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Der harte Winter im Nordwesten Japans -einst und heute

Ständiges Zähneklappern

Von Hans H. Krüger

Als der Zug aus dem langen Grenztunnel herauskroch, lag das Schneeland vor ihm weit ausgestreckt. Die Nacht war weiß bis auf ihren Grund . . ." So beginnt die Novelle "Schneeland" von Yasunari Kawabata. Erzählt wird die unglückliche Liebesgeschichte zwischen einem zynischen Tokioter Lebemann und einer jungen Geisha. Skifahrer treten keine auf. Stattdessen berichtet der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1968 von kalter Einsamkeit, verlorenen Träumen und der Unfähigkeit zu lieben. Alles ist überdeckt von einem grauen, schneeverhangenen Himmel. Ort der Handlung ist ein namenloser Badeort in den Bergen. Was der Begriff "Schneeland" bedeutet, schreibt Kawabata nicht - weil es jedes japanische Schulkind weiß.

Für den Romancier war Schneeland wohl ein Produkt der Imagination, gleichzeitig ist es aber auch ein geografischer Standort. Es sind jene vier nordwestlichen Provinzen der Hauptinsel Honshu, die an das Japanische Meer grenzen. Sie heißen Niigata, Yamagata, Akita und Aomori. In alten Zeiten wurde die Gegend "Ura Nipon" bezeichnet - die Rückseite Japans. Der Norden Honshus gilt bis heute als Hinterhof Japans: Kaum Industrie, geringes Bruttosozialprodukt, schlechte Infrastruktur, Landflucht. Der Winter ist hier ein Tyrann, der das Leben diktiert. Anfang November fallen die ersten Schneeflocken vom Himmel. Es ist die Zeit des Wintermonsuns. Kalte Polarluft strömt vom Osten Sibiriens nach Westen. Beim Überqueren des Japanischen Meers nehmen die trockenen Winde Feuchtigkeit auf, die an der Westküste Japans als Schnee niedergehen. In den Bergen türmt sich die weiße Pracht vier, fünf Meter hoch, begräbt Straßen und Häuser, Felder und Wege.

Öffentliches Heißwasserbad

In Animaeda schneit es schon seit Tagen. Am frühen Nachmittag werden bereits die Peitschenlampen eingeschaltet. Jeden Morgen schaufeln die Männer Schnee von den Dächern ihrer Häuser. Animaeda liegt in der Provinz Akita, hat 8.000 Einwohner und besteht aus einem Gewirr zweistöckiger Holz- und Waschbetonhäuser. Die meisten Menschen hier leben von der Land- und Forstwirtschaft. Es gibt etwas Kleinindustrie. In den Bergen hausen noch Braunbären (Selenartos thibetanos japonicus). Wir sind zu Gast bei Herrn und Frau Syoji. Er ist pensionierter Briefträger, der weniger den Tod fürchtet als die Untätigkeit des Alters. Herr Syoji ist Ende 70 - und hat noch nie Urlaub gemacht. Seine Frau hat Lachfalten und die rosigen Wangen eines jungen Mädchens. Ihr zweistöckiges Holzhaus steht auf einer Anhöhe am Dorfrand. Drinnen hört man ständig Zähneklappern. Wer sich aufwärmen will, geht ins öffentliche Heißwasserbad, einen modernen Flachbau an der Biegung des Ani River. Täglich geöffnet, Eintritt umgerechnet 1,50 Euro.

Wenn sich die Bauern im Umkleideraum ausziehen, erinnerte das an das Schälen einer Zwiebel: Winterjacke, Pullover, Hose, Baumwolloberhemd, Nierenschutz, langärmliges Unterhemd, zwei Paar Wollsocken, lange Unterhose, kurze Unterhose. Aus den Wänden ragen Heiß- und Kaltwasserhähne; die Männer mischen das Wasser in Plastikschüsseln und schütten es sich über den Körper. Erst nachdem man sich gewaschen hat, gleitet man in das großes Becken, das von einer heißen Quelle gespeist wird.

