Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Im Tiroler Kaisertal ist der Winter noch eine stille Zeit

Berglandschaft ohne Autos

Von Gerhard Fitzthum

Stufe für Stufe geht es hinauf. Auf der Stirn bilden sich erste Schweißperlen, die Lungen pusten weiße Fahnen in die kalte Winterluft. Unterwegs sind wir auf der Sparchen-Stiege, einem beschaulichen Waldweg, den quergelegte Rundhölzer nun zu einer breitstufigen Treppe machen. An der Felswand ist ein Handlauf aus Eisen montiert und auf der Talseite schützt ein Holzgeländer vor einem möglichen Absturz in die Klamm. Beides erweist sich als nützlich, denn der festgetretene Schnee ist stellenweise überaus glatt. Weiter oben der erste Aussichtspunkt: Kufstein liegt breit hingegossen im Inntal, beherrscht von der Silhouette der berühmten Festung. Die Geräuschkulisse ist enorm: Man hört das Tosen der Brenner-Autobahn, das dunkle Rauschen der Züge und den Verkehrs- und Baustellenlärm der Stadt. Von hier oben betrachtet, verliert das Getriebe der modernen Welt aber seine Unmittelbarkeit. Wie von einem Logenplatz blickt man auf die Komödie der Zivilisation hinunter.

Der Treppenweg endet an einem Parkplatz, auf dem Geländewagen ohne Nummernschilder stehen. Ein Rascheln verrät den Postboten, der hinter einem Auto damit beschäftigt ist, sein Moped mit einer wetterfesten Plane abzudecken. Täglich fährt er mit dem Fahrrad bis zum unteren Ende der Sparchen-Stiege, spurtet dann den Steilanstieg hinauf, steigt auf sein Moped und bringt die Post zu den weit auseinander liegenden Einzelhöfen des Kaisertals. Das Zustellen von vier bis fünf Briefen dauert so insgesamt etwa eine Stunde - wenn das Moped anspringt.

Per Seilwinde ins Hochtal

Ähnlich mühsam haben es die

30 Kaisertaler, die seit 40 Jahren in einem Naturschutzgebiet leben: Wollen sie einkaufen, so fahren sie mit ihrem Auto, das sie per Seilwinde ins Hochtal geschafft haben, bis zum Parkplatz am oberen Ende der Stiege, von wo es in einer Viertelstunde zu Fuß ins Inntal hinunter geht. Mit dem dort deponierten Zweitwagen fährt man dann ins Zentrum von Kufstein oder ins Nachbardorf Ebbs, zu dem die Höfe des Kaisertals politisch gehören. Beim Heimweg werden die Einkäufe in die Materialseilbahn verladen, die zweimal in der Woche ins Tal schwebt, anschließend geht man per pedes hinauf, packt alles ins Auto und schafft es nach Hause, wo es ein drittes Mal ausgeladen werden muss.

Die überwiegende Mehrzahl der Einheimischen ist diesen Zustand leid, verlangt seit Jahren einen befahrbaren Weg ins Inntal und hat in Sepp Astner, dem Bürgermeister von Ebbs, einen beharrlichen Mitstreiter gefunden. Er fragt sich, ob es allen Ernstes sein könne, dass "zu Beginn des dritten Jahrtausends ein ganzes Tal von der Umwelt abgeschnitten ist". Natürlich ist das übertrieben. Der Zugang ist das ganze Jahr über geöffnet und ein Fußweg mit einem Höhenunterschied von gerade einmal 120 Metern ist gemessen an den Strecken, die bis vor wenigen Jahrzehnten überall in den Alpen zu Fuß zurückgelegt werden mussten, ein Katzensprung.

Noch einmal muss eine Steilstufe überwunden werden, dann wird der Weg endlich etwas flacher. Man passiert nun die Stelle, an der einmal der Rueppenhof stand, der erste der insgesamt sechs Kaisertalhöfe. Im Unterschied zu allen anderen Anwesen war er ursprünglich kein Bauernhof, sondern eine Holzknechthütte.

