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Über amerikanische Megapleiten und das Versagen der Politik

Die New Economy sieht alt aus

Von Reinhard Heinisch

Es ist noch keine zwei Jahre her, dass das amerikanische Wirtschaftswunder beinahe täglich neue Maßstäbe zu setzten schien. Selbst abseits der Sensationsberichterstattung über 20-jährige Dot-Com-Millionäre und astronomische Aktiengewinne gaben sich selbst seriöse Ökonomen dem landläufigen Optimismus hin und sprachen von den USA als der ersten Volkswirtschaft, die nach der Mittelschichtsgesellschaft darauf und daran war, die "society of the rich and super rich" zu verwirklichen - der Durchschnittsbürger als Millionär. Wirtschaftskonferenzen befassten sich ernsthaft mit Themen wie "boom without bust" in der Annahme, dass das neue vom High-Tech-Sektor angetriebene Wachstum auf Dauer rapide Produktionssteigerungen und entsprechende Aktienkurse garantieren und dennoch den Inflationsdruck eindämmen würde. Selbst der sonst so beliebte Alan Greenspan musste sich nach seinen mahnenden Worten ("irrational exuberance"), Vorwürfe gefallen lassen, dass er als Mann der alten Schule eben von der New Economy nichts verstünde. Online Day Trading mit echtem Geldeinsatz wurde zum Real-Life- Nervenkitzel der gelangweilten Computer-Generation und neue TV-Sender wie Fox News oder CNBC hatten längst begonnen, den Aktienmarkt wie Footballspiele zu kommentieren.

Nur zwei Jahre später sieht die New Economy mit einem Mal recht alt aus. Damit ist nicht nur der inzwischen stattgefundene Konjunktureinbruch gemeint und der damit verbundene Absturz des Aktienmarktes samt dem Massenbankrott im Technologiebereich. Sondern mittlerweile herrscht auch Gewissheit, dass die einst so glänzenden Bilanzen so rosig nicht waren. Genau hier liegt jedoch das große Versagen der US-Politik. Getreu dem Motto "America's business is business" orientierte sich die US-Regierung stets eher an Wallstreet als an Main Street, jedoch wurde dabei stets darauf Bedacht genommen, dass ein funktionierender freier Markt gewisser Spielregeln bedarf, die es zu überwachen gilt.

Regelung und Freiheit

Mit der Anti-Trust-Gesetzgebung der späten 20er Jahre, dem Sherman Act nach dem Krieg und einer Reihe von anderen Regelungen schuf sich die US-Regierung ein effektives Instrumentarium, mit dem man den aggressiven US-Businesssektor einigermaßen im Griff behalten konnte. Die staatlichen Organe unterbanden Monopolbildungen, wo diese drohten, und diverse Aufsichtsbehörden, wie die Securities and Exchange Commission (SEC), überwachten den Aktienmarkt und die Geschäftsgebarung von Unternehmen, um "insider trading" oder frisierte Bilanzen zu verhindern. Dinge, die in Europa gang und gäbe waren, wie das inzestuöse Verhältnis zwischen Banken und Unternehmen (deren gleichzeitige Besitzer die Banken oft sind) oder politische Protektion für bestimmte Großkonzerne, waren in den USA weitgehend unbekannt. Wie ein Bettler musste der einstige Konzernchef von Chrysler, Lee Iacoca, seinerzeit vor den US-Kongress pilgern, um Kredithilfe zu erflehen - zu dieser Zeit waren politische Rettungsaktionen von nationalen Prestigeunternehmen in Europa noch der Normalfall. Das Kunststück der US-Wirtschaftspolitik war stets die erfolgreiche Gratwanderung zwischen Regelungsdisziplin und Marktfreiheit.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese Situation grundlegend gewandelt. Im Sog des Neoliberalismus mit seinen antistaatlichen und antiregulativen Tendenzen wurde das bestehende Gesetzeswesen zunehmend ausgehöhlt und öffentliche Aufsichtsorgane wurden durch politischen Druck und budgetäre Unterdotierung schrittweise entmachtet. Enron oder wie jüngst WorldCom sind lediglich die Spitzen eines Eisberges, der laut Studien mehr wirtschaftlichen Schaden angerichtet hat als die Terroranschläge des 11. Septembers.

Angefangen hat dieser Trend in den späten 70er Jahren, als die Lockerung von Unvereinbarkeitsbestimmungen für Banken es möglich machte, dass Finanzunternehmen einerseits den Börsengang einer Firma organisieren und gleichzeitig als Aktienanalysten der betreffenden Wirtschaftssparte auftreten konnten. Der Verlockung, die vom eigenen Haus betreuten Aktien zu pushen, konnte man einfach nicht widerstehen - oft genug wurden durch vorher bestehende Absprachen Aktien zu Vorzugspreisen an Insider abgegeben, bevor die breite Öffentlichkeit zu einem höheren Preis überhaupt zugreifen konnte. In anderen Fällen wurden bewusst überbewertete und hochgeredete Aktien vom eigenen Hause rasch wieder abgestoßen ("flipping"), bevor die Masse der Aktionäre durch den bald einsetzenden Kursverfall zum Handkuss kam. Alle Versuche, diesem Interessenskonflikt per Gesetz beizukommen, scheiterten am mangelnden politischen Willen und dem um sich greifenden Zeitgeist der "Go-Go-Eighties".

Der nächste Schritt kam Anfang der 90er Jahre, als Unternehmen immer mehr dazu übergingen, ihre Konzernmanager (CEOs) mit Stock-Options, also mit Aktienpaketen, zu belohnen. Die Entlohnung der CEOs verzwanzigfachte sich mit einem Schlag, natürlich nur, wenn der Aktienwert entprechend nach oben ging. Dies machte es notwendig, die Firma so profitabel wie möglich erscheinen zu lassen. Ein wesentlicher Trick dabei war, die bewussten Stock-Options nicht als Firmen-Ausgaben zu verbuchen, was natürlich die tatsächliche Gewinnbilanz eines Konzerns ganz anders aussehen hätte lassen. Man schätzt heute, dass um Stock-Options berichtigte Firmenergebnisse etwa um 20 Prozent geringere Gewinne ausweisen hätten müssen. Die auf solche Weise beschönigten Bilanzen ließen die Aktienkurse klettern und somit den Wert der Stock-Options.

Ein zaghafter Versuch der SEC, dem einen Riegel per Verordnung vorzuschieben, löste eine nie dagewesene Lobbying-Kampagne amerikanischer Unternehmer aus, die von überall nach Washington einschwebten und im republikanisch dominierten Repräsentantenhaus 1994 einen willigen Komplizen fanden. Der SEC wurde von Seiten diverser Abgeordneter unverblümt gedroht, dass ihr im Fall einer diesbezüglichen Regeländerung einfach das Budget gestrichen würde. Einige jener Politiker, die heute im Zusammenhang mit Enron am lautesten von Skandal sprechen, zählten damals zu den eifrigsten Gegnern jeglicher Regelung.

Der dritte Streich in der Entmachtung politischer Aufsichtsbehörden folgte im Zusammenhang mit dem amerikanischen Buchhaltungs- und Rechnungswesen. Zunächst einmal sahen sich die öffentlichen Stellen machtlos, dem offensichtlichen Interessenskonflikt zwischen Buchführung einerseits und Steuer- und Finanzberatung andererseits entgegen zu wirken. Im Sog des rapiden Wirtschaftswachstums wollten natürlich die amerikanischen Accounting Firms wie Arthur Andersen gegenüber ihren prosperierenden Kunden nicht zurückfallen. Im Hauptgewerbe dieser Firmen, der Buchführung und Bilanzkontrolle, waren die Wachstumsmöglichkeiten eher gering. Jedoch bot die Finanz- und Steuerberatung ein immer lukrativeres Zubrot. Dieselben Klienten, denen man eigentlich auf die Finger hätte sehen sollen und für deren Bilanzen man bürgte, zahlten gleichzeitig ein Vermögen, wenn man ihnen half, deren Rechnungsabschluss möglichst rosig aussehen zulassen. Ein weiteres Wachstumspotenzial für große Buchhaltungsunternehmen bestand in der Übernahme von Konkurrenzbetrieben, was die Zahl großer Accounting Firms in den USA stetig verringerte, so dass am Ende nur noch fünf übrigblieben. Auch hier hätten die staatlichen Aufsichtsorgane rechtzeitig einschreiten müssen.

Verdeckte Partnerschaften

Das vierte Versagen der politischen Organe kam, als Bilanzbuchhalter dazu übergingen, ihre eigenen Regeln neu zu interpretieren, um Firmen profitabler erscheinen zu lassen, und dies von den staatlichen Behörden stillschweigend geduldet wurde. WorldCom oder Enron mit ihren verdeckten Partnerschaften sind lediglich die mittlerweile bekanntesten Beispiele. Inzwischen haben jedoch Hunderte großer Firmen ihre Gewinne nachträglich entsprechend "korrigiert". Ein benahe klassisches Beispiel für die seinerzeit angewandten Bilanztricks bietet der Old Economy-Konzern Waste Management - ein biederes Müllentsorgungsunternehmen, dem in den 90er Jahren ein phänomenales Wachstum und entsprechende Aktienrenditen beschieden waren. Dabei muss bedacht werden, dass gerade in diesem Low-Tech-Bereich mit seinen hohen Fixkosten die Gewinnmöglichkeiten eher begrenzt waren.

Um die Aktienkurse und damit die Entlohung für das Management entsprechend zu steigern, begann Waste Management andere Müllentsorgungsunternehmen aufzukaufen, wobei mit jeder Akquisition der Wert der Firma und somit der Aktien stieg. Irgendwann einmal waren alle verfügbaren Konkurrenten aufgekauft, Waste Management war mittlerweile längst zum größten Müllunternehmen in den USA mutiert, und der Konzern sah sich mit einer gigantischen Schuldenlast konfrontiert. Lediglich der hohe Wert der Aktien garantierte sowohl das Überleben der Firma wie auch die Finanzierung der zahlreichen Akquisitionen. Da sich jedoch keine weiteren Übernahmekandidaten fanden, drohte das Kartenhaus einzustürzen, bis sich der Bilanzberater einen besonderen Trick einfallen ließ. Der Konzern war mittlerweile stolzer Besitzer von einer Million großer Stahlmüllkontainer, deren entsprechende Wertverminderung stets im Zehnjahresrythmus verbucht wurde - die Steuerberater dehnten diese Frist auf 18 Jahre aus und die Bilanz schien noch einmal gerettet, bis im Sog des Enron-Skandals die Sache aufflog und Waste Management in den Ausgleich ging. Firmen wie Xerox, WorldCom, Sunbeam, ImClone und wie sie noch alle heißen mögen, operierten alle mit den selben unsauberen Mitteln, um dem amerikanischen Fetisch des Aktienwertes zu huldigen. Dass die Börsennotierung dabei die reale Basis für deren Bewertung wie tatsächlicher Gewinn oder Vermögen und Wert des Unternehmens längst verlassen hatte, spielte dabei keine Rolle - und die verantwortliche Politik sah einfach zu.

Mangelnde Aufsicht und fehlende Unvereinbarkeitsregeln sind auch daran schuld, dass, wie im Fall von Enron, die Pensionsfonds der Angestellten vieler Privatunternehmen mit den überbewerteten Aktien der eigenen Firmen überdotiert sind, so dass im Falle einer Firmenpleite die Angestellten nicht nur ihren Job sondern auch gleich ihre Pension verlieren.

Die Demontage staatlicher Aufsichtsorgane nahm unter der konzernfreundlichen Bush-Administration rapide zu. Im Lebensmittel- und Umweltbereich wurden selbst die vergleichsweise bescheidenen Standards und Regelungen, mühsame Errungenschaften der Clinton-Gore-Regierung, beiseite gefegt. Am schlimmsten ist das Versagen des Staates im Gesundheits- und Pharmabereich - wohl der nächste große "Skandal", denn im Werbefernsehen pushen Firmen mit Duldung der Food and Drug Administration (FDA) auf immer unverschämtere Weise rezeptpflichtige und teure Medikamente, die einer pillengläubigen und mangelhaft aufgeklärten Bevölkerung auf Dauer Glück und ewige Gesundheit versprechen. Lukrative Consulting-Verträge für Ärzte, die sich verpflichten, nur Pharmazeutika einer bestimmten Firma zu verschreiben, sowie Schnellgenehmigungsverfahren neuer Produkte durch die FDA (gegen Bezahlung, versteht sich) und ähnliche Praktiken, denen der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben müsste, bezeugen einmal mehr das Versagen der Politik. Diese scheint jedoch dem Geldfluss aus der Wirtschaft ebenso hilflos ausgeliefert zu sein, wie der Süchtige den Drogen.

Widersprüche der US-Politik

Diese Entwicklungen im amerikanischen Modell weisen auf eklatante Widersprüche zwischen vorgeblichem und tatsächlichem politischen Verhalten hin. US-Politiker waren sich selten zu gut, die neuen Märkte in Osteuropa und Asien daran zu erinnern, dass funktionierende Märkte entprechender Aufsichtsorgane und gesetzlicher Regelungen bedürfen. Während dessen begann man daheim das eigene Instrumentarium stillschweigend zu demontieren. Wasser gepredigt und Wein getrunken wurde auch in anderer Hinsicht. Washington wurde nie müde, Marktmechanismen und Freihandel als Allheilmittel gegen Wirtschaftsprobleme aller Art zu preisen. Kaum schlitterte die eigene Wirtschaft in die Krise, waren diese Rezepte vergessen und die US-Regierung pumpte viele Milliarden Dollar in die Wirtschaft, meist in Form von Subventionen und Steuergeschenken an Konzerne.

Schulden machen war plötzlich wieder in Mode und auch das kürzlich verabschiedete "Farm-Gesetz" lässt selbst das System der EU-Agrarsubventionen effizient und marktgerecht erscheinen. Damit nicht genug, auch der Protektionismus ist neuerdings wieder salonfähig in Washington. Obwohl die USA jahrelang die Mantras des Freihandels verkündigten, besann man sich in Zeiten der Rezession wieder auf Strafzölle für Stahl- und Holzimporte. Auf diese Weise verliert die amerikanische Politik weiter an Glaubwürdigkeit und jene, seien es die kleinen Anleger in den USA oder befreundete Regierungen, die auf Washington vertrauten und somit wirtschaftliche oder politische Risiken auf sich nahmen, wurden eines Besseren belehrt. Verblüffend ist lediglich die Tatsache, dass dies alles ohne politische Konsequenzen bleiben wird und auch nach der nächsten Wahl die gleiche Regierung im Amt sein dürfte.

Reinhard Heinisch ist Professor für Politikwissenschaften an der University of Pittsburgh.

Freitag, 02. August 2002

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