Die drei Damen heißen Sato, Shoshi und Chiyo. Sie sind Bäuerinnen, tragen weite Hosen, dunkle Wattejacken, darüber Schürzen, und sind fast 80 Jahre alt. Sie sitzen im Wohnzimmer der Familie Syoji. Die alten Damen fragen den Gast, was er wissen will. "Alles", sagt er. Da lachen sie. Der Gast fügt hinzu: "Wie es früher war - das Leben, die Menschen, der Winter." Und sie beginnen zu erzählen . . .

Bevor der große Krieg ausbrach, der die japanische Gesellschaft durchbrauste wie ein gewaltiger Sturm, war das Leben ein langer, ruhiger Fluss. Jedermann hatte seinen Platz. Es gab viele Arme und einige Reiche, aber das war Karma. Wer zu jener Zeit in Animaeda lebte, vergaß, dass noch andere Orte existierten. Alles spielte sich in einem Radius von 20 Kilometern ab. Das Dorf war Zentrum der Welt, Mittelpunkt des Lebens. In Animaeda waren 90 Prozent der Bevölkerung Pächter. Sie bearbeiteten den Boden einiger weniger Großgrundbesitzer und bezahlten in Naturalien: 30 Prozent der Ernte. Sie hielten Hühner und Enten, Schweine und Ziegen. Nur wenige Bauern besaßen Kühe und Pferde. Angebaut wurden Nassreis, Hirse, Buchweizen und Hanf, auch Gemüse wie Süßkartoffeln, Rettich, chinesischer Kohl, Gurken. Manche Familien verdienten sich ein Zubrot mit der Seidenraupenzucht.

Die wichtigste Feldfrucht war Reis. In den alten Zeiten wurde Reis als Zahlungsmittel und Maß der Steuerabgabe benutzt. Lehnherren entlohnten ihre Samurais mit einer genau festgelegten Menge Reis. Im Japanischen heißt Reis "gohan" - es ist das Synonym für eine Mahlzeit. Gepflanzt wurde der Reis am 15. Juni. Alle Arbeiten wurden mit der Hand getan. Blätter, Gräser, Mist und menschlicher Kot dienten als Dünger. Felder, die hoch oben in den Bergen lagen, bedeckte selbst im Juni noch eine harte Schneeschicht. Mit großen Handsägen wurden Schneeblöcke herausgeschnitten, die man neben den Feldern auftürmte. Die Männer brachten die Setzlinge zu den gefluteten Feldern, Frauen und Mädchen setzten die Pflanzen. Sie arbeiteten barfuß, ihre Kleider bis zu den Hüften hochgebunden.

Geerntet wurde im Oktober. Gedroschener Reis wurde nicht in Säcken, sondern in Behältern aus geflochtenem Stroh verpackt. Ein Ballen enthielt 60 Kilogramm Reis. In guten Jahren erbrachte ein Feld von 993 Quadratmetern 160 bis 200 Kilogramm Reis. Ein Erwachsener verbrauchte pro Jahr etwa 180 Kilo Reis, Frauen und Kinder die Hälfte. Arme Pächterfamilien aßen eine Mischung aus Reis und Hirse. Auf dem Land hatte Armut nichts mit Romantik zu tun. Mittellosigkeit und Not bestimmten das Leben. Jede Missernte bedrohte die Existenz. Um nicht zu verhungern, waren noch um die vorletzte Jahrhundertwende Familien gezwungen, ihre Töchter in die Prostitution zu schicken. Verhütungsmittel waren unbekannt, Abtreibung existierte nicht. Im Durchschnitt hatte eine Familie sieben Kinder. Drei Generationen lebten unter einem Dach. Im Sommer standen die Frauen bereits vor vier Uhr morgens auf. Sie versorgten das Vieh, holten Wasser und Brennholz. Aufgabe der Großmutter war es, den Reis zu kochen. Die Männer zogen im Zwielicht des neuen Tages zur Arbeit auf die Felder. Gegen sieben Uhr kehrten sie zum Frühstück zurück. Danach arbeiteten sie weiter bis zur Dunkelheit. Die Kinder, die von Montag bis Samstag in die Schule gingen, mussten am Sonntag in den Wald, um Brennholz zu sammeln. Nur am Markttag ruhte die Arbeit. In Animaeda war an jedem 3., 13. und 23. des Monats Markt.