Beim Veitenhof endet der Wald und wir finden uns in einer anderen, stillen Welt wieder. Der Blick fällt in die Schlucht des Kaiserbachs und auf den wilden Gegenhang, auf dem zwischen Felsabbrüchen und Geröllfeldern schütterer Nadelwald steht. Auf dieser Seite ist das Gelände kaum weniger abschüssig, so dass man die Wiesen stets nur mit der Sense mähen konnte. Doch wie die meisten der Kaisertalhöfe verwandelte sich auch der Veitenhof in ein Berggasthaus, als Anfang des 20. Jahrhunderts die Touristen in Scharen zu kommen begannen.

Jetzt ist der Betrieb geschlossen, nicht jedoch wegen schlecht gehender Geschäfte. Der Wirt ist gestorben und die Freundin des Sohnes, an den der Hof gefallen ist, hat wenig Lust, die Rolle einer Wirtsfrau am Ende der Welt zu spielen. Der junge Mann ist einer von fünf kaisertaler Pendlern. Er geht jeden Morgen die Sparchen-Stiege hinunter und abends wieder hinauf. Klar, dass er für eine schnellstmögliche Straßenanbindung ist.

Auch am einzigen Vollerwerbs-Bauernhof des Tales, dem Hinterkaiser, will man von den Behörden nicht länger vertröstet werden. Barbara Schaffer, die Bäuerin, verlangt einen Verkehrsanschluss, bei dem man "keine Kosten scheut und größtmögliche Rücksicht auf die Natur nimmt". Eine Straße wolle man gar nicht, sondern nur einen befahrbaren Weg, die kleinstmögliche, ausschließlich für die Anrainer reservierte Lösung. "Niemand will hier, dass auch die Touristen mit dem Auto ins Tal kommen", sagt die junge Frau, man würde sich ja selbst schaden. Da hat sie sicher Recht: Die Gäste kommen derzeit nicht mit der Picknickausrüstung im Kofferraum, sondern zu Fuß mit einem kleinen Rucksack. Die Einkehr erfolgt da geradezu zwangsläufig.

Pläne und ihre Gegner

Freilich dürfte es noch etwas dauern, bis dieser Wunsch in Erfüllung geht. Denn mit dem Österreichischen Alpenverein (OeAV), dem Deutschen Alpenverein (DAV) und der Stadt Kufstein gab es bisher mächtige Gegner. Fünf Jahrzehnte lang ist die Straßenanbindung nun schon im Gespräch, immer wieder wurden neue Pläne gewälzt und verworfen. Zuletzt

reichte die von Ebbs unterstützte Weginteressentschaft ein Gesuch für einen Anschluss über einen

700 Meter langen Tunnel beim Land Tirol ein. Die darauf-

hin in Auftrag gegebenen Naturschutz-Gutachten fielen jedoch

so vernichtend aus, dass man den Antrag wieder zurückzog. Bei einem positiven Entscheid wäre ohnehin ein jahrelanger Rechtsstreit mit dem größten Grundbesitzer im Kaisertal, der Stadt Kufstein, zu erwarten gewesen. Dort erkennt man den Wunsch der Talbewohner nach einer Infrastrukturverbesserung zwar an, favorisierte bisher aber die Lösung durch eine moderne Seilbahn. Bei der zuletzt diskutierten Variante könnten sogar Autos und kleine Transportfahrzeuge mittels Selbstbedienungstechnik in siebeneinhalb Minuten nach oben geschafft werden. Die geschätzten Kosten von zirka 1,5 Millionen Euro wären nur halb so hoch wie die einer Straße.

