Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Eine literarische Reise durchs winterliche Frankreich

Der Weg, gehüllt in Schnee

Von Ingeborg Waldinger

Dann, wenn eisige Kälte alle Natur dämpft, birgt Reisen selbst im angehenden 21. Jahrhundert manch bunte List. Eine lange Arbeitstour vor mir, besteige ich den Euronight n° 262 von Wien nach Paris, besser bekannt als "Orientexpress". Das Liegewagenabteil ist überheizt, die vier Plätze sind belegt.

Der Zug fräst sich fahrplanmäßig durch verschneites Land. Ladies and Gentlemen, we shortly will be arriving at Attnang-Puchheim. Mit anderen Worten: noch ein weiter Weg bis Paris. Draußen ein einsames Auto, dessen Scheinwerfer die agrarische Finsternis abtasten. Kurz ist ein Vierkanthof zu sehen; er versinkt im Schneefeld wie Kirschen im Backteig. Irgendwo dahinter liegt Ohlsdorf mit seinem abgeschiedenen "Oberhof", den Thomas Bernhard zu seinem Schreibkerker erkor. Ein Domizil für Hartgesottene: "Setzen Sie den Handke einmal drei Tage hierher, der würde Ihnen schreiend davonrennen zu seiner Tochter", scherzte der Alpen-Beckett.

Mein Gegenüber, eine Französin mittleren Alters, komponiert Filmmusik. Sie nehme diesen Zug, um Eindrücke für ihre nächste Arbeit zu sammeln. Der Name des Zuges? Der locke auf falsche cineastische Fährten. Wie tröstlich. Zwei kommunikative Söhne Chinas haben sich auf den oberen Liegeplätzen eingerichtet. Mit fernöstlicher Freundlichkeit, einem elektronischen Translater und brüchigem Englisch deuten sie Exportgeschäfte an, die sie nach Paris führten. Der eine zeigt sein abgegriffenes Taschenbuch vor - nächtliche Arbeitslektüre, will er uns weismachen. Das Coverfoto signalisiert Anregungen anderer Art.

Was will ich unter den

Schläfern säumen?

Ich stehle mich aus dem Abteil, denke an Léon. Léon reiste oft per Bahn. Beruflich. Von Paris nach Rom. Das eine Mal, als ihn sogar nichts Geschäftliches in die Heilige Stadt führte, galt seine Aufmerksamkeit den Mitreisenden und jedem noch so kleinen Detail: dem Namensschild auf einem Koffer, der vernickelten Stange des Gepäcknetzes, den Zwiebackkrümeln und Schuhabdrücken auf dem Fußboden. Den Personen dichtete er Namen und Lebensgeschichten an. Der Blick auf das Unverbindliche, Fremde schärfte seine Sinne. Léons Reise ist Fiktion, nachzulesen in "La Modification" von Michel Butor.

Ich begebe mich zurück an meinen Liegeplatz. Das herabgezogene Rollo schnalzt trotzig wieder hoch. Wir kleben es mit Wundpflaster fest, Morpheus kann kommen. Irgendwann das vertraute Rattern des Zuges auf der Rheinbrücke. Drüben sehen die Häuser anders aus: Frankreich. Oder doch nicht ganz? Selbst im heutigen Elsass fallen die Antworten zu dieser Frage ambivalent aus.

Die Schneedecke ist dünner geworden. Der Tag bricht an. Draußen am Gang, zwischen Nancy und Paris, diskutieren zwei morgenfrische Studenten das "nomadische" Denken der experimentellen Philosophie, dann die digitalen und amourösen Erfahrungen des letzten Semesters. Keine Szene mit Suspense, doch die Filmmusikerin macht lächelnd Notizen. Pünktlich fährt der "Orientexpress" neben einstöckigen Vorortezügen im Zielbahnhof Paris-Est ein.

Mein schlichtes Stammhotel befindet sich in einer ruhigen Seitengasse zur Rue de Lyon. Wie immer erweist sich der Gepäcktransport in der abenteuerlichen Liftkabine als Geschicklichkeitstraining. Der Patron des nahen Bistros serviert mir zu kaltem Imbiss die heißesten Neuigkeiten aus dem Viertel. Der fahle Winterhimmel dämpft das weißliche Grau der Pariser "Lichtfängerfassaden": Paul Nizon konnte kein treffenderes Wort ersinnen.