Ende Oktober begannen die Vorbereitungen für den Winter. Wohnhäuser wurden mit schräg gestellten Baumstämmen umschalt, damit der Schnee nicht Wände und Fenster eindrücken konnte. Dachfirste wurden abgestützt, Hauspfosten und Dachbalken verstärkt. Sträucher und Kronen der Gartenbäume wurden entweder zusammengebogen oder hochgebunden, Pflanzen mit Strohmatten bedeckt. Gegen Nachtfröste erhielten die Stämme der Bäume ein Schutzschild aus Reisstroh. Es gab verschiedene Methoden, den Wintervorrat an Gemüse und Früchten zuzubereiten. Einkochen war nicht bekannt. Stattdessen wurden bestimmte Früchte im Sommer in der Sonne getrocknet. Gurken wurden in Holzbottichen zusammen mit Wasser und Salz eingelegt.

Da es wegen der häufigen Erdbeben keine Keller gab, musste ein anderer Vorratsraum geschaffen werden. Neben den Häusern wurden Gruben ausgehoben. Sie waren 80 Zentimeter tief und hatten einen Durchmesser von 60 Zentimetern. In solchen Erdlöchern wurden unter anderem Kartoffeln und Kohl gelagert: eine Lage Kohl, eine Lage Erde, eine Lage Kohl, usw. Darüber wurde ein Strohhut gestülpt. So vorbereitet, erwarteten die Menschen den Schnee. Manchmal begann es bereits im Oktober zu schneien, normalerweise jedoch erst im November. Häufig schneite es tagelang. Gleich Bären in Höhlen vergruben sich die Menschen in ihren dunklen Häusern. Alle scharten sich um die einzige offene Feuerstelle in der Küche.

Was bedeutete Glück für sie? Glück waren eine gute Ernte, die Dorffeste, ein Gang über den Markt, ein voller Magen, ein neuer Kimono zum Geburtstag. Frau Sato erzählt: "Wir waren zu Hause sechs Kinder, und das Geld reichte weder vorne noch hinten. Wir haben von der Hand in den Mund gelebt. Wir mussten auf Kredit einkaufen oder Dinge von den Nachbarn ausleihen. Als ich erwachsen war, durfte ich manchmal den Göttern eine kleine Flasche Sake opfern. Ich bin zum Schrein gegangen und habe die Götter um Hilfe angefleht." Sie klatscht zweimal in die Hände, verbeugt sich tief. "Dann durfte ich den Sake trinken. Das war etwas Besonderes."

Der Kaiser im Rundfunk

Frau Syoji sagt: "Seltsam, erst nachdem wir den Krieg verloren haben, hat sich unser Leben verbessert." Es war der Mittag des 15. August 1945, als der Kaiser im Rundfunk die Kapitulation Japans mitteilte. Er benutzte archaische Sprachwendungen, die nur wenige seiner Untertanen verstanden. Seine hohe Stimme, auf eine Schallplatte gepresst und abgespielt (die Rede war am Vortag aufgenommen worden), unterbrach die Arbeit im ganzen Land: ". . . wie anders vermögen wir die Millionen unserer Untertanen zu retten oder uns vor den geheiligten Geistern unserer Vorfahren zu rechtfertigen?" - "Bis dahin hatte niemand von uns geglaubt, dass wir den Krieg verlieren würden", sagt Frau Chiyo. "Als wir die Stimme des Kaisers hörten, waren wir wie vor den Kopf gestoßen. Zwei, drei Stunden haben wir dagesessen, nichts getan, nicht gewusst, was zu tun ist." Kein Wunder, Gott hatte zum ersten Mal zu ihnen gesprochen und ihnen klar gemacht, dass er nur ein Sterblicher war.

Bevor die alten Frauen aufbrechen, beschenkt sie Frau Syoji mit kalifornischen Orangen. Die drei knoten ihre Kopftücher fest, legen warme Schultertücher um und schlüpfen in ihre Stiefel. Ihre Danksagungen klingen, als hätte der fremde Besucher ihnen einen Gefallen getan - und nicht sie ihm. Dann eilen sie zu ihren Familien. Es ist spät geworden. Das Dorf ist still. Frau Syoji sagt: "So war unser Leben."

Freitag, 23. Jänner 2004

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