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Vor 60 Jahren wurde Oradour von SS-Truppen ausgelöscht

"Heute wird viel Blut fließen"

Von Rainer Mayerhofer

In den Mittagstunden des 10. Juni 1944 war der kleine Ort Oradour-sur-Glane, 22 Kilometer nordwestlich der Stadt Limoges gelegen, von den Wirren des Zweiten Weltkrieges kaum berührt. Wären da nicht ein paar vor den deutschen Besatzern geflüchtete Juden und Evakuierte aus den vom Krieg betroffenen Teilen Frankreichs gewesen, hätte man sich auf einen ruhigen Sommer vorbereiten können, mit ein paar Fremden in den zwei Hotels und den wenigen privaten Pensionen des Ortes.

Vier Tage zuvor waren die Alliierten in der Normandie gelandet, und deutsche Truppen aus dem Südwesten Frankreichs eilten an den neuen Kriegsschauplatz. Oradour-sur-Glane lag abseits ihrer Marschroute, und an diesem 10. Juni 1944, einem Samstag, wusste in dem Dorf auch noch niemand, dass die SS-Division "Das Reich" am Tag zuvor in Tulle 99 Geiseln an Balkongittern, Bäumen und Laternen erhängt hatte - als Vergeltung für Angriffe des französischen Widerstands. Am Tag zuvor war auch SS-Untersturmbannführer Heinz Barth mit seinem Bataillon "Der Führer" in Saint Junien eingetroffen, 50 Kilometer westlich von Limoges.

Am Morgen des 10. Juni hatte Bataillonskommandant Reinhold Diekmann seine Offiziere im Hotel de la Gare in Saint Junien zusammengerufen und ihnen mitgeteilt, dass ein hoher SS-Offizier, Sturmbannführer Kämpfe, der Kommandeur des 3. Bataillons, von französischen Widerstandskämpfern, zu deren Bekämpfung er eingesetzt worden war, entführt worden sei. Am Tag zuvor war ein anderer hoher SS-Offizier, Karl Gerlach, entführt worden, hatte jedoch flüchten können. Gerlach berichtete, er sei während seiner Gefangenschaft auch nach Oradour gebracht worden. Diekmann bekam von seinem Vorgesetzten den Auftrag, in Oradour 30 oder mehr Geiseln zu nehmen, um sie gegen Kämpfe auszutauschen.

Massaker in der Kirche

Diekmann, ein enger Freund des verschwundenen Kämpfe, gab seinen Untergebenen den Befehl, dass die Ortsausgänge abzusperren seien - und kein Mensch in den Ort hinein und keiner hinaus dürfe. 39 Jahre später sagte Heinz Barth, einer der Befehlsempfänger, bei seinem Prozess in Ostberlin aus, dass es die Anweisung gegeben habe, den Ort niederzubrennen und ohne Ausnahme alle Personen, vom Säugling bis zum Greis, zu vernichten. In diesem Prozess wurde Barth vom Vorsitzenden gefragt, ob er selbst zu seinen Untergebenen an diesem Tag gesagt habe: "Heute wird viel Blut fließen." Er wollte sich nicht daran erinnern können. Auf die Nachfrage "Oder haben Sie vielleicht gesagt: 'Heute werdet ihr viel Blut sehen'?" musste Barth zugeben: "Ja, so etwas werde ich gesagt haben."

Mit 150 Mann seiner SS-Division kam Diekmann gegen zwei Uhr nachmittags in Oradour an. Kaum eine Stunde später trieben die SS-Leute alle Einwohner auf dem Marktplatz zusammen. Die Häuser waren weitgehend leer. Nur wenige Einwohner konnten sich verstecken, unter ihnen drei Kinder einer jüdischen Familie, die in Oradour Zuflucht gefunden hatten, Jaqueline Pinede, ihre Schwester Francine und ihr Bruder Andre, sowie der siebenjährige Roger Godfrin. Er wird der einzige Schüler von Oradour sein, der das Massaker überlebt.

