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Die Ozeane als Wettermacher und Schatztruhe des Lebens

Das Klima kommt aus dem Meer

Von Walter Sontag

Über 70 Prozent der Erdoberfläche werden von den Meeren bedeckt, nicht einmal ein Drittel von Land. Bei näherem Hinsehen jedoch fällt die Meer-Land-Asymmetrie noch markanter aus: Der Landanteil ist auf der Nordhalbkugel gut doppelt so groß wie auf der Südhalbkugel - für das Klima von weitreichenden Folgen. So erweist sich - für den Laien vielleicht überraschend - der Süden des blauen Planeten im Durchschnitt deutlich kühler als der Norden. Der Ozean als Wärmemaschine der irdischen Atmosphäre - das repräsentiert die objektive Seite. Doch zugleich vermessen die Weltmeere und ihre entrückten kalten Pole mythische Räume, Weiten der Verlorenheit und des Entsetzens, die aber dennoch oder gerade deshalb auf Abenteurer, von Fernweh Getriebene und existentielle Sinnsucher eine geradezu magische Anziehungskraft ausüben. Ein fulminantes Produkt dieser abgründigen Faszination ist "Moby Dick", Abenteuerroman und philosophischer Traktat in einem. Melvilles Ahab, der vom weißen Wal Herausgeforderte, wird zum rasenden Herausforderer der Natur. Im maritimen Kosmos der Verlockung und des Grauens wird der friedlose Held schließlich von dem wütenden Leviathan in die gähnenden Tiefen gerissen. Eine neuere literarische Auseinandersetzung mit diesem unwirtlichen Topos und dessen unheimlicher Faszination bietet Christoph Ransmayrs "Schrecken des Eises und der Finsternis". Exemplarisch spürt der Roman der Entdekungsgeschichte von Franz-Joseph-Land nach. Erst 1873 war eine österreichisch-ungarische Expedition auf den lebensfeindlichen, arktischen Archipel im Packeis gestoßen.

Tiefsee-Erforschung

Erst der technische Fortschritt hat es möglich gemacht, die Hochsee und die polaren Eiswüsten, an sich Todeszonen des Menschen, systematisch zu erkunden. Von wo aus früher Walfänger unter widrigen Bedingungen, womöglich unter Einsatz ihres Lebens, "so nebenbei" spärliche Kunde und Seemannsgarn über exotische Lebensräume und sagenumwobene Meeresbewohner nach Hause brachten, sind heute robuste, computerbepackte Forschungsschiffe wie die Polarstern, Sonne und Meteor unterwegs. Mit Software hochgerüstet, sammeln sie an Bord und unter Wasser detaillierte Datenketten über Stoffkreisläufe, Salzgehalt und Klima, vermitteln über Messsonden und dank modernster Hochtechnologie Einblick in die Tiefenschichten des Wassers, in Strömung und Wirbel bis in die Sedimente am Meeresgrund. Und sie hieven die lebenden Schätze der marinen Welten, Plankton, Muscheln, Krebse, Protozoen und Fische, aus der Dunkelheit an das Licht der Wissenschaft. Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg führten Tauchpioniere wie Hans Hass die Vielfalt der küstennahen warmen Riffe einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen. Erst neuerdings wurde man auf die enorme Artenfülle in den Lebensgemeinschaften der kalten und gemäßigten Meere aufmerksam. Freilich sind diese Biozönosen heutzutage durch die Nutzung und Verschmutzung der Meere besonders gefährdet.

Eine echte Sensation bahnt sich bei der Erforschung der Tiefsee an. Diese ozeanischen Katakomben, das größte zusammenhängende Ökosystem der Erde, galten ursprünglich als artenarm. Als Ende des 19. Jahrhunderts erste Anstalten getroffen wurden, das kalte, lichtlose Tiefenreich unter Wasser auf mögliches Leben abzusuchen, verhedderten sich zwar einige seltsame, teils monströs aussehende Existenzformen in den ausgeworfenen Netzen. Insgesamt jedoch war die Ausbeute dürftig. Das erschien nur zu einleuchtend. Denn welche Organismen sollten die vermeintlich lebensabweisende Leere, die unvorstellbaren atmosphärischen Bedingungen ertragen können? Im Philippinengraben, dem bis elf Kilometer hinabreichenden Schluchtsystem im Pazifik, lastet auf einem Quadratzentimeter ein Druck von mehr als einer Tonne. Und doch fristen hier zum Beispiel den Stachelhäutern aus der Nordsee verwandte Formen ihr Dasein.

