach zwei Verhaftungen gelang dem Dreiundzwanzigjährigen 1911 die Flucht ins Ausland.

"Mich beschäftigte seit langem der Gedanke", schrieb er, "eine systematische Kritik der theoretischen Ökonomie der neuesten Bourgeoisie zu geben. Zu diesem Zweck ging ich nach Wien; ich hörte dort Vorlesungen von Böhm-Bawerk an der Wiener Universität. In der Wiener Universitätsbibliothek studierte ich die Literatur der österreichischen Theoretiker. Es gelang mir aber nicht, die Arbeit zu beenden, da die österreichische Regierung mich vor Ausbruch des Krieges auf eine Festung einsperren ließ, während die Hüter der Ordnung das Manuskript einer sorgfältigen Prüfung unterzogen."

Bucharin setzte seine Studien in der Schweiz in Lausanne fort und beendete dort seine Arbeit "Die politische Ökonomie des Rentners. Die Wert- und Profittheorie der Österreichischen Schule". Nach dem Urteil der Fachleute handelt es sich dabei um ein "wahres Handbuch des Marktmechanismus, wie es in der marxistischen Literatur kein zweites gibt". Er schilderte darin das überflüssige Leben der "Rentnerbourgeoisie": "Der konsumierende Rentner hat ausschließlich Reitpferde, Teppiche, duftende Zigarren, Tokajer-Wein vor Augen. Wenn er einmal von Arbeit spricht, so meint er die ,Arbeit' des Blumenpflückens oder die Besorgung einer Theaterkarte."

Lenin und Stalin

Nikolaj Bucharin wohnte im dritten Bezirk, Hainburger Straße 60, Tür Nummer 10, hofseitig. Hier besuchte ihn Lenin Mitte Juni 1913, auf der Reise nach Bern, wo seine Frau Nadeshda Krupskaja operiert werden sollte. Bucharin hatte Lenin ein Jahr zuvor in Poronin bei Krakau besucht, womit, wie er selbst sagte, sein eigentliches Leben begonnen habe. Er war seither Lenins Mann in Wien. Über diesen Besuch in Wien schrieb Krupskaja in ihren Erinnerungen, dass Bucharin "sich angelegentlich mit Lenin über alle Fragen, die diesen interessierten, unterhielt und von den in Wien lebenden Genossen erzählte ... Bucharins Frau lag krank im Bett. Bucharin besorgte die Wirtschaft selbst, tat Zucker statt Salz in die Suppe."

Lenin war seit 1902, seit der Spaltung der Sozialdemokratischen Partei Russlands in Bolschewiki und Menschewiki, ständig auf der Suche nach Freunden, aus denen er Gesinnungsgenossen zu machen versuchte. Mit zähem Fleiß reiste er umher und schrieb Tausende von Briefen, um eine Armee aus "Berufsrevolutionären" zusammenzuschweißen, die eines Tages imstande sein würde, im Namen des Proletariats die Macht zu erobern.

Lenin hatte Jossif Dschugaschwili, genannt Stalin, eigentlich nach Wien geschickt, damit der im Herzen eines Vielvölkerreichs die Nationalitätenfrage studiere. Stalin blieb zwei Monate in Wien und wohnte in der Schönbrunner Schlosstraße 30, Tür Nummer 7, bei Lenins Vertrauensmann Alexander Trojanowski, einem Journalisten, der zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter als Untermieter eines gewissen Albin Tomaschek angemeldet war. Stalin wohnte unangemeldet bei ihnen; tagsüber arbeitete er, abends unternahm er lange Spaziergänge den Wien-Fluss entlang, bis nach Ober-St.-Veit.

Die Hauslehrerin der kleinen Tochter des Hauses war die Studentin Sofja Weiland. Sie half Stalin bei seiner Arbeit, sie brachte ihm Bücher, die er brauchte, und übersetzte ihm die Stellen, die er zitieren wollte. Entweder war sie des Deutschen nicht so kundig oder aber versuchte sie bei ihrer Übersetzung, sich der Meinung ihres Auftraggebers anzupassen, auf jeden Fall schilderte Stalin in seiner Arbeit den Standpunkt der österreichischen Sozialdemokratie falsch. Lenin musste Stalin korrigieren und ihn an den Beschluss des Brünner Parteitages aus dem Jahr 1899 erinnern, auf dem die österreichischen Sozialdemokraten unmissverständlich die nationale, territoriale und sprachliche Autonomie für alle Völker und die Umwandlung der Doppelmonarchie in einen demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat verlangt hatten.

