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Als der Vogt die Hüter zur Fronarbeit an den "Suonen" rief

Alte Wasserwege im Wallis

Von Thomas Veser (Text und Fotos)

Unbändig tobt der Baltschiederbach über die schroffen Felsen talwärts. Nur sehr allmählich kann sich der Gebirgsbach auf seinem Weg zum Rhônetal beruhigen, um dann immer breiter zu werden und in eleganten Windungen unter den tief herunterhängenden Ästen von Lärchen, Arven und Föhren vorbei zu ziehen. Der Bach wird auch in diesen Tagen mit Schmelzwasser aus dem Gletscher am scharf gehauenen Stockhorn und den sich zurückziehenden Schneefeldern gespeist, und in den schneefreien Lagen des Oberwalliser Bergtals offenbart sich das ganze Ausmaß der winterlichen Schäden: Die Wucht der Lawinen hat Dutzende von Bäumen wie Strohhalme geknickt. Das wird wahrlich nicht die letzte Zerstörung gewesen sein. Erdrutsche und Steinschlag formen an einigen Stellen dieser wilden Schlucht die Landschaft ständig neu.

Das Leben in den Bergen folgt Jahr um Jahr denselben Regeln. Wenn der harte Winter endlich vorüber ist und sich die abschüssigen Bergwiesen in blühende Teppiche verwandeln, kehren auch die Menschen zurück - zu Fuß, wie seit Urzeiten, denn es gibt keine Straßen in diesem zwölf Kilometer langen Tal, das seit Mitte der achtziger Jahre unter Landschaftsschutz steht. Es bleiben nur die uralten schmalen Pfade, die den Wanderer nicht selten an schwindelerregend steilen Felsabhängen vorbeiführen. Bis zum ausgehenden Mittelalter lebten die Bergbauern das ganze Jahr über im Tal, heute sind die wenigen Alphütten nur im Sommer belegt. Die ersten Besucher der Baltschiederschlucht sind keine Touristen, sondern stammen aus den zum Tal gehörenden Dörfern Baltschieder, Eggerberg, Mund und Ausserberg. Wenn sie am Spätnachmittag Bergkäse, Brot und den in hölzernen "Boutillen" abgefüllten Weißwein vom Vorjahr auspacken, haben sie schon harte Arbeit geleistet: Ehrenamtlich kümmern sich diese Frauen und Männer um den Erhalt der traditionellen Walliser Wasserleitungen, die im deutschsprachigen Kantonsteil seit dem frühen Mittelalter unter der Bezeichnung "Suonen" und bei den Welschen als "Bisses" bekannt sind.

20.000 Kilometer Kanäle

Alte Aufzeichnungen lassen den Schluss zu, dass das Netz dieser Wasserkanäle aus Holz oder Stein im ganzen Wallis einst eine Länge von 20.000 Kilometern umfasste. Suonen oder wenigstens Spuren davon gibt es auch in den benachbarten Quertälern zwischen Rhône- und Lötschental. In der Baltschiederschlucht wurden vier der heute nicht mehr für den Trinkwassertransport benötigten Leitungen restauriert, zwei davon funktionieren sogar wieder in ihrer ganzen Länge. Entlang der Suonenpfade kann man sich den natürlichen Reichtum einer weitgehend unberührten Kulturlandschaft erschließen. Und die nach historischem Vorbild wiederhergestellten Kanalstrecken vermitteln Einblicke in eine ausgeklügelte Bewässerungstechnik, ohne die das Wallis, das neben dem Tessin zu den wärmsten Regionen der Schweiz zählt, kaum mehr als eine ausgetrocknete Ödnis mit schroffen und steilen Felswänden geblieben wäre. Denn in keinem anderen Landesteil fällt weniger Regen als im Oberwallis, wo starker Wind das wenige Wasser außerdem im Handumdrehen verdunsten lässt.

