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Die spanische Stadt Valencia weiß, wie man mit Wasser umgeht

Alte Bräuche, neue Bauten

Von Martin Arnold

Im Jahr 1957 überschwemmte der Fluss Turia die Innenstadt Valencias und richtete große Verwüstungen an. Die Behörden reagierten umgehend. Sie bauten dem Fluss ein neues Bett und lenkten ihn weit an der Stadt vorbei ins Meer. Zurück blieb verödetes Gelände, das höchstens noch von Kleingewerblern und Bauern genutzt wurde.

35 Hektar des Ödlandes wurden nun in einem städtebaulichen Befreiungsschlag in die "Ciutat de les Arts i les Ciencies", die Stadt der Künste und des Wissens, d.h. in ein zweites Stadtzentrum verwandelt. Das 400 Millionen Euro teure Projekt beinhaltet neben dem Museum der Wissenschaften und dem Kunstpalast ein Planetarium, eine offene Skulpturen- und Palmenpassage und einen Meereskunde-Park mit Aquarien, die insgesamt 42 Millionen Liter Wasser fassen. Die 500 Arten mit bald 45.000 Meeresbewohnern werden seit dem 12. Dezember 2002 an Publikum gewöhnt. Am 14. Februar war Eröffnung, doch wurde zunächst nur eine beschränkte Anzahl Besucher zugelassen, um die Tiere an den Trubel zu gewöhnen. In Zukunft werden jedoch bis zu 1.8 Millionen Besucher jährlich erwartet.

Das von dem in Mexiko lebenden spanischen Architekten Felix Candela, einem Meister gewagter Betonkonstruktionen, erbaute Ensemble besteht aus mehreren Gebäuden. Das im Park integrierte Restaurant "Submarino" erinnert mit seinem gefächerten Betondach an die architektonische Leichtigkeit der Oper von Sidney. Auf über 80.000 Quadratmetern breiten die Erbauer das Leben unter der Wasseroberfläche aus. Darunter liegen zwei Unterwassertunnel, einer ist 70 Meter lang. Die Ausstellung ist thematisch in die verschiedenen Klimatypen gegliedert, die das Leben im Meer prägen: Arktis und Antarktis, Atlantischer Ozean, tropisches Meer und mediterrane See. Das Delphinarium ist das größte Europas.

Calatravas Meisterwerk

Noch mehr als ein Jahr vor seiner Fertigstellung steht der unweit entfernt liegende "Palau de les Arts", der eine Fläche von 40.000 Quadratmeter einnimmt und eine Höhe von 75 Meter erreicht. Der Hauptsaal bietet 1.800, ein zweiter Saal 400 Besuchern Platz. Weitere 2.500 Personen können im Auditorium unter freiem Himmel, geschützt durch das muschelförmige Dach des Palastes, einer Vorführung lauschen. Valencia möchte mit diesem Kunstpalast die musikalischen Weltzentren New York, London und Paris herausfordern.

Kein Zweifel: Santiago Calatrava, der in Valencia Architektur und in Zürich Bauingenieurwesen studierte und bis heute in der Limmatstadt lebt, erweitert die Grenzen kühler Ingenieursarbeit und bewegt sich im Bereich der Kunst. Sein Vorbild ist sein Landsmann Gaudi, dessen verspielte Architektur er überzeugend mit Vorbildern der Natur verbindet. Seine Bauten erinnern an die Verästelungen eines Kohlblattes, an das Gerippe eines urzeitlichen Tieres oder die Skelette von Fischen. Ein Hauch von Gotik umgibt sein Schaffen.

Puristen ist dieser Stil zu verspielt. Dennoch stellt das bauliche Ensemble der "Ciutat de les Arts i les Ciencies" wohl den Höhepunkt von Calatravas Schaffen dar. Das Wissenschaftsmuseum, ein weißes Betonskelett, beherrscht durch seine enorme Größe die Anlage. Dort sind permanente und wechselnde Ausstellungen untergebracht, beispielsweise über die Geschichte der Telekommunikation, genetische Veränderungen und ihre Anwendung im Bereich der Ernährung oder Laserstrahlen und ihren Einsatz in der Technik. Auf besonderes Interesse stößt die Forschung, wenn sie "live" miterlebt werden kann. Etwa im Bereich der Biomechanik, der Optimierung der Bewegungsabläufe im Sport, beim Gesicht und seinen Facetten, bei Licht, Musik- und Wetterexperimenten. In der "Zone für die Kleinen" wird Kindern wissenschaftliche Forschung schmackhaft gemacht.