Im Unterschied zu Stalin war Trotzki ein ausgesprochen geselliger Mensch, der sich auch für die Literatur und die Malerei interessierte und darüber für den "Kiewer Gedanken" schrieb, etwa über die Ausstellungen der Wiener Secession, über den Münchner "Simplicissimus", über die Karikaturen von T. T. Heine sowie über Frank Wedekind.

"Die Frühlingsausstellung der Wiener Secession habe ich erst Ende Juni, fast am Vorabend ihrer Schließung besucht . . . Die leeren Säle schienen mir im Laufe der zwei, drei Stunden, die ich dort vor den Gemälden verbracht habe, sehr beredt zu sein. Welchen Platz nimmt die Malerei im heutigen Leben ein? . . . Wie immer gibt es auch diesmal ,interessante' Werke zu sehen. Der bekannteste Wiener Maler, Rudolf Jettmar, hat zwei große Gemälde ausgestellt. Das bedeutendere ist 'Die Türme des Trotzes', eine öde Landschaft, aus ihr aber erheben sich ganz natürlich im Hintergrund trotzige Türme - gerade, ohne Fenster, steinerne Kästen, die hoch in den Himmel aufragen. Im Vordergrund liegt eine nackte Frau in einer Pose, die zugleich ruhende Wollust wie erschöpfte Verzweiflung ausdrücken kann: Das Gesicht ist fast nicht zu sehen. Über sie neigt sich ein kräftiger Mann. Auf dem Gesicht einer daneben sitzenden alten Frau malt sich beharrliche und uralte Verzweiflung, während sich ein nackter Knabe an sie schmiegt."

Hitler im Männerheim

Zu dieser Zeit, genauer gesagt seit 1907, lebte mit Unterbrechungen ein junger Mann aus dem Innviertel in Wien, der gern Maler werden wollte. Er bewarb sich zweimal um die Aufnahme an die Akademie der Künste, wurde aber beide Male abgelehnt. Er konnte zwar, wenngleich eher dilettantisch, ziemlich präzise verschiedene Gebäude und Straßenzüge abzeichnen, bekam aber die menschliche Gestalt nicht in den Griff. Er hatte offenbar keine rechte Beziehung dazu.

Dieser junge Mann hieß Adolf Hitler. Da er von einer bescheidenen Rente lebte, hatte er genügend Zeit und Muße, sich historische Tragödien im Burgtheater und Heldenopern in der Wiener Oper anzusehen, spazieren zu gehen und zu malen, wie zum Beispiel die Karlskirche, das Palais Auersperg und das Parlament.

"Befangen von der Fülle der Eindrücke auf architektonischem Gebiet", schrieb Hitler über seinen Aufenthalt in Wien, "besaß ich in der ersten Zeit keinen Blick für die innere Schichtung des Volkes in der Riesenstadt . . . Erst als allmählich die Ruhe wiederkehrte und sich das Bild zu klären begann, sah ich mich in meiner neuen Welt gründlicher um und stieß nun auf die Judenfrage."

Von Dezember 1909 bis Mai 1913 wohnte Adolf Hitler im Männerheim in der Meldemannstraße. Zu dieser Zeit las er sehr viel, las alles, was ihm in die Hände fiel. Da er ein fanatischer Deutsch-Österreicher war, las er mit Vorliebe Schriften, die für Großdeutschland eintraten. Schon in der Schule in Linz war er "alldeutsch" orientiert gewesen. Die Schüler versammelten sich in verbotenen oder geduldeten "Verbindungen", die hochtrabende Namen wie "Gotia" oder "Wotan" trugen. Hitler polemisierte gern gegen die Tschechisierung der Österreicher, gegen den katholischen Klerus und die Habsburger, die ihn begünstigten. Hitlers Antisemitismus wurde durch die Schriften der österreichischen Alldeutschen beeinflusst, deren Führer Georg Ritter von Schönerer war. Aber auch die Christlich-Sozialen betrieben eine kaum verdeckte antisemitische Politik, vor allem der Wiener Bürgermeister Lueger.

In einer der Kojen des Männerheimes begann Adolf Hitler seine künftige "Weltanschauung" auszubrüten, ein Mischmasch aus allen möglichen und unmöglichen nationalen und sozialen Vorurteilen, das ihn über seine Wiener Niederlage hinwegtäuschen sollte. "Ich ging", sagte Hitler später, "von Wien weg als absoluter Antisemit, als Todfeind der gesamten marxistischen Weltanschauung, als alldeutsch in meiner Gesinnung."

