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Von Siebenhirten nach Liesing - ein Gang durch Wiens Peripherie

Gibt es die Gstätt'n noch?

Von Beppo Beyerl

Die Peripherie liegt an der mit einem eklatantem Widerspruch beladenen Spannungslinie: Einerseits fungiert sie als Gegensatz zum Zentrum, wobei dieses der peripheren Randlage wirtschaftlichen Notstand und soziale Deklassiertheit zuweist. Die peripheren Gegenden zeichnen sich durch Abgeschiedenheit, Rückständigkeit und Verlorenheit aus.

Andererseits lässt an den Rändern der Druck nach. Verborgen vor Kontrollinstanzen und Sicherheitssystemen, können ungeahnte Experimente stattfinden, können überraschende Varianten probiert werden. Nicht immer werden die peripheren Räume von der Geschichte überrollt. Manchmal werden sie durch die Reibungen der Geschichte und der Unachtsamkeiten der Herrschenden auf die Seite gedrückt, sodass dann von der Öffentlichkeit kaum bemerkte insulare Erscheinungen ihre kümmerliche Existenz sichern können. Freilich sollte es auch vermieden werden, die Peripherie als Gegenmodell zum Zentrum zu stilisieren und dadurch romantisch zu verklären. Denn wer der Peripherie eine eigene Ästhetik zuschreibt, kompensiert damit nur den Verlust ihrer wirtschaftlichen und sozialen Kraft.

Das Herzstück der Wiener Peripherie war die Gstätt'n. Selbst in Randlagen noch eine Randlage: Übrig geblieben ist sie etwa zwischen den Betonpfeilern von Autobahntrassen, ein nicht klar definiertes Gelände, das sich jeder eindeutigen Nutzung widersetzt. Wo gibt es die Gstätt'n noch?

Vösendorf-Siebenhirten

Ich starte beim Bahnhof der Badnerbahn mit dem Doppelnamen Vösendorf-Siebenhirten. Während der eine Teil der Doppelhaltestelle - das niederösterreichische Vösendorf - dank Steuereinnahmen sich zu einer der reichsten Gemeinden des Landes mauserte, ist das in Wien verbliebene Siebenhirten bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Der fließende Individualverkehr auf der Triester Straße und der Ketzergasse hat das Wohngebiet an seinen Rändern nachhaltig ramponiert. Aus der Ramponage ragen heraus: Häuser, ein paar ebenerdige, ein paar einstöckige, viele stehen leer. Die Fassaden nichtssagend, gesichtslos, geschichtslos. Dazwischen ein paar Geschäfte: Autowerkstätten mit großem Innenhof, Sonnenstudios mit abgedeckten Fenstern, immer wieder Tierhandlungen. Vorausgesetzt wird die Erreichbarkeit mit dem Auto, verzichtbar ist die menschliche Lebensqualität.

In der Zwischenzeit ist der Peripheriewanderer im Zentrum von Siebenhirten angekommen, ohne allerdings alte dörfliche Strukturen erkennen zu können. Oh doch, hier: die "Siebenhirtner Stuben". Der Rollbalken ist für immer gefallen, ein Zettel pickt drauf: "Auf Grund behördlicher Auflagen sehen wir uns gezwungen, unser Geschäft zu schließen. Gezeichnet etc." Die Größe der Behörde lässt sich an ihrem Anfangsbuchstaben ablesen. Weiter durch Siebenhirten. Der nächste Wirt schließt seine Pforten. An seiner Stelle öffnet ein "Asia-Shop". Da er offenbar mit dem alten Mobilar nichts anfangen kann, hängt ein Computerausdruck an den Fenstern: "Gastrobedarf wird verkauft", wahrscheinlich die Sessel und Tische von gestern.

Ich öffne eines der Tore der nichtssagenden Häuser. Aha! Eine andere Welt behauptet sich hier, die sich der Welt draußen entzieht und ein vitales Eigenleben führt. Alte Pflastersteine, Holzschuppen, nicht eindeutig zuzuordnende Türen, die wer weiß wohin führen, abgestellte Gegenstände, die für wer weiß was taugen und im Wienerischen als Klumpert gelten.

In der Zwischenzeit habe ich festgestellt, dass nicht allzu viele Fußgänger in der Ketzergasse flanieren. Genau genommen nur einer, und das bin ich. Nicht einmal die obligatorischen Hundebesitzer drehen ihre Runden.

Da, die ersten Menschen, gleich vor "Lizzys Grillstuben", die dem hier Muße Suchenden Zimmer vermieten: Zwei, drei offenbar Ortsansässige stehen auf dem sich erweiternden Gehsteig an den Tischen eines Ramschladens. Genaues über Art und Zweck des Geschäftes ist nicht erkennbar, ideal, um die Absicht zu verbergen. Sie enthüllt sich erst beim Stöbern im Schallplattenangebot: "Der Kampf im Westen 1939-45", "Seekrieg" sowie "vorwärts voran". Ich wechsle schnell die Straßenseite. Ein Schaukasten der SPÖ holt mich in die Siebenhirtner Gegenwart zurück. Auf einem Plakat der hoffnungsfrohe Text: "Wien macht alles, um jungen Menschen Arbeit und Ausbildung zu geben." Darüber pickt ein kleinerer Zettel: "Siebenhirtner Preisschnapsen".

