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Gründerzeitlicher Wohnbau in Ottakring und anderswo

Zinspaläste in Serie

Von Christa Veigl

SOHO in Ottakring fand im Frühsommer 2003 zum fünften Mal statt. Der Name dieses Kunstfestivals im dicht bebauten gründerzeitlichen Wohngebiet spielt auf SoHo in New York an, das Mitte des 20. Jahrhunderts einen heftigen Gentrifizierungsprozess erlebte. "Gentrifizierung" leitet sich von gentry (niederer Adel) ab und wurde zum Kürzel für soziale Verdrängungsprozesse infolge von Stadterneuerung, da im Großbritannien der 1960er Jahre Teile der gentry Träger eines solchen Prozesses waren. Das Kürzel beschreibt einen simplen Mechanismus: Erneuerte, aufgewertete Stadtviertel ziehen einkommensstärkere Schichten an. Einkommensschwächere Teile der vor dem Aufschwung im jeweiligen Stadtviertel Lebenden können sich das Wohnen in der schicken und runderneuerten Umgebung nun aber nicht mehr leisten.

Für Gentrifizierungsprozesse eigneten sich bisher besonders Stadtteile, deren Bausubstanz aus der Gründerzeit (für Wien langfristig von 1840 bis 1918 datiert) stammt. Der Komfort der dort gelegenen Wohnungen sank im Lauf der Jahrzehnte stark ab, oft waren sie als Substandard ausgewiesen. Diejenigen, die sich Neubauwohnungen leisten konnten und wollten, wanderten ab. Die frei werdenden Gründerzeitwohnungen wurden von den Haus- oder Wohnungsbesitzern an Zuwanderer vermietet. Ottakring ist hierfür eines von vielen Beispielen. Die damit gewonnene Multikulturalität und Betriebsamkeit, das Obst- und Gemüseangebot des Brunnenmarktes und türkische Restaurants schufen hier ein Klima, das viele mögen. Das gürtelnahe Ottakring besitzt in seiner verkehrsgünstigen Lage an der U6 eine weitere Annehmlichkeit. Schließlich haben das Stadterneuerungsprojekt Westgürtel (Urban Wien Gürtel Plus, 1995-2000) und seine Folgeprojekte dazu beigetragen, eine gewisse sanfte "gründerzeitliche" Stimmung zu verbreiten. Eine Fülle von temporären Ateliers und Ausstellungsräumen verdichtet im Frühsommer, wenn SOHO in Ottakring läuft, die Brunnenviertel-Atmosphäre. Ob das reicht, einen massiven Verdrängungsprozess in Gang zu setzen, darf aufgrund der speziellen lokalen Gegebenheiten bezweifelt werden. Wissen wird man es erst im Nachhinein.

Der Charme der Zinshäuser

Ein wesentlicher Atmosphäreträger gründerzeitlicher Wohnviertel, in Ottakring wie anderswo, sind die hundert und mehr Jahre alten Zinshäuser. Grund genug zu fragen, was ihren Charme ausmacht und wie sie zu dem heute eher positiven Image kamen, wo sie doch Jahrzehnte lang als Feindbild dienten. Während man sich über die quantitativ beachtliche Wohnbauleistung der Gründerzeit immer einig war, fiel die qualitative Beurteilung bis in die 1970er Jahre negativ aus. Sie orientierte sich einerseits an den veralteten Standards der Wohnungen, wie Bassena (Wasserauslauf am Gang, nicht in den Wohnungen), Lichthöfen, Gang-Küchengrundrissen usw. Andererseits trugen polemische Überzeichnungen zum negativen Image bei, als wären dunkle, feuchte Zinskasernen mit Hinterhöfen und zu 85 Prozent verbaute Parzellen die Regel. Dabei sind Zinskasernen mit zwei oder mehr (Hinter-)Höfen in Wien die Ausnahme. Und

wie viele Parzellen tatsächlich bis zum erlaubten Höchstausmaß von 85 Prozent verbaut waren, ist nicht erforscht.

Auch dann, wenn man die gründerzeitlichen Wohnumstände des überwiegenden Teils der Bevölkerung aus der sicheren historischen Distanz korrekt betrachtet, bleibt der Skandal der liberalen Wohnpolitik bestehen. Er besteht aber nicht in den aus heutiger Sicht veralteten Grundrisslösungen und Infrastrukturen, sondern in Überfüllung, Obdachlosigkeit und in den überhöhten Mieten für Klein- und Kleinstwohnungen.