Sarajewo und die Folgen

Der folgenschwerste politische Mord des Jahrhunderts ereignete sich am 28. Juni 1914 in Sarajewo. Obwohl er leicht vorauszusehen war, glaubte niemand daran. So wurden alle Versuche, ihn durch die Lösung der Probleme, die ihn hervorgerufen hatten, zu vereiteln oder wenigstens im letzten Augenblick zu vermeiden, nur zu untauglichen, warnenden Gesten. Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand fuhr ausgerechnet am Sankt-Veits-Tag, an dem die Serben alljährlich ihrer Niederlage von 1389 in der Schlacht auf dem Amselfeld gedenken, in die Hauptstadt Bosniens und wurde dort zusammen mit seiner Frau, der Herzogin Sophie von Hohenberg, von dem serbischen Anarcho-Nationalisten Gavrilo Princip erschossen.

Die Schüsse von Sarajewo hatten die militärischen Apparate der europäischen Großmächte, die schon seit Jahren auf den Krieg vorbereitet waren, in Bewegung gesetzt. Österreich-Ungarn stellte am 23. Juli ein kurz befristetes, für einen souveränen Staat unannehmbares Ultimatum und erklärte fünf Tage später dem kleinen Balkanstaat den Krieg, in den in wenigen Tagen alle europäischen Großmächte durch ein Netz von Sicherheitsbündnissen hineingezogen wurden. So brach der Erste Weltkrieg aus, den angeblich niemand gewollt hatte.

Am 25. Juli trat in Brüssel die Exekutive der sozialistischen Internationale zusammen, um über Mittel und Wege zu beraten, den Krieg im letzten Augenblick zu verhindern. Doch die nationalen Gegensätze waren stärker. Der führende französische Sozialist und Pazifist Jean Jaures, der vor den verheerenden Folgen des Krieges warnte, wurde am 31. Juli von einem französischen Nationalisten erschossen.

Kriegsbegeisterung

Am 2. August suchte Trotzki Victor Adler auf, um ihn um Rat zu fragen, was nun zu tun sei. "Ich wanderte durch das mir so gut bekannten Wien", schrieb er, "und beobachtete die für den prunkvollen Ring so ungewöhnliche Menschenmenge . . . Hätten sich zu einer anderen Zeit die Gepäckträger, Waschfrauen, Schuhmacher, Gehilfen und die Halbwüchsigen der Vorstadt auf der Ringstraße als Herren der Lage fühlen können? Der Krieg erfasst alle, und folglich fühlen sich alle Unterdrückten, vom Leben Betrogenen mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuße."

"Es freuen sich alle jene, die nicht in den Krieg zu gehen brauchen", antwortete ihm Adler, als Trotzki ihm von seinen Eindrücken erzählte. "Außerdem strömen jetzt alle Überspannten, alle Verrückten auf die Straße: Das ist ihre Zeit. Die Ermordung von Jaures ist nur der Anfang. Der Krieg entfesselt alle Instinkte, alle Arten des Wahnsinns . . ." Victor Adler fuhr mit Trotzki zum Polizeipräsidenten Geyer, der dem russischen Emigranten riet, sofort abzureisen. Drei Stunden später war Trotzki mit seiner Familie auf dem Weg in die Schweiz.

Lenin wurde in Krakau als "feindlicher Ausländer" verhaftet und nach Intervention Victor Adlers wieder freigelassen, sodass er ebenfalls in die Schweiz abreisen konnte.

Stalin war schon ein Jahr zuvor wieder nach Russland gereist, wo man ihn bald nach der Ankunft verhaftet und nach Sibirien deportiert hatte.

Der junge Gefreite Josip Broz wurde mit dem 25. Agramer Heimwehrregiment, in das er sich aus Wien hatte versetzten lassen, an die Front geschickt.

Adolf Hitler meldete sich in München zur Wehrmacht und zog mit den Deutschen in den Krieg.

Die Donaumonarchie zerfiel. Die Männer jedoch, die in den Jahren 1913 bis 1914 für kürzere oder längere Zeit in Wien geweilt hatten und danach in alle Windrichtungen verstreut worden waren, prägten das Gesicht des zwanzigsten Jahrhunderts.

Milo Dor, geboren 1923 in Budapest, aufgewachsen im Banat und in Belgrad, 1942 als Widerstandskämpfer verhaftet, 1943 nach Wien deportiert, wo er seit 1945 als freier Schriftsteller lebt. Wichtige Werke: "Unterwegs", "Tote auf Urlaub", "Nichts als Erinnerung", "Die weiße Stadt", "Alle meine Brüder", "Auf dem falschen Dampfer".

Freitag, 30. Juli 2004

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