Die Strahlkraft der U6

Beim Weiterwandern erfolgt allmählich ein Szenenwechsel, der mit der Strahlkraft der nicht mehr fernen Endstation der U6 namens Siebenhirten zusammenhängt. Ein Neubau aus dem letzten Jahrzehnt, das "Wohnprojekt Wien Süd". Vor dem Eingangstor zum Wohnprojekt werde ich von einer jungen Dame angesprochen. Sie sucht in der Anonymität der Peripherie die Untere Viaduktgasse, mit meinem Taschenatlas dauert es nur zwei bis drei Minuten, ehe wir besagte Gasse gefunden haben. Kurz darauf hält ein Mopedfahrer, um mich nach der Perfektastraße zu fragen. In der gleichgeschalteten Peripherie verliert sich das Detail.

Da. Ein Gleis, ein einfaches Eisenbahngleis. Es beginnt gleich hinter dem Würstelstand mit dem adretten Namen "Pausenplatz" und führt im rechten Winkel weg von der Ketzergasse, hinein in die Liesinger-Flur-Gasse. Was sucht hier ein Eisenbahngleis? Was hat ein Eisenbahngleis hier verloren? Einen Güterwaggon? Voll der Neugier ob dieser zweifelhaften Existenz ändere ich meine Route und verfolge Sinn und Zweck des Gleises, das hier offenbar einer zuglosen Zukunft entgegenmorschelt.

Links und rechts vom Gleiskörper floriert das Betriebsansiedlungsgebiet. Das riesengroße Porsche-Areal, mit Schulungszentrum und Karosserieannahme, Tausende von gebrauchten Porsches stehen auf der Halde. Dann die voluminöse Skoda-Fläche. "Alle Gebrauchtwagen dieser Welt! Das jeweilige Leistungspaket für jedermann!" Schließlich folgt Citroen, mit Schulungszentrum und Gebrauchtwagenshow. Die Lagerhallen von Semperit fallen aus dem Rahmen, die werden verkauft und stehen wohl schon seit geraumer Zeit leer. Ich versuche mich auf dem Gleis als Schwellenhüpfer, mache nicht Halt bei Ögussa und nicht bei Degussa, verfolge nicht ein Seitengleis, das in irgendeiner riesigen Lagerhalle verschwindet, und drehe mich um 45 Grad in die Perfektastraße hinein. Auf einmal die tragische Erkenntnis: Das Gleis hört auf! So plötzlich wie es beim Würstelstand begann, hört es hier auf. Die Schienen widersprechen jeder Ordnung und Logik, als ungetümes Überbleibsel einer noch nicht vernetzten und daher nicht deutbaren Welt behaupten sie eine rätselhafte Existenz. Das Gleis hört auf und ich lande in gerader Linie in einem "Gartenmöbelflohmarkt", wo ich Restposten und Einzelstücke günstig erwerben könnte.

Lieber aber bewege ich mich zur Endstation der Linie U6, wo ich schon von weitem die baulichen Exponate der Strahlkraft der Metro gewahre: Die riesengroße Wohnsiedlung namens "Wiener Flur". Ich tangiere die Siedlung am geräumigen, vorerst gar nicht absehbaren Rand und erreiche den Vorplatz bei der Endstation. Hinter zwei Ecken verborgen eine Konditorei. Wer hier eintritt, ist selber schuld. Kein Tageslicht hellt die Räume auf, die Theke ist eingeklemmt in toten Winkeln und nicht einsichtigen Ecken: Eine hermetisch abgeriegelte Welt, die den potenziellen Kaffeetrinker das Fürchten lehrt.

Stante pede renne ich auf dem Eisenbahngleis wieder zurück und trete ein in das verbliebene Refugium: in den Würstelstand "Pausenplatz". Tatsächlich bildet der Raum mit den zwei, drei Tischen einen Rückhalt in der anonymen Welt. In der Mittagspause kommen die Mitarbeiter der umliegenden Betriebe, sitzen zusammen auf engstem Raum, trinken Kaffee oder Bier und ziehen "die Heiße" der Betriebsküche vor. Der Wirt ist geschickt, er verkauft Tagesteller um 4,20 Euro, die er auch zum Mitnehmen in Plastikschüsseln verpackt. Eine Dame mit Pelz bestellt gleich fünf Tagesteller, die der Wirt zum Auto der Dame bringt.

Die Brunner Straße hinein

Ich freue mich wieder meines peripheres Lebens und wandere munter in die Brunner Straße hinein, die auf das nahe "Brunn am Gebirge" verweist. Dieser Ort hat mich schon immer der Ratlosigkeit überlassen, da der Anninger, als nächster erkennbarer Berg, doch eine halbe Ewigkeit entfernt ist.