Auch die Alpenvereine und die Kufsteiner Bürger sind für eine Anrainer-Seilbahn. Vier von fünf Einwohnern, schätzt Norbert Wolf, der Landesnaturschutzreferent des österreichischen Alpenvereins, wollen keine Straße ins Kaisertal. Sie möchten es als stadtnahe Nische der Ruhe erhalten und befürchten nach dem Bau einer Anliegerstraße mit Sperrschranke eine "wundersame Schlüsselvermehrung". Nahezu 200 Berechtigungen würden in der Tat erteilt werden müssen - an Grundbesitzer, Jagdpächter, Lieferanten, Behördenvertreter, Post- und Taxidienste sowie Holzabfuhrfirmen. Es sei ja völlig absurd, den ins Tal gerufenen Handwerker nach dem Bau einer Straße weiterhin zu Fuß gehen zu lassen und sein Werkzeug mit der

alten Materialseilbahn heraufzuschaffen. Der Ebbser Bürgermeister würde mit seinen Jagdgästen irgendwann genauso hinauffahren wie der Großindustrielle, der Jagdpächter des Kaisertals ist. Auch würde es wohl plötzlich viele Wanderer mit verknackstem Fuß geben, die sich von ihrem Wirt aus dem Tal fahren ließen.

Diese Bedenken sind zweifellos berechtigt. Eine vorhandene Straße nicht zu nutzen gehört zu den schwierigsten Verzichten einer auf freie Mobilität gegründeten Gesellschaft. Außerdem könnte sich die Erhaltung einer steilen und

lawinengefährdeten Bergstraße schnell als unbezahlbar erweisen, was die Kaisertaler früher oder später dazu zwingen könnte, sie für Touristen zu öffnen, um die Kosten über Mautgebühren herein zu bringen. Geteert würde sie wohl ohnehin - aus Gründen der langfristigen Kostenersparnis und der geistigen Schwerkraft der Straßenbauämter. Wie es scheint, teilen auch die Gäste des Kaisertals derartige Befürchtungen. Bei einer Umfrage auf der Vorderkaiserfelden-Hütte kündigten schon 1985 mehr als 50 Prozent der Befragten an, nach dem Bau einer Straße "nicht mehr", und ein weiteres Drittel, "weniger häufig" ins Kaisertal zu kommen.

Unerschlossenheit als Chance

Ginge es nach Franz Speer, dem Naturschutzreferenten des Deutschen Alpenvereins, sollten die Kaisertaler die derzeitige Denkpause dafür nützen, die Vor- und Nachteile einer Straßenerschließung genau abzuwägen. Dabei sollten sie sich auch des großen Kapitals besinnen, das in der Unerschlossenheit liegt, und es offensiver bewerben als bisher. Das wäre in der Tat nötig. Denn die Gastbetriebe stehen zwar allesamt gut da, leiden aber unter der fehlenden Gleichverteilung der Touristenströme. An schönen Wochenenden und in den Wandermonaten September und Oktober ist es hier "pumpvoll", wie es im Kufsteiner Fremdenverkehrsamt heißt. Während der Woche und vor allem im Winter bleiben dagegen die meisten Tische leer. Diese Asymmetrie gründet in der Tatsache, dass das wildromantische Kaisertal nicht als Ferien-, sondern als Ausflugsziel genutzt wird. Der Kaiser gilt als Hausberg der Münchner und ist im nördlichen Deutschland kaum bekannt. Die Hälfte der Ausflügler, die am Wochenende ins Tal strömen, kommen aus der bayerischen Metropole.

Das Winterloch hat natürlich auch damit zu tun, dass sich das Kaisertal wegen seiner steilen und sonnenexponierten Hänge nicht zum Skifahren eignet. Genau wie im Sommer kann man hier auch im Winter im Grunde nur wandern. Für die Gäste wird dann zwar lediglich ein Weg gespurt, aber durch das Netz der Zufahrtswege zu den weit auseinander liegenden Höfen ergeben sich wunderbare Routen, an deren Ende man fast immer einkehren kann. Der Rest der weißen Landschaft ruht dagegen ganz in sich. Mehr noch als im Sommer erscheint das Kaisertal jetzt als Antithese zur modernen Freizeitlandschaft. Ohne Straßen, klappernde Skilifte und dröhnende Schneebars ist der Winter hier noch die Jahreszeit der Stille.

