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Wer war schuld am Ersten Weltkrieg? -Über eine alte Debatte

Sackgasse in die Katastrophe

Von Hans Christof Wagner

Im März 1964 konnte man in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen: "Unser gegenwärtiges politisches Dasein legt uns die Verpflichtung auf, über das Wesen des Ersten Weltkrieges mit uns ins reine zu kommen. Denn wenn es so wäre, dass 1914 dasselbe geschah wie 1939, dass nämlich die planvolle Entfesselung eines Weltkrieges durch einen deutschen Diktator stattfand, dann können wir das Buch der deutschen Geschichte endgültig zuschlagen, dann hätte immer Hitler über uns regiert und würde er immer über uns regieren.

Diese Zeilen galten einem Mann, der vor 40 Jahren zu einer Vortragsreise in die USA aufbrechen wollte, aber nicht konnte. Die damalige westdeutsche Regierung hatte nämlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit er keine Mittel dafür bekäme. Erst als amerikanische Wissenschaftler als Geldgeber einsprangen, konnte Fritz Fischer reisen - ein Politikum ersten Ranges. Drei Jahre zuvor hatte er das Buch "Griff nach der Weltmacht" veröffentlicht. Seine Kernthese lautete: Nicht nur unbestritten einmal - 1939 - hat Deutschland die Welt in einen Weltkrieg gestürzt, sondern bereits 1914. "Wir sind nicht hineingeschlittert", befand der Hamburger Historiker. Die Deutschen hätten die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, ohne den der Zweite kaum denkbar ist, wissentlich in seiner Tragweite entfesselt. Die nationalkonservativen Feuilletons grollten, beschimpften Fischer als Nestbeschmutzer und Vaterlandsverräter und nannten sein Buch "schändlich".

Dabei klangen Fischers Thesen in seinem ersten, 1961 erschienenen Buch noch moderat: "Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Juli 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges."

Weichen für "Großen Krieg"

Zu den Fakten: Als am 28. Juni Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo den Kugeln des bosnischen Attentäters Gavrilo Princip zum Opfer fällt, ist es vor allem die deutsche Regierung, die Wien zum Losschlagen, zur Vergeltung gegen das als Drahtzieher ausgemachte Serbien drängt. Dass Russland seine schützende Hand über Serbien hält, ist den Akteuren des Juli 1914 bewusst. Am 4. Juli gibt es den erhofften "Blankoscheck" aus der deutschen Hauptstadt. Alexander Graf Hoyos vom k. u. k. Außenministerium vergewissert sich in Berlin der vorbehaltlosen Unterstützung seitens des Deutschen Kaisers und des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg - auch für den Fall, dass sich Russland auf die Seite Serbiens schlagen sollte. Dem Kanzler war die Tragweite dieser Zusicherung durchaus klar. Am

5. Juli gab er einem Mitarbeiter zu verstehen: "Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen."

In der Öffentlichkeit deutet jedoch nichts auf einen solchen hin. Führende deutsche wie österreichische Politiker fahren demonstrativ in den Urlaub. Motto: Sommerfrischler führen keinen Krieg. Historiker wie Fischer haben das als bewusste Täuschung der öffentlichen Meinung gewertet. Business as usual, während in Wahrheit die Weichen längst in Richtung "Großer Krieg" gestellt sind. Doch bis zum 23. Juli passiert tatsächlich nichts. Erst an diesem Tag, fast ein Monat nach dem Attentat in Sarajewo, stellt Österreich-Ungarn ein Ultimatum an Serbien. Fast wäre der Kriegsgrund noch abhanden gekommen. Denn wider Erwarten nimmt der Balkanstaat das Ultimatum in fast allen Punkten an - doch eben nicht bis zur totalen Unterwerfung. Und so geht es binnen Tagen: Am 28. Juli erklärt Wien Serbien den Krieg, gefolgt von der Teilmobilmachung Russlands. Drei Tage darauf folgt die russische Generalmobilmachung, das Zarenreich steht als Angreifer da. Am 3. August erklärt das Deutsche Reich Frankreich den Krieg, und als einen Tag darauf deutsche Truppen das neutrale Belgien überfallen, stellt sich Großbritannien an die Seite Frankreichs.

Im Unterschied zu den Entente-Mächten handelt Deutschland planmäßig nach dem Schlieffen-Plan. Benannt nach dem deutschen General von Schlieffen, sieht dieser Plan vor, Frankreich niederzuringen, während der österreichische Verbündete gegen Russland die Stellung halten soll. Vom Russischen Reich glaubte man, es könne seine Truppen nur langsam, binnen Wochen mobil machen. Diese Zeit wollte man nutzen, um im Westen die Entscheidung herbeizuführen. Mit einer massiven Schwenkbewegung sollten deutsche Truppen auf Paris zumarschieren. Einziger Haken daran: die Verletzung der belgischen Neutralität. Die, so wusste man, werde Großbritannien auf den Plan rufen. Die "Einkreisung" war perfekt, das Hoffen darauf, dass sich England aus dem Krieg heraushalten könnte, illusorisch. "Krieg der Illusionen" heißt Fritz Fischers zweites, 1969 erschienenes Buch.

Fischers Kontrahenten waren zum Teil selbst noch Teilnehmer des Ersten Weltkriegs, kämpften mit Denkschriften an der geistigen Heimatfront oder waren in den 20er Jahren in Einrichtungen beschäftigt, die nur zu dem Zweck gegründet worden waren, die angebliche Unschuld Deutschlands am Kriegsausbruch zu dokumentieren. Sie vertraten die These von der Unvermeidbarkeit des Krieges: Keine der Mächte habe sich dem Teufelskreis, dem Automatismus der Bündnissysteme entziehen können. Keine Regierung habe den Krieg gewollt, aber auch keine ihn verhindert. Man sei eben "hineingeschlittert". Allenfalls wollte man noch einen "Präventivkrieg" Deutschlands gelten lassen. Nach dieser Vorstellung wäre ein Angriff Russlands um das Jahr 1916 bevorgestanden, dem Deutschland nur zuvorgekommen sei.