Von der Plattform des Wissenschaftsmuseums aus fällt der Blick über einen quadratischen Teich auf das "Hemisféric", das "Auge" mit seinem Planetarium, das sich aus dem Wasser zu erheben scheint. Im Hintergrund thront die Skulpturenpassage und am Kopfende rundet der "Palau de les Arts" das Bild ab.

Das hohe Investitionsrisiko scheint sich für Valencia bereits auszuzahlen. Die extravagante, außergewöhnlich fotogene Umgebung lockt Konzerne wie GM zur Produktpräsentation an. Allein 2001, dem Jahr der Eröffnung, wurden 107 Kongresse abgehalten. Ziel der Erbauer war es, mit der "Stadt der Kunst und der Wissenschaften" eine Zone der Freizeitgestaltung und des "intelligenten Müßigganges" zu schaffen. Sie haben dies bereits erreicht. Sechs Millionen Besucher seit der Eröffnung, sprechen für sich. Die 1,2 Kilometer lange und 200 Meter breite "Ciutat de les Arts i les Ciencies" wertet die ganze Umgebung auf. Geschäftshäuser und Hotels sind im Bau oder in Planung. Hinzu kommt in unmittelbarer Nachbarschaft der neue Justizpalast der Region Valencia.

José Manuel Aguilar, Direktor der "Stadt der Künste und Wissenschaft" ist optimistisch: "Damit wird Valencia ein Mekka der Kulturtouristen. Die ,Stadt der Künste und Wissenschaften' bildet ein Gegengewicht zu den Stätten des Massentourismus wie das nahegelegene Benidorm."

Aber nicht nur architektonische Neuigkeiten sind in Valencia beachtenswert, sondern auch eine uralte Rechtsinstitution. Wie der Bau der "Stadt der Künste und Wissenschaften" hat auch sie mit dem Wasser zu tun: Jeden Donnerstag um die Mittagszeit tagt hier das "Tribunal de las Aguas de Valencia". Seit 1.000 Jahren regelt dieses älteste Gericht der Welt Streitfragen rund ums Wasser.

Das Wassergericht

Der Guardia José Borja Pons Martínez trommelt ungeduldig mit dem Finger auf den Tisch. Vor ihm stehen zwei ältere Männer. "80 Euro Schaden - mindestens", ruft der Eine erregt. Der Andere, den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet, kneift die Lippen zusammen. Wenn er jetzt nicht nachgibt, nicht zahlt, droht . . . die Schande! Schweiß tritt dem Mann auf die Stirne. Mit Grund. Bloßgestellt vor Freunden, Bekannten, Touristen und Medien - das hat niemand gerne in einer Gegend, wo man einander kennt und Ehre noch etwas zählt. Er weiß, hier wird sein Fall anonym behandelt. Draußen aber wird er zum Gespött: Ein hoher Preis dafür, dass er versehentlich das Feld seines Nachbarn unter Wasser gesetzt hat.

Das "Tribunal de las Aguas de Valencia" würde ihn schuldig sprechen. Wie Hunderte vor ihm in der über 1.000 Jahre alten Geschichte dieses möglicherweise ältesten Gerichts der Welt, das jeden Donnerstag, punkt 12 Uhr vor der Kathedrale tagt. Unter freiem Himmel sitzen dann acht Männer in schwarzen Talaren vor dem Portal der gotischen Kirche.

Als die Mauren die Gegend mit dem Bau von Tausenden von Kilometern Wasserkanälen zum Erblühen brachten, stand hier die Moschee. Es war der Kalif Abderramán III., der für die Austarierung der Wasserwünsche und zur Regelung von Streitfragen das Wassergericht gründete. Seine Zuständigkeit wurde kaum je in Zweifel gezogen, obwohl die Gerichtssprache valencianisch und nicht spanisch ist. Dem "Ley de las Aguas", das noch keine 30 Jahre alt ist, hat es genauso als Modell gedient wie vielen Staaten Lateinamerikas.