In den 60er Jahren entdeckten amerikanische Meeresbiologen in Bodenproben Hunderte zumeist winzig kleiner Tierarten. Die Forscher hatten zum Auswaschen des gewonnenen Sediments engmaschige Siebe verwendet, und waren dadurch unvermutet auf eine gänzlich unbekannte Organismenwelt gestoßen. Schätzungen sprechen von 10 bis 100 Millionen verschiedener Spezies. Sollte sich dies bestätigen, ließe sich die Artenvielfalt der aquatischen Finsternis vielleicht am ehesten mit dem Formenreichtum der tropischen Korallenbänke und Regenwälder vergleichen. Noch aber liegt der Schatz ungehoben am Meeresgrund.

Enormes Nutzungspotenzial

Dabei geht es nicht allein um eine Gen-Bibliothek gewaltiger Dimension als gewissermaßen abstrakten, schöngeistigen Besitz. Vielmehr sind in den sesshaften, wühlenden, schwimmenden oder dahintreibenden Lebenstypen, ob Bakterien, Pilze, Kleinsttiere oder flächige Riesen, unzählige Funktionsweisen verwirklicht, die für Medizin und Industrie auf lange Sicht ein enormes Nutzungspotenzial bieten. Schon das Wenige, das die Wissenschaft über die Welt der Hochseebewohner bisher in Erfahrung brachte, gibt uns eine Ahnung solcher zukünftiger Möglichkeiten. Da trotzen gewisse Mikroben mit selbst erzeugten Frostschutzproteinen der Eiseskälte. Regelrechte Überlebenskünstler produzieren Eiweiße, die bei einem gigantischen Druck von 600 bar - das entspricht einer Meerestiefe von 6.000 Metern - den ordnungsgemäßen Ablauf des Stoffwechsels garantieren.

Organismen unter Wasser

Nicht nur im mikroskopischen und ohne Technik kaum zugänglichen Bereich liegt vieles im Dunkeln; auch das scheinbar Selbstverständliche und offen Sichtbare birgt Geheimnisse und lädt zu allerlei Irrtümern ein. So dürfte den wenigsten bewusst sein, dass die Vereisung von Arktis und Antarktis keineswegs selbstverständliche, unumstößliche Gegebenheiten sind. Die mächtigen polaren Eiskappen von heute zeugen einfach davon, dass wir in einer ausgeprägten Eiszeit leben. Die ersten Hinweise auf Eisbildung am Nordpol reichen lediglich drei bis 15 Millionen Jahre zurück - geologisch gesehen, ein lächerlich kurzer Augenblick.

Am Südpol lassen sich die frühesten Vereisungsspuren immerhin 40 bis 45 Millionen Jahre zurückverfolgen. Mittlerweile wissen wir, dass nicht nur die uns geläufigen Kontinente, sondern auch die Pole im Laufe der Jahrmillionen gewandert sind. So driftete ein Erdpol im frühen Erdaltertum von der Nordspitze zur Südspitze Afrikas und erst viel später zum antarktischen Kontinent, einem Landsockel etwa von der Größe Nordamerikas. Hier lagern 90 Prozent des gesamten Eises der Gegenwart, neun Prozent steuern die grönländischen Eismassen bei, lediglich ein Prozent die übrigen polaren Eiskappen und Gebirgsgletscher der Erde. Die Polgebiete speichern zusammen vier Fünftel des Süßwassers unseres Planeten.

Freilich bleibt Wandel selbst für die ozeanischen Räume die einzige Konstante: das gilt für Artenbestand, Geographie und Klima gleichermaßen. Trauriger Beleg Jahr um Jahr: Das 20 Millionen Quadratkilometer bedeckende Meereis des Südwinters schmilzt bis auf kleine Reste im antarktischen Sommer ab - das entspricht ungefähr der doppelten Fläche Europas.

Sozusagen "vor unserer Haustür" lässt sich auf engstem Raum das Beispiel einer sprunghaften Änderung im maritimen Fluidum bestaunen. Denn erst vor dreieinhalbtausend Jahren entwickelten sich auf dem Helgoländer Felssockel die spezialisierten Lebensgemeinschaften des Felswatts und der Felsklippen, eine "marine Oase" in der südöstlichen Nordsee. Zwischen Schlick und Sand wuchs dieser 40 Quadratkilometer messende Solitär in die Höhe, aufgefaltet aus uraltem Gestein. Nordisches Inlandeis, die Kräfte des Meeres und der Atmosphäre gestalteten diesen geologischen und ökologischen Sonderling, dessen sichtbare Spitze - ähnlich einem Eisberg - auf der viel breiteren untermeerischen Gesteinsformation ruht.