Wut aufs Ornament

Zum schlechten Ruf der Gründerzeithäuser, speziell der Zinshäuser für einkommensschwächere Bevölkerungsteile, hatte auch ein an sich harmloses Phänomen beigetragen: der ornamentale Reichtum ihrer Fassaden. Das als palastartig empfundene Äußere wurde vor dem Hintergrund des zur Erbauungszeit herrschenden Wohnungselends moralisch verurteilt. Es geriet speziell in Wien zum Symbol der alten Zeit, sprich der Habsburgermonarchie und der Hausherrenmacht. Die Wut aufs Ornament am Zinshaus hielt sich bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Anlässlich der Behebung von Kriegsschäden wurden viele Gesimse, Fensterverdachungen, Girlanden, Säulen, usw. sogar auch dann abgeschlagen, wenn sie nicht oder kaum beschädigt waren. Das lässt sich mit Modernisierungseifer, Ornamentverboten verschiedenster Provenienz und dem Wunsch nach Minimierung der Erhaltungskosten nur unzureichend erklären. Inzwischen ist die Wut verflogen und man nimmt den Gründerzeitbauten ihren ornamentalen Reichtum nicht mehr übel. Weder den lange als Karneval der Stile geschmähten Kultur- und Zinspalästen der Ringstraße, noch den billigeren Zinshausvettern in Ottakring und anderswo.

Wenn das Ornament auch kein Stein des Anstoßes mehr ist, interessiert doch, warum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei dem Zweckbau Zins- bzw. Wohnhaus mehr oder weniger viel Geld in den Fassadenschmuck investiert wurde. Wo doch gründerzeitliche Hausherren nicht eben den Ruf stadtbildverschönernder Wohltäter haben. Ein von den Zeitgenossen gelegentlich vorgebrachtes Argument lautet, der Fassadenluxus solle möglichst potente Mieter anlocken. Der mittels palastartiger Fassade erweckte Anschein sozialer Gehobenheit würde der Eitelkeit der weder adeligen noch großbürgerlichen Bewohner schmeicheln. Ein Argument, dessen Gewicht von sozialgeographischen Gegebenheiten aber vermindert wird. Beispielsweise wohn(t)en weder heute noch vor hundert Jahren wirklich reiche Leute in den gründerzeitlichen Zinshäusern Ottakrings. Allerdings ist sowohl für Wien als auch für Berlin - der Zinskasernenstadt schlechthin im ausgehenden 19. Jahrhundert - das Bestreben der Hausherren dokumentiert, auch in billigeren Gegenden möglichst sozial höhere Schichten anzusprechen. Damit waren Mieter mit geregeltem Einkommen gemeint, bei denen man kaum mit Zahlungsrückständen und Ausfällen rechnen musste.

Vorbild Adelspalast

Ein architekturhistorisches Argument für das Ornament an Zinshäusern, gleichgültig für welche soziale Mieterschicht, lässt sich in der Bautradition finden. Das Zins- bzw. Mietshaus als typische Wohnform der Großstadt trat erst im

19. Jahrhundert im Zuge der Metropolenbildung neben ausdifferenzierte Bauaufgaben wie Palast

oder Kirche. Wohnhaustypen mussten erst entwickelt werden, wobei der Adelspalast als Vorbild dienen konnte. Gerade in Wien folgen

die meisten gründerzeitlichen Zinshäuser, bzw. deren Fassaden

dem sogenannten Palastschema. "Palastschema", das bedeutet in diesem Fall, dass eine Fassade in drei verschieden gewichtete Zonen unterteilt ist, wobei eine Zone

sowohl ein- als auch mehrgeschoßig sein kann. Das hier als

typisch angenommene Palastmodell besteht aus Sockelzone (mit Wirtschaftsräumen), Piano nobile bzw. Beletage (mit Repräsentations- oder Wohn- und Schlafräumen

der Besitzer) und einer darüber

liegenden Zone (Wohn- und Schlafräume oder Dienstbotenunterkünfte).

Übertragen aufs großstädtische Zinshaus ergibt das: Sockelzone mit Erdgeschoßwohnungen oder Geschäftslokalen, darüber Beletage (auch Hausherrenstock genannt, obgleich in den meisten Fällen der Hausherr nicht darin wohnte) und drittens ein Wohngeschoß oder mehrere darüber. Die Sockelzone ist oft gebändert oder mit gegossenen Bossenquadern versehen und erinnert so an die martialisch wirkende Rustika wirklicher Renaissance-Paläste. Die zweite Zone ist wie die Beletage des Adelspalastes durch besonderen Baudekor, manchmal auch durch größere Geschoßhöhe hervorgehoben. Das hier abgebildete Haus Friedmanngasse 22 in Ottakring repräsentiert beispielhaft diese dreizonige Gliederung. Es zeigt im Erdgeschoß die erwähnte Bossierung. Der erste Stock ist mittels Säulen und Hermenpilastern als Beletage hervorgehoben und bildet mit dem zweiten Stock eine Zone. Darüber liegt ein 3. Stock, dem ein Attikageschoß zugeordnet ist.