"Heilige Wasser" nannten die Walliser ihre Gebirgsbäche voller Ehrfurcht. Ihr Versiegen stürzte die Bergbewohner in Armut und trieb sie zur Auswanderung. Und die Frage, wer wie viel von dem kostbaren Nass beanspruchen durfte, lieferte immer wieder Anlässe für Streitereien vor Gericht. Angesichts dieser Umstände kann die Bedeutung der Suonen für die Menschen nicht hoch genug geschätzt werden. Als zum Beispiel ein Erdbeben 1855 die Gegend um Visp verheert hatte und die Quellen kein Wasser mehr lieferten, garantierten einzig die offenen Suonen das Überleben der Bevölkerung.

Den mittelalterlichen Menschen erschienen die Berge noch als unzugängliche, gefährliche Welt, in der auf Schritt und Tritt der Tod lauerte. Trotzdem ließen sie sich nicht davon abhalten, ihre Wasserleitungen in rauhen Gegenden wie der Baltschiederschlucht zu bauen. Je nach Geländebedingung mussten die wagemutigen Konstrukteure ihre Kanäle auf unterschiedliche Art anlegen. Beim Aufstieg zum "Niwärch", wie die im Spätmittelalter angelegte Suone am Baltschieder genannt wird, herrschen zunächst felslose und flache Abschnitte vor. Dort wurde die Erde ausgehoben und ein Kanal gegraben, an den Hängen verstärkte man die Konstruktion mit Stützmauern.

Die Suonenerbauer

Komplizierter wurde die Angelegenheit im steilen Gelände. In den Felswänden mussten die nur mit einfachen Pickeln, Hämmern und Meißeln ausgerüsteten Leitungsbauer die größten Schwierigkeiten meistern. Wo immer es nötig war, verankerten sie ausgehöhlte Tannenbaumstämme, die das Wasser aufnehmen sollten, mit Holzträgern in Wandlöchern. Oft war der Fels so abschüssig, dass von seiner höchsten Stelle aus ein mit armdicken Hanfseilen gesichertes Tragbrett langsam an die gewünschte Stelle abgesenkt werden musste. Auf diesem primitiven Gerüst standen die Suonenerbauer und meißelten über dem gähnenden Abgrund Löcher in die Wand, setzten dann den aus gebogenen Baumstammstücken gefertigten Träger ein und befestigten daran die Leitungsstücke. Gehbretter wurden lediglich mit Weidenruten fixiert. Standen riskante Arbeiten an, ging üblicherweise der Pfarrer mit, um bei Unfällen Beistand zu leisten. Häftlinge, die sich bereit erklärten, an diesen Himmelfahrtskommandos teilzunehmen, wurden nach vollbrachter Arbeit begnadigt.

Wenn keine Holzleitung gelegt werden konnte, schlug man den Kanal einfach aus dem nackten Fels heraus. Und dort, wo Steinschlag die künftige Wasserführung bedrohte, wurden die Leitungen mit soliden Steinplatten abgedeckt. Vor Wintereinbruch baute man überdies jene Abschnitte des Kanals ab, die nicht für die Trinkwassersicherung benötigt wurden, und brachte sie an lawinensichere Orte. Im Frühjahr fügte man sie wieder in das Leitungssystem ein, und zwar genau so, dass die Fließgeschwindigkeit weder zu hoch noch zu niedrig war - man fragt sich angesichts der kilometerlangen Bewässerungssysteme, wie die mittelalterlichen Baumeister so treffsicher den richtigen Neigungswinkel herausfanden. (Wäre das Gefälle zu stark gewesen, dann hätte das ausströmende Wasser die fruchtbare Erde der Bergwiesen fortgespült und damit Erosion hervorgerufen. Bei zu geringer Fließgeschwindigkeit hätten Gras und Blätter zu Wasserstauungen geführt.)