Wer zu krank ist, um auf den Marktplatz zu gehen, wird gleich in seinem Haus erschossen. Eine Stunde lang müssen die Bewohner auf dem Marktplatz stehen, dann werden die Frauen und Kinder von den Männern getrennt und in die Kirche weggeführt. Die Männer werden in mehrere Scheunen getrieben, dann eröffnen die SS-Männer das Feuer. Nicht alle sind gleich tot. Viele sterben erst in den Flammen, nachdem die Soldaten Stroh und Reisig auf die Leichenberge getürmt und diese angezündet haben. In einer Scheune überleben sechs Männer das Massaker und können fliehen. Der Erste ist zu früh dran und wird von den SS-Männern an der Friedhofsmauer erschossen, wo man ihn am nächsten Tag findet.

Einer der fünf, die davonkommen, ist Robert Hebras, der später erzählt (wiedergegeben in dem Buch "Der letzte Tag von Oradour" von Lea Rosh und Günther Schwarberg, Steidl-Verlag, 1988): "Mein linker Arm und meine Haare haben schon gebrannt. Es war ein furchtbarer Schmerz, deshalb musste ich aus der Scheune hinaus . . . Dann haben wir uns in der Scheune dahinter versteckt. Da kamen zwei SS-Leute herein. Einer stieg auf eine Leiter und hat das Stroh dort mit Streichhölzern angesteckt . . . Wir sind dann aus der brennenden Scheune in die nächste gekrochen. Es gelang uns aber nicht, aus dem Ort hinauszukommen. Wir haben uns dort in Kaninchenställen verborgen. Auch die begannen schließlich zu brennen. Ungefähr um sieben Uhr abends haben wir uns hinausgewagt . . . Ich bin dann weitergelaufen in Richtung Friedhof und von dort in die Felder. Sie haben mich nicht entdeckt. Von dort sah ich, dass alle Häuser in Flammen standen. Ganz Oradour brannte."

In die Kirche, in der die Frauen mit den Kindern eingeschlossen waren, trugen die SS-Männer eine Kiste, die offensichtlich eine Gasbombe enthielt. Beißender, stechender Rauch verbreitete sich nach der Explosion. Dann feuerten die SS-Männer von der Kirchentür aus mit Maschinengewehren in die Menge und warfen Handgranaten. Nur eine Frau konnte sich von all den Frauen und Kindern Oradours, die man in der Kirche zusammengetrieben hatte, retten, die 47-jährige Bäuerin Marguerite Rouffanche. Bei ihrer Vernehmung vor einem französischen Untersuchungsrichter sagte sie am 13. November 1944: "Eineinhalb Stunden blieben wir voller Angst in der Kirche und warteten auf das Schicksal, das man uns bereitete. Ich hatte meine beiden Töchter und den sieben Monate alten Guy bei mir. Neben mir schlief meine fünfjährige kleine Nichte ein . . . Nach eineinhalb Stunden öffneten die Deutschen die Tür. Zwei bewaffnete Deutsche trieben die Frauen und Kinder auseinander, um zwischen ihnen hindurchgehen zu können. Sie stellten eine etwa 80 Zentimeter lange Kiste vor dem Altar am Ende des Kirchenschiffes auf . . . Kurz danach gingen die Deutschen wieder hinaus, ohne ein Wort gesagt zu haben. Einige Augenblicke später ging von der Kiste eine kleine Explosion aus. Schwarzer, beißender und stechender Rauch kam heraus, der die ganze Kirche durchzog. Die Menschen bekamen Erstickungsanfälle . . . Ich flüchtete mit meinen zwei Töchtern und dem Enkelkind in die Sakristei. Da begannen die Deutschen, Feuerstöße in die Fenster der Sakristei abzugeben. Meine jüngste Tochter Andree wurde neben mir durch Kugeln getötet, die ihre Halsschlagader durchschlagen hatten."

Marguerite Rouffanche gelang es, nachdem die Kirche in Brand gesetzt worden war, durch ein Fenster zu flüchten. Bei ihrer Einvernahme schilderte sie die bangen Minuten: "Als ich die Flammen sah, lief ich aus der Sakristei und versuchte, hinter dem heiligen Altar Schutz zu finden. Ich nahm den Gebetsschemel, der beim Gottesdienst verwendet wird, und stieg darauf, um das Fenster zu erreichen. Von dort sprang ich hinunter . . . Hinter mir erschien Madame Joyeux am Fenster und wollte mir ihr sieben Monate altes Baby reichen. Ich konnte es aber nicht fassen. Dann wurde geschossen, und in diesem Moment scheint Madame Joyeux getötet worden zu sein . . . Von da aus flüchtete ich sofort in das Erbsenbeet des nahe gelegenen Gartens. Als ich mich in das Erbsenbeet fallen ließ, wurde ich mit einem Maschinengewehr beschossen. Fünf Kugeln trafen mich an den Beinen und an der Schulter. Das Schulterblatt wurde mir zerschmettert. Ich war zwischen die Stangen des Erbsenbeetes gefallen. Dort blieb ich liegen bis zum Sonntag, den 11. Juni, 16 bis 17 Uhr."

