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Die Dreifaltigkeit des Winters in Kunst und Literatur

Eis, Schnee und Frost

Von Ingeborg Waldinger

New York, im Winter des Jahres 1983. David Hammons wappnet sich gegen die Kälte des Tages. Dicker Mantel, Hut, bunte Strickfäustlinge. Alsdann reiht sich der "schwarze" Künstler unter die Straßenhändler an Harlems verschneitem Cooper-Square. Blizzard Ball Sale nennt er die kecke, Klischee-sprengende Aktion: Hammons bietet auf einem bunten Webteppich, säuberlich nach Größen sortiert, Schneebälle feil.

Das ist - naturgemäß - Schnee von gestern. Der Künstler machte sich Farbsymbolik und Flüchtigkeit des Materials zu nutze, um einerseits die Rolle der eigenen négritude im von Weißen dominierten Kunstmarkt zu persiflieren, andererseits den Ewigkeitsanspruch von Kunst ad absurdum zu führen.

Eis, Schnee und Frost, diese Dreifaltigkeit des Winters, hat in Kunst und Literatur seit je ihren festen Platz. Epochengeist, individuelle Weltsicht und wohl auch klimatisch-lebensweltlicher Erfahrungshorizont bestimmen die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Natur.

Der Begriff allein wirft viele Fragen auf: Lässt sich Natur auf die rein sichtbare, diesseitige Wirklichkeit reduzieren? Vermag der Mensch überhaupt mehr zu erfassen als die äußeren Erscheinungen des Seins? Ist Natur ein heiliges Buch, ein Seelenspiegel? Ist sie dem Menschen über- oder unterlegen?

Weiß wie Schnee

Schon in früher Kindheit verdichten wunderbare Erzählungen unsere ersten Eindrücke von erstarrender Natur: "Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: 'Hätte ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz!'"

Wer kennt sie nicht, die Geschichte? Schneewittchens Mutter stirbt, die eitle Stiefmutter erträgt des Kindes strahlende Schönheit nicht und trachtet diesem nach dem Leben. Doch das Gute siegt über das Böse. Schneewittchen genießt den höheren Schutz der Natur und kriegt auch noch einen Königssohn zum Mann, während die böse Alte auf glühenden Schuhen in den Tod tanzen muss.

Das von einer Aura der Reinheit umgebene Idol Schneewittchen lebt in zahlreichen Versionen fort. Auch "Schneeweißchen" trägt die Unschuld im Namen. Das stille, sanfte Kind gleicht dem weißen Rosenstock im Garten der Mutter - weiß wie Schnee, weiß wie die Rose: schon schlagen die Brüder Grimm die Brücke zu religiöser Farbsymbolik. Weiß ist auch die Farbe der Jungfrau Maria, versinnbildlicht durch eine Lilie, eine Rose, oder eben den Schnee.

So geht etwa die Gründung der

römischen Kirche Santa Maria

Maggiore auf ein "Schneewunder" zurück. Der Legende nach erschien Maria dereinst dem Bischof Liberius

im Traum. Und zwar Anfang

August. Ihr sonderbarer Auftrag lautete, an jener Stelle eine Kirche zu errichten, wo am nächsten Morgen Schnee liegen würde. Liberius fand die Stelle - es war der Aventin, einer der sieben Hügel der Stadt.

Das Motiv "Schnee" steht im Volksmärchen bisweilen auch für Kälte und Herzlosigkeit. So in Christian Andersens "Schneekönigin". Die schöne Verführerin löst den Knaben Kay geschickt aus kindlichen Freundschaftsbanden, lockt ihn fort in phantastisch-frostige Gefilde. Regimenter von "weißen Bienen" (Schneeflocken) bewachen ihr Reich. Gefangen in einem eisig-leeren Palast mit Wänden aus stiebendem Schnee und Fenstern aus schneidenden Winden, müht sich der Knabe mit dem "Eisspiel des Verstandes" ab. Doch die Aufgabe, aus Eisstücken das Wort "Ewigkeit" zu bilden, will nicht gelingen. Erst die heißen Wiedersehenstränen der treuen Gerda erlösen Kay aus den Fängen der "Eisig-Schönen".

Andersens Eis- und Schneephantasmagorien tönen: Fast meint man, Vivaldis Violinen aus den "Vier Jahreszeiten" zu vernehmen, die stürmenden Winde, das Klirren des Frostes, das Splittern des Eises. Doch Andersens Eisreich ist von falscher, auf reinem Intellekt basierender Schönheit. Eine polar-klare Welt, in der Herzen zu Eisklumpen erstarren.

Wo Frost, Eis und Schnee das Regiment führen, nehmen sie in Tradition und Dichtung "Gestalt" an. Ob als slawisches "Väterchen Frost" und dessen Tochter "Snegurotschka", oder als nordischer Schilauf- und Schlittschuhgott Ullr. Ob in den Mythen der Inuit, Indianer oder Asiaten. Wo der Winter herrscht, wird die menschliche Existenz auf besonders harte Proben gestellt, die ganze Wucht und Härte der Natur fühlbar.

Der Waadtländer Fernand Ramuz schildert in seinem Roman "Die große Angst in den Bergen" (1926) das Drama vermessener Hirten, die ihre Herden gegen den Rat der Dorfältesten auf die verfluchte Alm unterhalb eines Gletschers treiben. Ein Sakrileg, welches das Fanal heraufbeschwört: Erneut befällt die Tiere an diesem Ort eine schlimme Seuche; im Gewehrfeuer des phantasierenden Joseph birst auch noch die Gletscherwand. In panischer Flucht vor der Lawine hasten Mensch und Tier zu Tal; die zur Seuchenabwehr aufgestellten Dorfwachen bereiten ihnen einen tödlichen Empfang.

Lapidar dagegen der Realismus eines Franz Innerhofer. In seinem autobiographischen Roman "Schöne Tage" verschärft die alpine Natur den täglichen Leidensdruck unfrei schuftender Kreaturen: "Weit oben der Schrecken, eine Lawine hatte mit vier oder fünf Knechten kurzen Prozeß gemacht."

Ohne die (Eis-)Schollenmetaphysik eines Ramuz kommt auch Adalbert Stifter aus. Der "objektiven" Härte seiner Eis- und Schneestürme im Frühwerk folgt ein stilles Winter-idyll. Natur und Mensch stehen wieder im Einklang. Von der Revolution 1848 hat er sich abgewandt, längst baut der Dichter an einem beschaulichen Kosmos bürgerlicher Geordnetheit und utopischen Lebensglücks.

Erstarrte Gesellschaft

Prononciert politisch dagegen sein Kollege Heinrich Heine, der 1844 im Pariser Exil das Gedicht "Eismeer" schreibt: Deutschland, ein Wintermärchen, das meint die erstarrten politischen Verhältnisse in der Heimat jenseits des Rheins.

Das Eismeer ist auch Gegenstand eines berühmten "Seestückes" von Caspar David Friedrich. Monumental, schroff türmen sich Eisschollen auf, bohren sich gleich Lanzen in die eisige Luft. Gerade noch sichtbar der Rumpf eines halb gesunkenen Schiffes. "Die gescheiterte Hoffnung", so der Titel des Gemäldes aus dem Jahre 1822, kann als Allegorie auf die erstarrte Gesellschaft der Restauration verstanden werden, aber auch als typisches Naturbild der Romantik: das erhaben-schicksalhafte Szenario spiegelt das Sehnen nach Kommunikation mit dem Göttlichen wider - und des Menschen Kleinheit gegenüber dem Unendlichen.

Im magischen Symbolismus eines Giovanni Segantini erlischt noch die letzte Hoffnung: seine 1894 gemalten "Bösen Mütter" schweben in kahlem Geäst, darunter erstreckt sich das "Leichentuch" einer erbarmungslosen Schneewüste.

Weder von panischem noch von romantischem "Schrecken des Eises und der Finsternis" erzählt Christoph Ransmayr. Auch nicht von dantesken Visionen der Hölle, deren innerster Kreis aus Eis besteht. Nein, Ransmayr zeichnet die Eishölle der Einsamkeit, des Solipsismus. Ausgehend von der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition 1872-74, lässt er historische Vorgänge mit der Gegenwart verschmelzen. Der Enkel eines Expeditionsteilnehmers nimmt die Route seines Vorfahren ins ewige Eis auf. Es wird eine Fahrt ins Imaginäre, wo Raum und Zeit ihre Konturen verlieren. Wo die "Eisfalle" vielleicht nie mehr aufgeht, das Ich sich auf der Suche nach Totalität im Unendlichen verliert. Auch Gerhard Roths Dorfschullehrer Nagl im Roman "Winterreise" treibt es in polare Kälte, wo er in entgrenzter Ichbezogenheit und Bindungsunfähigkeit dem Gespenst Freiheit nachjagt.

Wie heißt es in dem schönen Gedicht "Icebergs" von Henri Michaux: "Eisberge, gurtlos, geländerlos . . . / . . . religionslose Dome des ewigen Winters".

Michaux fühlt sich den Eisbergen "so nah", Ransmayrs Spurensucher Mazzini erliegt dem Bann auflösender Dimensionen, und Thomas Bernhards Maler Strauch steuert im Roman "Frost" auf den "Diluviumszerfall des Einzelnen" zu. Tödliche Einsamkeit umgibt ihn, erbärmlich dumpfe Existenzen und die abweisenden Natur der Pongauer Schluchten. Es geht eine "ungeheure Verführung zum Frost" vor sich: in allem und jedem und überall. Maler Strauch spielt das Bernhardsche "Eisspiel des Verstandes": "Die Kälte ist der scharfsinnigste Naturzustand." Rettung ist da naturgemäß nicht in Sicht. Der Protagonist ist am Schluss "abgängig"; die Suche nach ihm wird wegen heftiger Schneefälle eingestellt.

Winterreisen als radikaler Erkenntnistrip, als Fahrt an die Endstationen fataler Sehnsüchte: wen überraschte dies angesichts der traditionellen Symbolik von Eis, Schnee und Frost?

Ur-Monotonie

Schon das Spektrum winterlicher Minus- und Nichtfarben wirkt auf unser Gemüt. Nachzulesen in der "Farbenlehre" des Weimarer Geheimrates. Mag man Weiß nun den Farben zurechnen oder nicht: sein Grad an Abstraktion und Spiritualität ist hoch. Ebenso sein Nuancenreichtum: Die Schneemassen um Thomas Manns "Zauberberg" gleichen bald alabasternen Tafelflächen, körnig kristallischem Geflimmer oder grauweißer Watte, allerdings verblasst jene Vielfalt angesichts der "Ur-Monotonie" des winterlichen Naturbildes.

Gerade die äußere Vielfalt, Flüchtigkeit und Atmosphäre hat es hingegen den Impressionisten angetan. Sie halten fest, was der Augenblick zeigt, und sparen die lebensweltliche Gegenwart nicht aus. Monets fauchende Dampflok hält bei trübem Winterwetter in einem kleinen verschneiten Bahnhof. Weder vom Triumph der Technik wird hier erzählt, noch von transzendentaler Obdachlosigkeit. Es ist einfach Winter, und der Schnee gebrochen weiß. Man kann ihn fühlen und riechen - wie in Sarah Kirschs Gedichten. Nur mit dem Unterschied, dass Sarahs Gespür für Schnee bereits wieder auf eine höhere Wirklichkeit verweist: ihr Winter kommt ". . . mit Windhundgespann. Eisblumen / Streut er ans Fenster, die Kohlen glühen im Herd, und / Du Schönster Schneeweißer legst mir deinen Kopf in den Schoß.

Ich sage das ist / Der Schlitten der nicht mehr hält, Schnee fällt uns Mitten ins Herz, er glüht / Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel."

Freitag, 17. Jänner 2003

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