Der Baltschiederbach

Der Baltschiederbach allein, der im Winter wenig Wasser führt, versorgte die vier Suonen des Tals. Deren Eingänge waren über einen großen Holzkasten mit dem Bach verbunden. Darin staute man das Wasser so lange, bis sich der Sand abgesetzt hatte, und leitete es anschließend mittels eines Schiebers in die einzelnen Leitungen. In regelmäßigen Abständen wurden die Kanäle mit hölzernen Rechen ausgestattet, in denen sich Äste und Gras sammelten. Sie zu reinigen war Aufgabe der Wasserhüter, die von den so genannten Geteilschaften - darin hatten sich die an einer Wasserfuhre beteiligten Grundbesitzer zusammengeschlossen - bestimmt wurden. Um einen reibungslosen Wassertransport zu gewährleisten, baute man in den Kanälen Schaufelräder mit Metallhämmern ein, die auf einen harten Untergrund schlugen. So konnten die Wasserhüter je nach Schlagrhythmus bestimmen, ob ein bestimmter Abschnitt von Geröll gereinigt werden musste.

Oberster Herr aller Hüter war der Wasservogt, der im Frühling sämtliche Nutznießer des Leitungssystems zur Fronarbeit aufbot. Waren Frauen damals nur zugelassen, wenn sie keinen Mann hatten, sind die vier Gemeinden des Baltschiedertals heute froh, wenn auch sie sich ehrenamtlich an der Pflege der Suonen beteiligen. Wann die Bergwiesen und Weinberge (die es heute nicht mehr gibt) bewässert werden durften, war verbindlich festgeschrieben. So galt der Sonntag als tabu.

Der Wasservogt, der bei Streitfällen eine Schlichterrolle übernahm und Bußen eintrieb, besuchte gegen Jahresende sämtliche Haushalte der Geteilschaften, um abzurechnen. Jeder Teilhaber besaß früher ein dreikantiges Holzstück, auf dem neben seinem Hauszeichen die jeweilige Zahl der Wasserrechte eingeschnitten war. Auf diesen "Wasserrechtstiteln" wurden in altgermanischer Runenschrift auch die geleisteten Arbeitstage akribisch vermerkt.

Fortschritt und Widerstand

Als dann im 19. Jahrhundert Zement, Metall und Sprengstoff beim Bau der Wasserleitungen Verwendung fanden, stiegen zwar die Konstruktionskosten, dafür wurde der Unterhalt der Suonen deutlich billiger. Viele der alten Kanäle wurden damals modernisiert. Massive Eisenstangen dienten fortan als Träger für die blechernen Kännel, die nicht mehr mit Weidenruten, sondern mit massiven Drahtseilen befestigt wurden. Der Fortschrittsglaube duldete damals keine anderen Götter neben sich, und spätestens als einige Jahrzehnte danach Molybdänvorräte im Baltschiedertal entdeckt wurden und die Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung nährten, wollte niemand mehr etwas mit der Vergangenheit zu tun haben. Allerdings waren die geförderten Mengen dieses Kristalls, das für die Stahlveredlung verwendet wird, so gering, dass der Abbau nach dem Zweiten Weltkrieg eingestellt wurde.

Seit Anfang der 1970er Jahre wird das Wasser für die Ausserberger Haushalte und die Bergwiesen durch einen Stollen in die Gemeinde transportiert. Und damit sind die alten Wasserfuhren eigentlich überflüssig geworden. Landwirtschaft wird heute nirgends mehr betrieben, viele Einheimische widmen sich nur noch der Aufzucht von Schwarznasenschafen und -ziegen.

Schon damals jedoch hatte sich das Blatt gewendet: Die Bewohner setzten sich jetzt energisch dafür ein, das Werk ihrer Vorfahren zu erhalten. So wurden die metallenen Errungenschaften des vorigen Jahrhunderts in weiten Teilen durch die alten Holzkonstruktionen ersetzt, auch Naturrechen und Schaufelräder hat man wieder in die Kanäle eingebaut. Und als ein Zürcher Energieunternehmen die Talgemeinden 1984 für den Bau eines Kraftwerks gewinnen wollte, formierte sich heftiger Widerstand der Einheimischen.

Ein Kraftwerk, darüber waren sich die Experten von Anfang an einig, hätte im Baltschiedertal kaum abschätzbare Grundwasserprobleme heraufbeschworen; als viel unerträglicher jedoch empfanden die Menschen die Vorstellung, dass ihr geliebter Baltschiederbach in einen Druckstollen geleitet worden und von der Bildfläche verschwunden wäre.

Freitag, 25. Juli 2003

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