Zurück die Brunner Straße in Richtung Zentrum. Jetzt habe ich die Bescherung: Aus einem Lagerareal zur Rechten taucht ein Gleis auf. Da! Es ist jenes Gleis, dessen weiteren Verlauf ich nach der Konstatierung "Verschwindet in einer Lagerhalle" nicht weiter verfolgt habe! Das Gleis hat also kein Eigenleben, sondern ist vernetzt, womöglich angeschlossen an die gar nicht mehr ferne Südbahn!

Eine neue Herausforderung wartet meiner und ich folge dem Gleis in die Siebenhirtenstraße. Der nächste, diesmal fast abrupte Szenenwechsel. Die riesigen Betriebsflächen hören auf, auf der Straße fahren keine Autos mehr, alte ebenerdige Häuser tauchen am Straßenrand auf, die ich dem nicht mehr fernen Ort Liesing zuordne. Die ersten Häuser sind menschenleer. Allerdings könnte in den Hinterhöfen noch gearbeitet werden, da ich abgestelltes Klumpert sowie das Schild "Karosserie Spengler Metallbau" sichte.

Ein disparates Durcheinander. Die Straße mit Pflastersteinen, dazwischen gelegentlich Asphalt. Mittendrin ein nicht mehr benutztes Gleis. Die Häuserfronten sind versetzt, sie gehorchen keinem geradlinigen Konzept. Am Eck das "Gössereck" mit Extrazimmer für Feiern: Geschlossen. Das Gleis führt an einer Statue vorbei, vor der schon lange niemand gebetet hat. Maria mit Jesuskind offenbaren ihre Gnade, aber die Kerze leuchtet ihnen schon lange nicht mehr.

Da führt mich das Gleis auf eine Wiese, die zur Böschung des Liesing-Baches gehört. Ein zweites Gleis taucht auf und vereinigt sich mit meinem Gleis. Ein verschrotteter Waggon steht hier, ein "Kranschutzwagen" der Streckenleitung Wien Franz Josephs Bahnhof, von Zweige und Ästen umschlungen. Neben dem Waggon kugelt wieder Klumpert herum, ein Haufen Schotter ist aufgeschüttet, zehn Schritte vom Waggon entfernt die noch offene Tabaktrafik, der Briefkasten harrt einer brieflosen Zukunft entgegen, wer soll hier seine Briefe aufgeben? Vis-a-vis die geräumige, schon längst stillgelegte Fabrik mit unverputzten Ziegeln und einem riesigen Rauchfang, die ehemalige Eisengießerei Weiss.

Das ist die Gstettn. Auf engstem Raum machen sich Gegensätze breit, die einander jedoch nicht bekämpfen. Zwei Gehminuten von hier - schroffer kann der Gegensatz nicht sein: der Bahnsteig des modernen Bahnhofs Liesing, daneben der Lastenbahnhof. Von den baulichen Adaptierungen unberücksichtigt und den jeweiligen Modernisierungen verschont blieben der Liesingbach und mein Eisenbahngleis. Zwei übrig gebliebene Häuser stehen am Ufer des Baches, eines mit unverputzten Ziegeln. Das zweite Haus ist gelb verputzt und wirkt durch die heruntergezogenen Läden ein bisschen anonym. Hier ist nichts geordnet und geplant, nichts gegliedert und begradigt.

Gleich hinter der Liesing beginnt eine andere Welt. Beim Lastenbahnhof in der Karl-Sarg-Gasse stehen zwei moderne Wohnhäuser: Typische Neubauten, die Namen der Bewohner bleiben anonym, Nummernkombinationen entscheiden über Einlass und Draußenbleiben.

Die Straßenverbindung von der Karl-Sarg-Gasse zur Liesing heißt überraschenderweise Hilde-Spiel-Gasse. Auf einem der Straßentafel ähnlichen Schild wird erläutert: "Hilde Spiel, 1911-1990, Journalistin, Essayistin, Übersetzerin". Ich trotte auf der Straße zur Liesing zurück. Die Gasse ist etwa 100 Meter lang, für jedes Lebensjahr von Hilde Spiel könnte sich somit 1 Meter ausgehen, wenn man die Exiljahre in Großbritannien nur halb zählt. Als Gehsteigbelag dient eine Schotter-Sand-Mischung. Vielleicht ist damit der harte Weg der Autorin nachgestellt, der es in Wien nicht immer leicht gemacht wurde.

Ich stapfe durch die Hilde-Spiel-Gasse, stolpere über eine Betonschwelle und blicke wieder auf das Eisenbahngleis hinter der Liesing. Eine Diesellok kommt vom Bahnhof Liesing, sie zieht zwei Waggons. Außen an der Lok klammert sich ein Eisenbahner im gelben Overall und wackelt mit seiner Fahne. Dann fährt die Lok an der Tabaktrafik vorbei, der Fahnenwackler pfeift ein paar Mal schrill.

Zumindest mein Gleis lebt also noch.

Freitag, 02. April 2004

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