"Ordenanzas" als Grundgesetz

Die Rechtsgrundlage des Tribunals bilden die ausführlichen Bestimmungen in den "Ordenanzas", den Anweisungen der acht Wasserbezirke mit 17.000 Hektar landwirtschaftlichen Bodens, welche dem Tribunal angehören. Das Grundproblem ist einfach: Die Region Valencia ist fruchtbar, hat aber wenig Wasser. Das zwingt die Bauern, damit haushälterisch umzugehen. Jede Gemeinde verfügt über ein ausgeklügeltes Netz von Kanälen, die zu den Äckern führen. Es gibt Hauptleitungen und Nebenarme erster und zweiter Klasse. Ein

Nebenarm bewässert manchmal

die Felder von einem Dutzend Bauern.

Wenn jetzt der Bauer, dessen Feld am nächsten zur Mutterleitung liegt, die Schleusenschieber immer offen hätte, würde das Gemüse am Ende der Leitung verdörren. Deshalb gibt es einen Turnus. Der ist in jeder Gemeinde verschieden. Er hängt auch von der Wassermenge des Flusses Turia ab. Meist dürfen die Bauern das Feld eine Stunde lang bewässern. Dann muss der Schieber geschlossen werden und der Nächste ist dran.

Die Nacht ist längst hereingebrochen. Es ist kühl um 10 Uhr abends, selbst in Valencia. Schon von weitem sind glühende Zigarettenstummel zu sehen. Einige Männer stehen im Kreis. "Ein Fluch ist das", jammert Juan Ferrer, der zuvor erregt mit seinen Kollegen über die Erfolge des FC Valencia diskutiert hat. José Ferrer hat ein junge Frau und findet es gefährlich, sie um diese Zeit ständig alleine zu Hause zu lassen. "Andere Männer sind jetzt bei ihrem Frauen. Ich aber muss aufs Feld." Ferrer ist als Nächster dran und darf eine Stunde lang Wasser in seinen Orangenhain fließen lassen. Neben ihm stehen die beiden Bauern, die im Turnus zuvor dran waren, und jener, dessen Feld soeben gewässert wird. Nächtliche Treffs unter Orangenbäumen oder im Kohlfeld - auch das gehört zum Bauernleben in Valencia.

Die Einhaltung der Vorschriften und den sorgsamen Umgang mit dem Wasser kontrollieren die Guardias. Pro Bezirk sind das mehrere Männer. Sie sind es auch, die einem Sünder die Einladung für den kommenden Donnerstag in die Hand drücken. Dann hat dieser in Valencia zu erscheinen und zwar in dem eigenen Büro, das jeder Wasserbezirk dort besitzt. Hier bietet sich ihm die letzte Chance, sich mit dem Geschädigten zu einigen. Misslingt das, muss er sich vor den Richtern den Vorwürfen des Guardia stellen. Und dem Publikum. Der Sindico seines eigenen Bezirkes tritt dann in den Ausstand. Mit sieben Richtern ist ein Mehrheitsurteil garantiert.

Schnelle Urteile

Kein Angeklagter besitzt einen Verteidiger, keine Rechtsanwälte können das Verfahren verschleppen. Die Richter urteilen innerhalb weniger Minuten. Wird dem Urteil nicht Folge geleistet, droht die Beitreibung oder ein trockener Kanal. "Die größte Strafe für mich wäre die öffentliche Bloßstellung", sagt Ramon Ramon Dasí. Der Bauer sät Melonen und hat kaum Zeit, über die tiefen Preise zu sprechen, die er für sein Gemüse auf dem Markt erzielt. Nicht die Aussicht auf die geringe Strafe, in Sous, die umgerechnet auf Euro selbst ihm nicht weh tun würde, schreckt ab, sondern die Schande. Darauf baut das alte Wasserrechtssystem von Valencia. Und es funktioniert noch immer. "Hier stehen Kläger und Angeklagte einander gegenüber. Die Konfrontation ist unmittelbar. Das Urteil ist schnell gesprochen. Man kann nicht dagegen appellieren und es ist allgemein anerkannt. Es gibt wenig perfekte Dinge auf dieser Welt. Aber dieses Gericht ghört dazu", meint der Präsident des Tribunals, der Sindico Fancisco Almenar Cubells.

Dass hier effizient gearbeitet wird, weiß auch der Mann, der als Angeklagter vor José Borja Pons Martínez steht. Er hat schon Freunde aus seinem Dorf vor der Kathedrale entdeckt. Die würden noch lange Zeit ihre Späße über ihn machen. Mit unmerklichen Kopfnicken erklärt er sich bereit, die

80 Euro plus administrative Kosten fürs überschwemmte Feld zu bezahlen. Sein Seufzer der Erleichterung ist unüberhörbar.

Freitag, 28. März 2003

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