Fritz Fischer hielt dem die These von der Kontinuität deutscher Machtpolitik entgegen, die schon seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 darauf aus gewesen sei, Europa zu dominieren, und die durch parvenühafte, bramarbasierende Art und Weise selbst ihren Teil dazu beigetragen habe, dass Deutschland 1914 "eingekreist" war. Das Sarajewo-Attentat und die sich daraus entspinnende diplomatische Krise wertete Fischer als willkommenen Vorwand. Deutschland trat die Flucht nach vorne an, um sich militärisch zu behaupten und politisch-gesellschaftlich neu zu gründen. Man hielt das Risiko für kalkulierbar, nach innen wie nach außen. Zwar gab es vereinzelt Stimmen, die vor den unkontrollierbaren Folgen eines Weltkrieges warnten, doch größtenteils war man davon überzeugt, dass man es mit drei Großmächten gleichzeitig aufnehmen könne.

Des Kaisers berühmter, am 4. August 1914 ausgesprochener Satz, "Uns treibt nicht Eroberungslust", traf denn auch die Stimmungslage unter den Deutschen, die sich als Opfer einer jahrelangen "Einkreisung" und eines wohlgeplanten Überfalls missgünstiger Feinde sahen. Ohne den Glauben an den rein defensiven Charakter dieses Krieges hätte es sicher nicht jenes Ausmaß an Patriotismus und Hurra-Gefühlen gegeben, das in den ersten Kriegstagen zumindest in bürgerlich-städtischen Kreisen weit verbreitet war. Selbst die deutsche Sozialdemokratie, zuvor noch Veranstalter großer Friedensdemonstrationen, schwenkte nun um und reihte sich in die Gemeinschaft der Angegriffenen ein. "Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich", gaben ihre Führer als Parole aus.

Das sollte aber 50 Jahre nach Kriegsende alles nicht mehr gelten, nur noch als machiavellistisch inszeniertes Manöver dastehen, als Täuschung einer ganzen Nation, deren Jugend bei Langemarck mit dem Deutschlandlied auf den Lippen gefallen war? In Europa reagierte man auf die Fischer-Kontroverse gelassen. Tenor: Das haben wir doch sowieso schon immer gewusst! In Artikel 231 des Vertrages von Versailles war 1919 die deutsche Alleinschuld festgeschrieben worden. Dagegen bildete sich ein breiter Abwehrkonsens von ganz rechts bis gemäßigt links. Über die ganze Weimarer Republik hinweg weigerte sich die deutsche Öffentlichkeit aus einem nationalistischen Reflex heraus, sich auch nur ansatzweise mit diesem Diktum auseinander zu setzen.

Festhalten an Kriegsunschuld

Eine historische Aufarbeitung der Politik des Kaiserreichs und seiner Rolle in den Tagen des Juli 1914 unterblieb, stattdessen wurden alle Forschungen, die die These von der "Kriegsunschuld" Deutschlands erschütterten, ignoriert. Als 1945 der Zusammenbruch erfolgte, 1949 die Teilung Deutschlands und in den 50ern der Kalte Krieg kamen, war vor allem die deutsche Historikerzunft um nationale Schadensbegrenzung bemüht. Hitler musste als "Betriebsunfall" der deutschen Geschichte dastehen, aus dem Nichts geboren, ohne Kontinuität. Doch dann kam Fritz Fischer und stellte alles auf den Kopf.

Die Vorstellung, Deutschland sei nicht nur an dem "Betriebsunfall" Hitler und der Entfesselung des Weltkrieges im Jahr 1939 schuld gewesen, sondern auch schon 1914, unter der "Normalität" eines legitimen deutschen Kaiserstaates, war Fischers zahlreichen Gegnern zuwider. Im Vorwort von "Griff nach der Weltmacht" schrieb Fischer: "Wenn diese neue Betrachtungsweise die deutsche Politik

im Ersten Weltkrieg tief in der

deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verwurzelt erscheinen lässt, so weist sie andererseits über den behandelten Zeitraum hinaus. Ideelle und hegemoniale Ansprüche werden sichtbar, die, wenn auch gesteigert und unmenschlich in den Methoden, in der deutschen Geschichte bis 1945 wirksam geblieben sind."

Fischers These von der Kontinuität deutscher Machtpolitik von Friedrich dem Großen über Bismarck, Wilhelm II. bis hin zu Hitler ließ die gesamte neuere deutsche Geschichte als Irrweg, als Sackgasse in die Katastrophe von 1945 erscheinen. Unter diesem Vorzeichen wäre eine deutsche Wiedervereinigung unerträglich gewesen.

Trotz der breiten Abwehrfront setzten sich Fischers Thesen schon bald nach Ende der Kontroverse, auch dank seiner Schüler, durch. Der Bann und das nationale Tabu waren endgültig gebrochen. Heute braucht das wiedervereinigte Deutschland das Problem der machtstaatlich-militärischen Kontinuität seiner Geschichte im

20. Jahrhundert nicht mehr zu diskutieren. Andere Kontinuitäten haben sich inzwischen gezeigt: jene des Ausgleichs und des friedlichen Miteinanders der europäischen Nachbarn. Sie mussten nur unter den Trümmern borussischer Geschichtsmythen freigelegt werden.

Freitag, 30. Juli 2004

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