Die Leichen von Madame Joyeux und ihrem Baby waren unter den wenigen, die nach den Massakern von Oradour identifiziert werden konnten. 642 Menschen wurden an diesem Samstagnachmittag niedergemetzelt und verbrannt. Das älteste Opfer war die Witwe Marguerite Foussat, die zwei Monate später 91 Jahre alt geworden wäre. Das jüngste Opfer war der am 2. Juni 1944 geborene Yves Texier, der gerade einmal acht Tage alt geworden war. 20 der ermordeten Kinder waren nicht einmal ein Jahr alt, fünf Männer und sechs Frauen waren älter als 80 Jahre.

Bevor die SS-Division das ganze Dorf in Brand steckte, wurde noch geplündert, was zu plündern war. Von Oradour blieben nur Ruinen übrig, wie auf den Tag genau zwei Jahre zuvor von der tschechischen Ortschaft Lidice, wo ebenfalls falsche Partisanenbeschuldigungen für ein Massaker gesorgt hatten. 3.000 Kilometer von Oradour entfernt, starben am 10. Juni 1944 im griechischen Dorf Distomon 218 Einwohner, die von Soldaten der 4. SS-Polizei-Panzergrenadierdivision erschossen wurden, bevor ihr Dorf in Flammen aufging.

Die Empörung über das Massaker von Oradour war in Frankreich groß. Selbst das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime des greisen Marschalls Petain protestierte beim deutschen Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt. Die von einem SS-Divisionsrichter aufgenommenen Ermittlungen wurden aber bald eingestellt. SS-Bataillonskommandant Diekmann fiel bei den Kämpfen in der Normandie, sein Untergebener Heinz Barth wurde verletzt und verlor ein Bein.

Späte Urteile und Amnestien

Erst 1953 fand in Bordeaux ein Prozess gegen 21 Mitglieder der SS-Division statt, die an dem Massaker beteiligt gewesen waren. 14 der Angeklagten stammten aus dem Elsass und waren zum überwiegenden Teil in die SS zwangsverpflichtet worden. Am 11. Februar 1953 wurden zwei der Angeklagten zum Tod verurteilt, einer wurde freigesprochen und die restlichen 18 bekamen Gefängnisstrafen zwischen 5 und 12 Jahren. Weitere drei Offiziere wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt, unter ihnen Heinz Barth. Am 19. Februar 1953 aber erließ das französische Parlament eine Amnestie und alle Verurteilten wurden freigelassen. 30 Jahre später fand in Ostberlin der Prozess gegen Heinz Barth statt, der schon vor dem Massaker in Oradour als Mitglied eines Polizeibataillons seit 1942 an mehreren Erschießungen in der Tschechoslowakei teilgenommen hatte. Er wurde für seine Taten zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Nach der Wende kam auch er frei und beantragte zusätzlich zu seiner normalen Alterspension eine Kriegsversehrtenrente. Bis 1998 bekam Barth 800 DM monatlich. Erst vor vier Jahren wies das Sozialgericht in Potsdam die Beschwerde Barths gegen die Einstellung der Zahlungen ab, erließ ihm jedoch die Rückzahlung der zu Unrecht bezogenen Beträge, die ihm als verurteilten Kriegsverbrecher nicht zugestanden wären.

Neben der Ruinenstadt von Oradour, die als Mahnmal bestehen blieb, wurde in den 50er Jahren ein neuer Ort errichtet, der heute rund 2.000 Einwohner hat. Eine der Bewohnerinnen war Marguerite Rouffanche. 91-jährig ist sie im Frühjahr 1988 gestorben. "Als wir sie zum Friedhof trugen, war das sehr schwer für uns", erzählte der Sohn des 1944 ermordeten Bürgermeisters, Andre Desourteaux, "es war, als ob wir sie alle noch einmal zu Grabe trügen."

Freitag, 04. Juni 2004

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