Die zeitgenössische Architekturkritik würdigte die Dreiteilung als ein Mittel, die monotone Wirkung mehrgeschoßiger Bauten zu vermeiden. Um sie zu bewerkstelligen, also die Zonen voneinander zu trennen und Geschoße zu einer Zone zusammenzufassen, werden Gesimse eingesetzt. Mit diesen Architekturgliedern verbindet die Tradition bestimmte Ornamente, die nun ebenfalls zum Einsatz kommen. Im abgebildeten Beispiel Eierstab zwischen erstem und zweitem Geschoß, ein Rosettenband zwischen drittem und viertem, Zahnschnitt beim abschließenden Hauptgesims. Neben der Zonenteilung hat der Bauschmuck die Aufgabe, die einzelnen Geschoße zu differenzieren. Das Repertoire liefert auch hier die Bautradition: Säulen und Pilaster aus den fünf Ordnungen (dorische, ionische, korinthische, toskanische, Kompositordnung) oder menschliche Figuren, die als Karyatiden, Atlanten oder Hermen die Säulen ersetzen. Rundbogige, dreieckige oder rechteckige Fensterverdachungen, Löwenköpfe, Masken, Girlanden, Putti usw.

Welches Wiener Zinshaus man auch ansieht - überall ist zu beobachten, dass offenbar kein Geschoß dem anderen gleichen durfte. Ein Prinzip, das man bis zu sechs Geschoßen gerade noch durchhalten konnte. Bei Hochhäusern wäre das vergebliche Mühe. Die maximal erlaubte Anzahl von Geschoßen im städtischen Kerngebiet war laut Wiener Bauzonenplan von 1893 fünf bzw. sechs bei unterteiltem Parterre.

Das Haus Friedmanngasse 22 (erbaut 1882) weist so wie die meisten gründerzeitlichen Häuser weit mehr an Ornamentierung auf, als für Gliederung und Differenzierung der Geschoße notwendig wäre. Das nicht weit entfernte Schwabhaus am Yppenplatz (16, Payergasse 12) ist ein Beispiel für viel sparsamere Ornamentierung. Nicht etwa, weil seine Fassade wie in vielen anderen Fällen im Zuge von Instandhaltungsarbeiten radikal vereinfacht worden wäre. Schon die Einreichpläne von 1872 zeigen im wesentlichen die heutige Fassade. Sie ist vergleichbar mit einer Gruppe von Bauten, die in Wien neben den Adelspalästen als Vorbilder für städtische Wohnhäuser zur Verfügung standen; nämlich mit den Stiftshöfen, welche die Gliederung der Fassade und Differenzierung der Etagen mit relativ wenig Schmuckaufwand bewerkstelligen: Etwa der Melker Hof, der Seitenstettner Hof oder der Schottenhof. Die beiden letzteren entwarf Josef Kornhäusel (1782 bis 1860), der im übrigen auch Zinshäuser baute, die mit weit weniger Fassadenschmuck auskamen, als die Mehrzahl der gründerzeitlichen.

Fabriksmäßige Fertigung

Der ornamentale Reichtum der gründerzeitlichen Zinshäuser kann also nicht aus dem Mangel an "einfacheren" Vorbildern als den Palastbauten erklärt werden. Aus der Bautradition lassen sich Gliederungs- und Differenzierungsschemata ableiten, nicht aber der große Aufwand, mit dem sie ausgeführt wurden. Spekulationen darüber, warum gerade die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts den ornamentalen Reichtum so sehr liebte, lassen sich viele anstellen. Etwa die, dass der Zeitgeist in Kunst wie Mode einmal mehr, einmal weniger Opulenz verlangt und das Pendel in der Gründerzeit, genauer in der Hoch- und Spätgründerzeit, in die Richtung des "mehr" ausschlug. Dass man diesem Verlangen damals massenhaft nachgeben konnte, war eine neue Dimension, die der (kunst)industriellen Entwicklung geschuldet war. In fabriksmäßiger Fertigung entstanden Säulen, Masken, Genien, Zierformen aller Art, Formate und Preisklassen. Die in Wien seit den 1860er Jahren mit der Ringstraßenverbauung - die ja die Vorlagen für das Baugeschehen in den Vorstädten lieferte - angekurbelte Bauindustrie lieferte auch die für das Massenprodukt Zinshaus geeigneten Versatzstücke. Daraus ließen sich Palastfassaden in Serie herstellen.

Freitag, 03. Oktober 2003

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