Es folgen drei Tage hektischen Getriebes, dichter Termine, dann geht es weiter nach Bordeaux. Die Taxifahrt zum Bahnhof Montparnasse ist kurzweilig, eine Diskussion zum Thema "staatliche Kulturförderung" im Preis inbegriffen.

Die folgenden Stunden im eng bestuhlten, dennoch komfortablen TGV vergehen rasch. Schalldämmung und Ventilation machen es möglich: Man unterhält sich im Flüsterton. Die Fahrzeuge auf der parallel führenden Autobahn scheinen nur langsam vorwärts zu kommen. Eine Atlantikfront schiebt tiefe Wolken über das Land. Überall Pfützen, tiefe Erde. Regentropfen zerbersten am Zugfenster in flüchtigen Schraffierungen.

Saint-Pierre-des-Corps, Châtellerault, dann Poitiers. Oben die Altstadt, unten der hochwassergefährdete Bahnhof. Vom Zug aus sind Teile der alten Stadtmauer und Befestigungstürme zu sehen. Karl Martell siegte hier 732 über die Araber, rettete das Abendland. Allseits bekannt. 600 Jahre später siegen auf dem stadtnahen Feld Maupertuis die Engländer über die Franzosen, kassieren deren König Jean le Bon ein. Schon weniger bekannt. Heute ist Poitiers dank seines "Futuroscope" über die Grenzen Frankreichs hinaus ein Begriff. In letzter Minute hievt ein maghrebinischer Musiker seine Instrumente in den Zug. Abfahrt. Auf einer Vorstadtkneipe prangt die Aufschrift "BAR LA RESISTANCE". Ein paar Häuser weiter balanciert ein feister Malermeister gelbe Kübel auf eine Leiter. Alltag eben, ". . . in dem es nur das Naheliegende und kleine Ansprüche . . ." gibt. Vorübergleitender Alltag einer nicht alltäglichen Umgebung, wie ihn auch Gerhard Roths Aussteiger Nagl auf seiner "Winterreise" sah.

Dann Angoulême, Libourne, Bordeaux. Die Welthauptstadt des Weines bereitet einen nassen Empfang. Das Studio im Boardinghouse gibt den Blick frei auf französische Dächerromantik. Das Kippfenster, so unterrichtet ein Hinweis, möge stets geschlossen bleiben: Nur derart sei das einwandfreie Funktionieren von Heizung und Entlüftung gewährleistet. Das Fenster bleibt geschlossen, die 18 m² indes kalt. Aus den Be- und Entlüftungsschlitzen des Zimmers pfeift unaufhörlich der Wind - wie auf dem Dach, nur nicht so laut. Fortan zählt ein bei Darty erworbener Heizlüfter zu meinem Reisegepäck. Es war das letzte Exemplar. Tout-Bordeaux scheint zu frieren.

Es folgen milde Tage. Klein-Paris wirkt hell und freundlich. Seit kurzem fahren hier wieder Straßenbahnen, das vereinfacht die Durchquerung der Stadt. Die Sache mit dem Wein indes wird komplizierter. Erst die Konkurrenz aus Übersee, dann die schleppende Konjunktur, und nun auch noch die Hinterfragung des Appellationsdogmas! Noch sind die schlichteren Gewächse des Bordelais nicht zu "Vins de pays de Gironde" oder ähnlichem degradiert, aber wer weiß? Das und vieles mehr klagt mir ein Händler, dessen deutschsprachiges Werbematerial ich eben gestalte.

Muss selbst den Weg mir

weisen . . .

Nächste Station: Avignon. Ungezügelt jagt ein schneidend kalter Mistral das Rhônetal herab, tost um den Papstpalast, als hätte Tonsetzer Herbert Willi die Elemente zum Klingen gebracht. Für ein paar Tage beziehe ich eines jener Hotels, die nüchternen Standard bieten. Das Déjà-vu ist kalkuliert, den Gast erwartet ein Gleiches, wo immer er ankommt. Mac Hotel. Bisweilen befällt dich die Sehnsucht nach den atmosphärisch dichten Tapetenwundern alter französischer Gästehäuser. Telemachs Vatersuche als Wanddekor! Schon neigen wir Einheitsreisende des postmodernen Funktionalismus dazu, die Schäbigkeit einer Pension Vauquer, wie Balzac sie dem Père Goriot als Ausgedinge "verschrieb", zum wärmenden Fluidum individueller Gastlichkeit zu verklären.