Idealer Ausgangspunkt für eine winterliche Rundwanderung ist der Pfandl-Hof, eines der bekanntesten Berggasthäuser Tirols. Bereits hier öffnet sich ein faszinierendes Panorama: Man blickt in das obere Talende, das von den mächtigen Felszacken des Wilden Kaisers umstanden ist. Der Weg zum Hinterkaiserhof verläuft nun nahezu höhengleich, der Schnee knirscht unter den Sohlen, ansonsten herrscht atemberaubende Ruhe. Blickt man zurück, so liegen die Häuser von Kufstein wie eine Fata Morgana unter der Dunstglocke des Inntals. Realität hat jetzt nur noch ein romantisches Gegenbild: Die berühmte St. Antonius-Kapelle vor der weltfernen Kulisse des Wilden Kaisers.

Was den Kaisertalern als Benachteiligung erscheint, erweist sich aus touristischer Sicht also als Trumpf. In Zeiten der totalen Mobilität, in denen auch die abgelegensten Gebirgswinkel voll Autos sind, haben Täler ohne Straßenanschluss einen entscheidenden Standortvorteil, der viel besser genutzt werden könnte. Das Kaisertal hat aus dieser Tatsache aber noch kaum Kapital zu schlagen versucht. In einem Kufsteiner Hochglanzprospekt wird die weitgehende Autofreiheit nicht einmal erwähnt. Trotzdem wäre es falsch, von den Talbewohnern jenen Enthusiasmus zu erwarten, mit dem der Gast auf dieses Paradies blickt. Schließlich kommt der Rettungshubschrauber nur bei guter Sicht, wird jeder Einkauf zum unfreiwilligen Fitnesstraining und der Besuch beim Friseur zur Halbtagesreise. Um die Kaisertaler zu überzeugen, genügt die Lobpreisung des Status quo nicht.

Ein Meinungsumschwung wäre nur dann zu erwarten, wenn auch bei den touristischen Nutzern des Tals ein Umdenken stattfindet, wenn also die Freizeitgesellschaft, die sich den Luxus straßenfreier Täler leisten zu können meint, zu begreifen beginnt, dass dieser nicht zum Nulltarif zu haben ist. Statt lediglich Zeit gewinnen zu wollen, müsste sie unkonventionelle Lösungen im Dienste der Anlieger suchen und diese aktiv umsetzen. Dahin freilich scheint der Weg im Kaisergebirge noch weit. Zurzeit jedenfalls müssen die Gastwirte jährlich noch 400 bis 500 Euro für die Nutzung des Lastenaufzugs an die Stadt Kufstein zahlen. Und auch der finanzstarke DAV ist trotz seiner kritischen Beschäftigung mit dem Kaisertaler Verkehrsproblem noch nicht auf die Idee gekommen, Geld für die befürwortete Seilbahn zu sammeln. All das dürfte die Bergler in der vertrauten Annahme bestärken, dass sie sich wieder einmal Interessen fügen sollen, die von Außen an sie herangetragen werden.

Tourismusverband Kufstein, 6330 Kufstein; Tel. 0 53 72-622 07, Fax -614 55

http:// http://www.kufstein.at ; e-mail: kufstein@netway.at

Tourismusverband Ebbs, 6341 Ebbs; Tel. 0 53 73-423 26, Fax -429 60

http://www.ebbs.at

Freitag, 23. Jänner 2004

Aktuell

Die Mutter aller Schaffenskraft
Wenn Eros uns den Kopf verdreht – Über Wesen und Philosophie der Leidenschaft
Schokolade für die Toten
In Mexiko ist Allerseelen ein Familienfest – auch auf dem Friedhof
Gefangen im Netz der Liebe
Das Internet als Kupplerin für Wünsche aller Art – Ein Streifzug durch Online-Angebote

1 2 3

Lexikon


W

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum