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Die Weihnachtskrippen der Provence sind reich bevölkert

"Kleine Heilige" in großer Zahl

Von Thomas Veser

Morgens kommt der eingefleischte Nachtschwärmer Barthélemy nur schwer aus den Federn. "Bartomiou", wie die Mitmenschen den chaotischen Pistazienverkäufer liebevoll nennen, erscheint stets im allerletzten Moment und natürlich stolpert er selbst bei der Geburt Jesu als Nachzügler atemlos in den Stall. Auf dem Kopf noch immer die Nachthaube, fand der Jüngling auch keine Zeit, seine rotweißen Ringelstrümpfe hochzuziehen. Bartomiou hat seine Hosenträger nicht richtig befestigt, und so rutschen dem notorischen Schürzenjäger zur allgemeinen Belustigung schließlich noch die weiten Beinkleider hinunter.

Als farbig bemalte Tonfigur kaum fingergroß, gehört Barthélemy zur Heerschar jener Miniaturbesucher, die Jahr für Jahr die traditionelle Weihnachtskrippe der Provence bevölkern. "Santons" heißen die aus Ton gebrannten und bemalten Vertreter sämtlicher Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten. Sie entstehen in rund 100 Ateliers im Zentrum der Hafenstadt Marseille, mit ca. 900.000 Einwohnern Frankreichs zweitgrößte Stadt.

"Kleine Heilige", so die Übersetzung des provenzalischen Begriffes "Santouns", werden das ganze Jahr über in kleinen Werkstätten angefertigt, die meisten davon liegen nahe des alten Hafens im Quartier "Le Panier". Es wird seit einigen Jahren restauriert und entwickelt sich allmählich zu einem geschätzten Wohngebiet.

Familienbetriebe

Dort wirkt auch der 44-jährige Jacques Flore, den Paris vor zwei Jahren zum "Besten Kunsthandwerker Frankreichs" erkoren hat. Wenn seine Jahresproduktion abgeschlossen ist, begibt er sich wie alle anderen Santonniers an das obere Ende der Cannebière, wie Marseilles elegantester Boulevard heißt. Dort findet von der Vorweihnachtszeit bis Anfang Jänner Südfrankreichs größter und ältester Santons-Markt statt. Aus aller Welt pilgern Liebhaber nach Marseille, um ihr Figuren-Repertoire zu ergänzen.

Nur selten beschäftigen die Marseiller Santons-Werkstätten mehr als eine Handvoll Angestellter; meistens handelt es sich um Familienbetriebe, deren Besitzer die Arbeit überwiegend alleine bewältigt. So auch Jacques Flore, der seine Herkunft durch den unverwechselbaren Akzent der Hafenstadt hervorhebt. Inzwischen weiß der ehemalige Zahnprothesentechniker, wie viele Krippenfiguren er pro Jahr absetzen kann, im vergangenen Jahr waren es 20.000 Santons. Sein Job kann sogar in Marseille, das seit Jahrzehnten unter hoher Arbeitslosigkeit leidet, als krisensicher betrachtet werden.

Die frühesten Vorläufer der Santons, die genau genommen erst Anfang des 19. Jahrhunderts in Erscheinung traten, gehen auf die Gründung Marseilles als griechische Kolonie zurück. Schon vor 2.600 Jahren gab man den Verstorbenen für ihre Reise ins Jenseits bemalte Figuren mit ins Grab. Und auch die Römer, die bekanntlich oft die Bräuche der Eroberten übernahmen, hielten daran fest.

Da es der Kirche nicht gelang, den Schutzbefohlenen diese archaische Praxis auszureden, musste man sie wohl oder übel übernehmen und sie unter christlichen Vorzeichen weiterführen.

An einem in Rom aufbewahrten Sarkophag des 4. nachchristlichen Jahrhunderts hatten provenzalische Bildhauer ein Relief mit einer frühen Krippendarstellung geschaffen. Und kein Geringerer als Franz von Assisi, dessen Mutter aus der Provence stammte, stellte 1223 mit dem Segen des Heiligen Stuhles die erste Weihnachtskrippe mit Figuren zusammen.

Große Kirchenkrippen waren im 18. Jahrhundert fester Bestandteil der Marseiller Tradition und auch in den eigenen vier Wänden bauten sich die Bewohner der Hafenstadt gerne eigene Miniaturkrippen, wobei die vergänglichen Santons vorwiegend aus Wachs, Holz, Gips, bisweilen sogar aus Brotteigklumpen angefertigt wurden.

Als die Revolutionskomitees auch in Marseille Gotteshäuser schänden und zerstören ließen, untersagten sie Mitternachtsmette und Kirchenkrippen. Das Verdikt schreckte die eigensinnigen Bewohner allerdings kaum ab. Kurz vor Weihnachten begab man sich in den Vorort Sainte Estaque, Standort mehrerer Ziegelfabriken, und besorgte sich heimlich Lehm.

Regionale Santons-Szenen

Bald besaß fast jede Familie ihre eigene Weihnachtskrippe, an der man sich erfreute, ohne direkt mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Nach der Weihnachtszeit ließ man die Figuren sicherheitshalber verschwinden, um im darauf folgenden Jahr neue anzufertigen. Wie hoch entwickelt die kleine städtische Santons-Szene damals schon war, konnten die Marseillais beim ersten öffentlichen SantonsMarkt nach dem Ende der Terrorjahre 1803 auf dem zentralen Cours Belsunce begutachten. Aber auch in den alten Provinzen Dauphiné, Roussillon und Languedoc entwickelten sich damals regionale Santons-Szenen.

Als eigentlicher Vater der Marseiller "Kleinen Heiligen" gilt Louis Lagnel, der 1798 eine neue Technik zur Massenherstellung von Santons ersonnen hatte. Lagnel schuf ein Modell aus Lehm, ließ es trocknen und fertigte dann eine Gipsform, die aus zwei Hälften bestand. Dieser Technik ist man bis heute treu geblieben und auch die von ihm geschaffenen Charaktere wurden fast unverändert übernommen.

Nach der Trocknung werden die Figuren gebrannt, später dann mit Gemäldefarbe sorgsam bemalt. Höchste Kunstfertigkeit erfordert die Gestaltung der im 19. Jahrhundert modischen Frauenkleider aus Indienne-Stoff, die Marseilles Aufstieg zum drittgrößten Hafen Europas begründeten. Erst dann darf die Krippenfigur offiziell "Santon" genannt werden.

Lagnels Erfindung, dank der die Figuren beliebig vervielfältigt werden konnten, machte sich nur deshalb bezahlt, weil sich die Vertreter von Berufen, deren Ansehen durch die Revolution gestiegen war, die Kunstwerke leisten konnten. Bäcker, Metzger und Zimmerleute erklärten sich bereit, nicht nur eine einzelne Figur in ihrer Berufskleidung zu erstehen, sondern gleich drei Dutzend. Und damit lohnte sich Lagnels Aufwand.

Eine Figur stellten sie in ihre Krippe, die übrigen tauschten sie mit anderen Handwerksmeistern aus, und so verteilten sich die einzelnen Sujets über die ganze Stadt. Wie sie vor der Krippe Jesu anzuordnen waren, stand seit 1844 fest: Damals veröffentlichte Antoine Maurel die bekannteste auf Provenzalisch abgefasste "Pastorale" (Schäferstück), deren festgelegte Reihenfolge auf die Kleinkrippen übertragen wurde.

Schon damals schufen die Santonniers Dutzende von Motiven mit Berufskleidern und Festtagstrachten, wie sie zwischen 1820 und 1860 auch im wirklichen Leben der Provence getragen wurden. Hinzu kamen literarische Gestalten, wie Frédéric Mistrals "Mireille" und Alphonse Daudets "Belle Arlésienne".

Krippen mit tönernen Santons-Figuren verdrängten die damals modischen mechanischen Krippen mit beweglichen Figuren und die ebenfalls beliebten Marionetten-Krippen.