Zwischen den Klippen fanden Tange Halt in der tosenden See, im Schutz dieser Großalgen widerum boten sich Existenzmöglichkeiten für eine Vielzahl anderer makroskopischer Organismen. Über tausend große Tier- und Pflanzenspezies siedeln hier, eine Mannigfaltigkeit, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Gründung der "Königlichen Biologischen Anstalt auf Helgoland" lohnend erscheinen ließ. Bis heute widmet sich das Institut der Erforschung dieses speziellen Lebensraumes, der vom Rhythmus der Gezeiten geprägt ist. Hummer und Seepocken, Fische, Moostierchen und dreihundert Makroalgenarten finden rings um die Insel Unterschlupf.

Wirkung des Klimawandels

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Scheitern der Briten, die Insel mit Bomben von der Landkarte zu tilgen, kamen auf die Wissenschaftler neue Aufgaben zu: Langzeitbeobachtung, die Ermittlung übergeordneter Trends und vor allem die Erforschung der Nordsee, dieses enorm dicht genutzten Randmeers des Atlantiks. Denn durch menschliche Einwirkung, zunehmend unter dem Einfluss des Klimawandels änderte sich die Zusammensetzung der Fauna gewaltig. Die Austernbänke verschwanden, der Hummer wurde selten, Taschenkrebse traten immer zahlreicher an dessen Stelle. Fremde Spezies wanderten ein und fühlten sich unter den modernen Bedingungen wohl. So war das Oberflächenwasser vor Helgoland in den Wintern der 90er Jahre um zwei Grad Celsius wärmer als in den Jahrzehnten davor. Die Überdüngung mit Nitrat und Phosphat schritt munter voran. Ausgedehnte "Sauerstofflöcher", in denen kein Fisch zu überleben vermochte, und geschwulstverstümmelte Heringe machten Schlagzeilen.

Der Rückgang der Fangerträge im Reich des blanken Hans ist ein Faktum. Überfischung, die Verklappung von Dünnsäure und Klärschlamm im großen Stil direkt ins Meer und die Schadstoffbelastung durch die Zuflüsse, vor allem durch Elbe und Weser, setzten der einstmals fast unerschöpflich produktiven Nordsee zu. Unterdessen gehört die Verklappung in der Deutschen Bucht der Vergangenheit an, ebenso die berüchtigten Schwermetallfrachten aus Böhmen und dem deutschen Osten; Klärwerke reinigen nun die Abwässer entlang der Moldau, Elbe und Werra. Doch wirtschaftlicher Nutzungsdruck und fortwährend exzessive Stickstoffeinschwemmung gefährden das Ökosystem weiterhin.

Meeresströmungen

Der lokale und regionale Einfluss des Meeres auf das Klima ist für jedermann offenkundig; den Beitrag der Atmosphäre über Hoch- und Tiefdruckzellen im größeren Rahmen veranschaulicht täglich die Wetterkarte. Doch das eigentliche, übergeordnete Schwungrad des Klimas bilden die Ozeane. Auf der Basis eines schier unbegrenzten Wasserspeichers entfalten sie ihre umfassende, weiträumige Wirkung auf das langfristige Weltklima und die kurzlebigeren Wetterlagen. Schon wenige physikalische Kenndaten lassen den enormen Einfluss der Ozeane auf Temperatur und Niederschlag über Land erahnen. So steigt über den Meeren siebenmal mehr Wasserdampf auf, als

die Kontinente überhaupt verdunsten können. Oder: In den obersten drei Metern der Ozeane ist mehr Wärme enthalten als in der gesamten Luftsäule bis zum Ende

der Stratosphäre in 100 Kilometern

Höhe.

Die Umwälzung des Weltmeeres wird an der Oberfläche vom Wind besorgt, in den tieferen Schichten "thermohyalin" von Temperatur und Salzgehalt des Wassers. Freilich zirkulieren die Wasserschichten keineswegs nach einem einfachen Muster über dem Meeresboden, vielmehr sind die Zirkulations- und Strömungsprofile äußerst heterogen, wie die bekannten warmen und kalten Meeresströmungen bereits zeigen. Austauschvorgänge in den oberen Meeresschichten werden in Jahrzehnten gemessen, in der Tiefsee dagegen nach Jahrhunderten.

Periodische Austauschprozesse im Wasserkörper stehen neben "sprunghaften" Anomalien etwa im Salzgehalt. Auch örtliche Besonderheiten spielen eine Rolle. So ist etwa das Tiefseebecken des Nordpolarmeers vom Weltozean weitgehend isoliert: für Wasseraustausch sorgt die Framstraße, zweieinhalb Kilometer tief, vor Nordostgrönland. Ja, das Meer scheint endlos - und wo es aufhört, beginnt ein neues.

Freitag, 25. Juli 2003

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