Ich stürze mich in die Arbeit, suche das Spezialarchiv im altehrwürdigen Palais du Roure auf. Mein Interesse gilt unter anderem einem speziellen Aspekt pontifikaler Hofführung im alten Avignon: dem Weinkonsum kirchlicher Würdenträger. Keine trockene Lektüre. Freudig sehe ich dem provenzalischen Abendtisch entgegen, suche ein familiäres Restaurant auf. Die wohlige Atmosphäre lässt ein Gefühl von Geborgenheit keimen. Doch kaum zurück im Hotel, hat mich der Alltag der Winterreise wieder. Heizung und Warmwasser haben den Dienst eingestellt. Schon der Spanierkönig Philipp II. hatte geklagt, im Winter nirgendwo so sehr gefroren zu haben wie im Süden. Fröstelnd zieh ich wieder aus.

Der Sturm half fort mich

wehen . . .

Meine Rückreise führt via Lyon nach Strassbourg. In einem Transversalexpress geht es vorbei an schmucklosen Behausungen, Bresse-Hühnern und mäandernden Flussläufen. Ein junger Mann nimmt neben mir Platz. Auch er will in die EU-Stadt am Rhein. Andächtig führt er einen Strauß makelloser Mimosas mit sich. Die Pracht entfaltet ihr intensives Aroma. Auf knapp halber Strecke vermag der Blumenfreund seine Pein nicht länger zu unterdrücken. Ernst und höflich bittet er, die Heizung zum Wohle seiner zart besaiteten Gewächse für die restliche Fahrt (lächerliche vier Stunden) abstellen zu dürfen.

Glücklicherweise ist der Waggon kaum belegt; die delikate Fracht wird in ein kühles Nachbarabteil übersiedelt. Yves aber, der Blumenfreund, leistet mir weiter Gesellschaft. Er jobbt als Mediator durch diverse multikulturelle Vorstadtsiedlungen des südlichen Hexagon, seine "petite amie" als Tanzlehrerin in einem Pariser Hinterhofstudio. Wochenends eilt er zu ihr, mit Blumen aus dem Midi . . .

Der niedliche rosa Provinzbahnhof von Mouchard wirkt traurig. Verloren hält eine Hostess ihre Empfangstafel für die Teilnehmer am Kolloquium "Météorologie et savoir" hoch. Eine mitteljunge

Dame gesellt sich zu uns. Ihre

Reiselektüre: Tolstois "Auferstehung" auf Deutsch. Dunkles Brot mit bröckelndem Biokäse und naturtrüber Apfelsaft runden das Programm ab.

Endlich Strassbourg. Yves verabschiedet sich mit einem kleinen

Mimosenzweig. Smog, Schnee und Kälte des kontinentalen Winters lähmen die Stadt. Ich begebe

mich in ein Hotel am Bahnhofsplatz, freue mich über das Zimmer mit den Dimensionen einer Suite zum Preis einer besseren Kemenate. Ein helles, warmes Haus. Wieder einmal blicke ich über die Dächer einer Stadt. Es schlafen die Menschen in ihren Betten, / Träumen sich manches, was sie nicht haben . . . Die wuchtigen Heizkörper aus Gusseisen glühen; beinahe hätte ich mir daran die Hand verbrannt. Ich drehe die Temperatur zurück. Ein folgenschweres Missverständnis: Selbst in der Europastadt Strassbourg gehen winters nebst Lichtern so manche Heizungen aus. Doch ich beende die Reise als eine, die Blumen im Winter sah.

Der Titel, die Bildtexte, Zwischentitel und kursivierten Gedichtzeilen stammen sämtlich aus dem Liederzyklus "Die Winterreise" von Franz Schubert und Wilhelm Müller.

Freitag, 23. Jänner 2004

Aktuell

Die Mutter aller Schaffenskraft
Wenn Eros uns den Kopf verdreht – Über Wesen und Philosophie der Leidenschaft
Schokolade für die Toten
In Mexiko ist Allerseelen ein Familienfest – auch auf dem Friedhof
Gefangen im Netz der Liebe
Das Internet als Kupplerin für Wünsche aller Art – Ein Streifzug durch Online-Angebote

1 2 3

Lexikon


W

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum