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In den Dolomiten liegt die Heimat der Eiskonditoren

"Wie die Schwalben, hin und her"

Von Cristina Nord

Fornesighe hat keine Eisdiele. Eine Bar gibt es in dem Bergdorf, eine Straße, die sich den Hang hinaufwindet, eine still gelegte Molkerei, in der Zentrifugen und Butterfässer darauf warten, dass jemand sie besichtigt. Die Häuser sind alt, aus Naturstein gebaut und mit Lerchenholz verschalt, dazwischen verlaufen Gassen und Pfade, sich selbst überlassen wie die Trinkbrunnen und der Kran, der in die Winterluft ragt. Es wird restauriert im Ort, mit EU-Geldern, verkünden blaue Schilder. Aber heute ist Sonntag, und die Maschinen stehen still.

Fornesighe liegt im Val di Zoldo, einem engen Tal in den östlichen Dolomiten. Im Nordwesten erhebt sich der Monte Pelmo mit seinen 3.168 Metern, im Westen das Civetta-Massiv. Im Winter leben hier 200, den Rest des Jahres über gerade einmal 90 Menschen. Früher, vor 100 Jahren, waren es 800. Kein Wunder also, dass die Fensterläden geschlossen sind und Häuser leer stehen. Kein Wunder auch, dass es keine Eisdiele gibt, bei 90 potenziellen Kunden. Wer wollte das Eis essen?

Dabei ist Fornesighe, so verlassen es sich den Hang hinaufstreckt, ein Heimatdorf von Eiskonditoren. Das ganze Tal und auch das benachbarte Cadore-Tal sind voller Dörfer, aus denen Eiskonditoren stammen. Doch die machen sich im Frühling auf den Weg nach Norden, zu ihren Eisdielen im Odenwald, im Ruhrgebiet, im Siegerland oder anderswo jenseits der Alpen. Ende Oktober kommen sie zurück, jedes Jahr dieselbe Route über München, Innsbruck, den Brenner und Cortina d'Ampezzo. Seit Generationen geht das so, denn das Val di Zoldo war schon immer eine Gegend, aus der die Menschen weggingen, wenn sie Arbeit suchten. Egal ob als Zimmerleute, Gerüstbauer oder als Maroniverkäufer.

Reger Austausch mit Wien

Warum sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf das Speiseeis verlegten, ist nicht bis ins Letzte geklärt. Legenden von Holzhackern oder Seeleuten kursieren, die bei sizilianischen Konditoren das Handwerk und die Rezepte erlernten und diese anschließend in den Heimattälern verbreiteten. Ein Faktor war sicherlich, dass es einen regen Austausch mit Wien gab, zählten die Täler damals doch zum Gebiet Österreich-Ungarns. Dort war man Avantgarde in Sachen Kühltechnik, und dorthin zog es viele Männer aus der Region.

"Wie die Schwalben, hin und her", sagt Augusto Pellegrin, ein Eismacher aus dem oberfränkischen Kulmbach. 30 Jahre ist er alt, bald wird er den Familienbetrieb namens San Remo übernehmen. Sein Vater stammt aus Fornesighe und ist jetzt 58. "Da stellt sich die Frage: Verkaufen wir, oder machen wir weiter?" Augusto Pellegrin hat sich für das Weitermachen entschieden, obwohl er studiert hat, Politikwissenschaften, in Bologna und zwei Semester in Bayreuth. Seine Ambitionen lenkt er nun um, in Sätze, die sich von ihrem Gegenstand abspreizen wie ein weites, steifes Kleidungsstück. Die Wanderschaft der Eismacher aus dem Val di Zoldo und dem Val di Cadore sei "ein wesentlicher Beitrag zur europäischen Integration". Eine modellhafte Form der Arbeitsmigration, die die Wurzeln nicht kappe, sondern pflege. Deren Akteure in beiden Gesellschaften zu Hause seien: in der deutschen und der italienischen. Ob er die Berge mag? "Oh ja, es sind die schönsten der Dolomiten". Widerworte haben keinen Sinn, denn der Stolz auf die Heimat setzt den jungen Mann ins Recht. "Nur hier gibt es diese Gesteinsfarbe, diesen einzigartigen Rosaton." Ob seine Schwester, wenn er eine hätte, die Eisdiele übernehmen könnte? Im Prinzip ja, "aber es ist schwieriger, weil eine Frau Familie will." Er zögert, als müsste er sich verbessern. "Der Mann will natürlich auch Familie. Aber das ist etwas anderes."

Einer, der die Wurzeln pflegt, ist Maurizio Pellegrin, ein entfernter Verwandter von Augusto Pellegrin. Der 55 Jahre alte Mann führt eine Eisdiele in der Nähe von Heidelberg. Früher einmal wollte er Architektur studieren. Doch das ging nicht, weil man einem Familienbetrieb damals nicht ohne weiteres entkam. Deswegen will er heute seiner Tochter nichts vorschreiben.

Und deswegen sorgt er dafür, dass die Fresken an den alten Mauern von Fornesighe freigelegt werden und die Lerchenholzbretter und -balken keinen Schaden nehmen, wenn die Gebäude renoviert werden. Wie die meisten Eismacher hat er in den Wintermonaten keine beruflichen Termine, mit Ausnahme der Internationalen Speiseeismesse, die Ende November in der nahe gelegenen Kleinstadt Longarone stattfand. Also werkelt er in seinem Schuppen am südlichen Ortseingang, baut mannshohe Figuren aus Draht und alten Kleidern und bereitet den Holzmaskenwettbewerb vor.

Es sei nicht eben leicht, sagt Maurizio Pellegrin, "so etwas wie soziales Leben" zustande zu bringen in Fornesighe. Wenn die Arbeit an den Drahtfiguren beendet ist, stellt er sie im Dorf auf, an einem der Brunnen zum Beispiel oder an einem Platz, auf den die Wintersonne scheint.

Als seine Eltern 1956 die Eisdiele eröffneten, waren Eissalons Vorboten italienischer Zivilisation, Außenstellen eines Landes, dessen Bewohner sich auf das gute Leben verstanden. In die Eisdiele zu gehen, war wie ein Urlaub ohne lange Reise, ein Grenzübertritt gleich in der Nachbarschaft. Wie geschaffen, um die Schule zu schwänzen und Zigaretten zu rauchen, Kulisse für einen ersten Kuss, der nach Schokoladeneis schmecken mochte oder nach Cappuccino. Das alles sei noch immer so, sagen die Eismacher, wenn sich auch sonst vieles geändert hat. Die traditionellen Rezepte weichen blauem Schlumpf-Eis, die Konkurrenz industriell hergestellter Produkte wächst, das Geschäft liegt nicht mehr ausschließlich in den Händen italienischer Eismacher, auch türkische oder arabische Migranten verkaufen Speiseeis.

Aber das italienische Ambiente will niemand missen. "Ich frage 'Come stai?', wenn ein Kunde die Eisdiele betritt", sagt Dino dall'Anese, der Vizepräsident von Uniteis e.V., einem Verband, zu dem sich etwas mehr als ein Drittel der gut 4.500 in Deutschland tätigen italienischen Speiseeishersteller zusammengeschlossen hat. "Heißt der Kunde Johann, nenne ich ihn Giovanni, einen Robert Roberto. Die Leute wollen sich fühlen wie in Italien."

Das Eis und die Sehnsucht

Es geht also nicht nur ums Eis, es geht um Sehnsucht. Um den Klang von Namen wie Dolomiti, Venezia, Cortina oder San Marco. Um die Modernität aus Glas und Edelstahl, Materialien, denen die Biederkeit von Eichenmöbeln oder Kaffeetafeln fremd war. Und um das Leuchten in den Augen der Kinder, wenn sie die Stirn an eine Glasvitrine drückten, in der die Schätze aus Vanille-, Schokolade- und Erdbeereis warteten. Wie auf den Fotos, die Dario Olivier aus einer Schublade in seinem Wohnzimmer holt.

Die Schwarzweißaufnahmen entstanden an dem Tag, an dem der Eissalon De Lorenzo in Witten wiedereröffnet wurde. Das war 1952, 22 Jahre, nachdem Giovanni de Lorenzo, der Großvater von Dario Olivier, ins Ruhrgebiet gekommen war, um Eis zu verkaufen. Gelernt hatte er das Handwerk als ambulanter Händler in Ligurien. Nun war er ein Pionier, ein Mann der ersten Stunde. "Damals war Eis eine Sensation in Deutschland", sagt Dario Olivier. "Mein Großvater war sehr beliebt in der Bevölkerung." Giovanni de Lorenzo blieb in Witten, bis es ihm wegen der Bombardements zu riskant wurde.

So kam es, dass er 1944 zwar im Zoldo-Tal starb, im Ruhrgebiet aber den Grundstock für ein Familienunternehmen gelegt hatte. Seine Frau kehrte zurück nach Witten, die Tochter, Emilia de Lorenzo, begleitete sie. Als sie 1956 Marcello Olivier heiratete, einen Eismacher, der während der Saison in Bonn lebte und im Winter in Forno di Zoldo, lag es nahe, dass die jungen Eheleute das "De Lorenzo" weiterführen würden. Sie mussten Schulden machen und mehrmals umziehen, aber sie konnten ihrem ältesten Sohn, dem 1958 geborenen Dario, ein florierendes Geschäft überlassen. Dafür nahmen sie hin, dass sie entweder einander monatelang nicht sahen, weil Emilia de Lorenzo in Italien bei den drei Kindern war, oder dass sie von den Kindern getrennt waren, weil die inzwischen ins Internat gingen.

"Schwierig war das für uns", sagt Emilia de Lorenzo, "und noch schwieriger war es für die Kinder." Eine Generation später hat sich das nicht geändert. "Eine Zeit lang musste ich heulen", sagt Anna Lazzaris, die Ehefrau von Dario Olivier, "wenn ich eine Frau mit einem Kinderwagen gesehen habe."

Im Winter lebt die Familie in Dozza di Zoldo, ein paar Autominuten von Fornesighe entfernt. Ein dreistöckiges Haus an der Hauptstraße gehört Dario Olivier, schräg gegenüber liegt das Haus seiner Eltern. Emilia de Lorenzo sieht der jungen Frau auf den Schwarzweißfotos noch heute ähnlich, der 19 Jahre alten Eisverkäuferin in dunklem Kleid und weißer Schürze. Sie hat den selben Blick wie damals, wach, ein wenig bohrend und dann wieder nach innen gerichtet.

Ihr Sohn und der älteste Enkel, der 20 Jahre alte Nico, haben diesen Blick geerbt. Am Sonntagnachmittag sitzt sie am Esstisch, neben ihrem Mann, in einem kleinen Wohnzimmer. Die Rolläden sind schon heruntergelassen, nebenan köchelt etwas auf dem Herd, manchmal steht Emilia de Lorenzo auf, um nachzuschauen.

"Praktisch haben wir unser Leben in Deutschland gemacht", sagt sie. "Hier war das Leben ganz miserabel." Die langen Winter, die steilen Hänge, was hätte man hier anbauen, wovon hätte man leben können? Heute ist das anders. Das Veneto ist eine der reichsten Regionen Italiens. Die Arbeitslosenquote liegt bei 2 Prozent. Kein Wunder, wenn die Kinder der Eismacher heute andere Optionen haben.

Dass Dario Olivier den Betrieb der Eltern übernahm, war - er wählt sein liebstes Wort - "selbstverständlich", genauso wie das Pendeln, die Trennung von den Kindern, die Zwölfstundentage und der Verzicht auf den Sommerurlaub. Doch für Nico und den zwei Jahre jüngeren Ramon liegen die Dinge weniger klar. Beide besuchen ein Internat, und beide wollen studieren, Wirtschaftswissenschaften vielleicht oder Public Relations.

Der Vater sagt: "Jeder hat das Recht, sein eigenes Leben zu leben." Der Großvater hofft, dass einer der Enkel den Betrieb weiterführt. "Nico könnte das machen." Und die Großmutter sagt: "Man kann es nicht verlangen."

Freitag, 22. Februar 2002

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