Viele Maître-Santonniers haben im Laufe der Zeit mit einer gehörigen Portion Humor und Spottlust zum Wachstum dieser Miniaturgesellschaft der Provence beigetragen. So erfanden sie die schwangere Langschläferin, auf einem Fass verewigte man einen Bürgermeister im Dauerrausch und auch der wohlgenährte Müller, der es sich auf dem Boden bequem gemacht hat und andere arbeiten lässt, gesellte sich dazu.

Die gebräuchlichste Form der üblicherweise zwischen 4 und 22 Zentimeter großen Santons ist die Vollfigur aus Gips. Wesentlich mehr Aufwand ist erforderlich, wenn Arme, Hut und andere Gegenstände später angefügt werden. Mit dieser Technik, die Fingerspitzengefühl erfordert, waren nach Angaben des Santonniers André Robbes in den 1980er Jahren gerade noch eine Handvoll Marseiller Werkstätten vertraut.

Je nach Vorliebe mag man sich auch für einen "Santon d'habit" entscheiden: Bei diesen großen und kostspieligen Schöpfungen wird die Bekleidung nicht aufgemalt, sondern sie ist echt. Eingefleischte Santon-Sammler stellen die schönsten und mit größtem Aufwand verfertigten Exemplare in die vorderste Reihe, die technisch einfacheren Santons müssen sich mit hinteren Plätzen begnügen.

Obwohl der Motivkanon heutzutage weitgehend festgelegt ist, überraschen Chef-Santonniers die Öffentlichkeit ab und zu mit ungewöhnlichen Ideen: Paul Fouque schuf 1952 erstmals seinen dynamischen Schäfer, dem der berüchtigte Mistralwind aus dem Rhônetal Umhang, Schal und Hut vom Körper zu zerren scheint.

Und André Robbes präsentiert stolz seinen Jakobspilger, der zu Marseille einen nachweisbaren Bezug hat. Eine der Zugangsstraßen zum spanischen Jakobsweg führte durch Marseille, nur einen Steinwurf von Robbes' Atelier entfernt, können sich heute Pilger auf ihrem Weg nach Santiago in einem Gebäude an der Rue du Refuge einquartieren.

Verschmitzte Gesichter

Wohl beschäftigt Robbes, der sich an der Pariser Akademie für Bildende Künste schulen ließ, Angestellte; die Gesichter seines kleinen Heiligen bemalt er jedoch eigenhändig. Auch Jacques Flore sieht darin eine Möglichkeit, seine persönliche Note sichtbar zu machen: Flore, der den Santonnier weniger als Künstler denn als "engagierten und sorgfältigen Arbeiter" betrachtet, verleiht mit wohlgesetzten

Pinselstrichen dem Antlitz vorzugsweise einen leicht verschmitzten Ausdruck. "Ein trauriges Jesuskind, das muss doch nicht sein", meint er dazu mit entwaffnendem Lächeln.

Was die Besucher der Werkstätten zum Kauf bewegt, sind André Robbes' Erfahrungen nach unterschiedliche Gründe. Da gebe es vor allem einmal die "republikanisch" gesinnten Zeitgenossen, die im Santon "einen Citoyen en miniature als Verkörperung bürgerlicher Tugenden und Werte" sehen, die religiöse Bedeutung sei in den vergangenen Jahren verblasst.

Ursprünglich "stellt jeder der kleinen Heiligen ein Gebet dar", fügt Robbes hinzu. Besonders deutlich sei dies beim "Ravi", dem Erleuchteten in Christushaltung. Sein verklärter Gesichtsausdruck verdeutlicht, dass er die frohe Botschaft empfangen hat.

Aber auch die Zweifler und Skeptiker dürfen in dieser tönernen Heerschar nicht fehlen. Dazu zählt der Herbergsbesitzer (Aubergiste) und der "Pescadou", wie der sich am Boden ausstreckende Fischer auf Provenzalisch genannt wird. Kaum jemand kann heute noch die Bedeutung des "Priant" (Betenden) interpretieren: Er symbolisiert in der provenzalischen Krippengesellschaft die Verstorbenen der Familie, die ihnen auf diese Weise das Andenken bewahrt.

Freitag, 19. Dezember 2003

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