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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Zur Geschichte der Glasmacherkunst im venezianischen Murano

Wie hat Aldo diesen Kelch gemacht?

Von Maria Sorger

Die Geschichte des venezianischen Glases ist ein großes Thema. Zu groß, meine ich, um allein damit fertig zu werden. Man muss mit jemandem darüber reden, einem, der in diesem Metier lebt, einem, der sich auskennt . . . Ich ging zu Domenico.

Domenico, der alte Vetrario, ist wie alle Bewohner von Murano traditionsbewusst und wie die meisten Familien hat auch seine eigene über Generationen hinweg ihr Brot an den Glasöfen verdient. Seine Vorfahren kamen aus dem nördlichen Adriaraum, aus dem Friaul. "Mein Urahn war bestimmt einer aus Aquileia", behauptet er. Heißt es doch, dass es im 5. Jahrhundert nach Christus die Aquileiaer gewesen seien, die auf der Flucht vor den Barbaren die Glasmacherkunst nach Murano mitgebracht hätten. Dass die Überlieferung bislang historisch keineswegs belegt ist und es sich um eine reine Hypothese handelt, lässt Domenico nicht gelten: "Ach, die Historiker . . .", meint er wegwerfend, "sie halten sich an Daten, aber von den Geschichten, auf die es ankommt, wissen sie nichts. Wie auch? Die stehen nirgends geschrieben, die hat man sich erzählt oder verschwiegen . . . Die großen Geheimnisse haben sie alle ins Grab mitgenommen. So wie Aldo, mein Bruder . . ."

Ich erinnere mich des Kelches, den Domenico einmal aus einer Vitrine genommen, gegen das Licht gehalten und schweigend langsam hin und her gedreht hatte, um ihn dann behutsam zurück auf seinen Platz zu stellen. Beim Versperren des Kästchens sagte er: "- und ich, der alle Tricks und Techniken eines Glasmachers vom alten Schlag kennt, ich habe keine Ahnung, wie Aldo diesen Kelch gemacht hat! Er hat das Rätsel mit in den Tod genommen."

Tatsächlich stößt man in Chroniken des venezianischen Glases immer wieder auf Erfindungen, die Aufsehen und kommerziellen Erfolg brachten, um dann, kaum ein paar Jahrzehnte danach, in Vergessenheit zu geraten. Nicht selten aber finden sich zwei, drei Generationen später Glasfanatiker, die ihr ganzes Dasein der Wiederentdeckung solch verschollenen Rezepturen und Herstellungsverfahren widmen. So sind zum Beispiel die Millefiori oder die Avventurini aufgetaucht, verschwunden - und wieder aufgetaucht. Wie wir auf das Avventuriniglas zu reden kommen, fragt mich Domenico: "Du weißt doch, was 'avventura' heißt?" - "Das Abenteuer . . ." - "Eben, und weil die Herstellung dieser Kompositionen so schwierig und unberechenbar ist, kam es zu diesem Namen."

"Freilich hätten ihn andere Entdeckungen auch verdient: ist doch jede Erfindung von Schmelzen und Techniken, die heute zu unserem Repertoire gehören, ein Abenteuer für sich gewesen! Was mag sich alles während der Versuche und Forschungen des Angelo Barovier damals abgespielt haben, bis der 'Cristallo' geboren war?" Dieser Cristallo, das Resultat seiner Experimente, ein Glas von bis dahin unerreichter Klarheit, war von solcher Bedeutung, dass man ihn zum Markstein zwischen Mittelalter und Renaissance ernannte.

Angelo Barovier gehörte einer Glasmacherfamilie an, deren Spuren schon im 14. Jahrhundert zu sichten sind. Er aber war der Erste, der Geschichte machte. Die Baroviers haben in Murano zu allen Zeiten (bis heute) viel zu sagen gehabt: als Techniker, Unternehmer, Künstler und Erzieher ganzer Generationen von Vetrariern. Einem dieser Dynastie, der im 15. Jahrhundert lebte, verdankt man auch das Rezept des Lattimo, des Milchglases, und die dem gestreiften Achat so ähnliche Glaspaste Chalzedon.

Die erstmalige Erwähnung der epochalen Kristallglaserfindung hat man übrigens in einem Archiv in Dalmatien gefunden. Aber nicht nur reiche Handelsherren kamen von drüben, auch unzählige arme Teufel, die hier Arbeit suchten. Einer von ihnen war ein gewisser Angelo Ballarin. Ein schmächtiger Bursche, den man als "Hinkebein" verspottete. Er war so unscheinbar, dass die Söhne des erwähnten Kristallerfinders Angelo Barovier, bei denen er in Dienst war, bedenkenlos in seiner Gegenwart mit geheimen Rezepturen umgingen. Der schlaue Dalmatiner aber schrieb, was er aufschnappen konnte, feinsäuberlich nieder und machte sich bald selbständig: er ging als einer der erfolgreichsten Vetrarier in die venezianische Glasgeschichte ein und hinterließ ein reiches Erbe.

Verrat an Murano

"Hm - das erzählt sich alles so schnell in zwei Sätzen, aber wer denkt an die Ängste, Zweifel und Enttäuschungen, die hinter den Erfolgen standen", räsoniert Domenico, "dem Alltag des Glasmachers ist das Abenteuer immanent - und nicht selten seinem ganzen Lebensweg. Manchmal frage ich mich, was in den Männern vor sich gegangen sein muss, die dereinst, auch strengste Strafdrohungen verachtend, das Inselghetto zu verlassen wagten? Schließlich konnte sie ja auch das Gold fremder Fürstenhäuser nicht vergessen lassen, dass ihr Leben und das ihrer Familien permanent bedroht war: die Sbirren der Serenissima folgten ihren Spuren - Gift, Mord und Totschlag markierten die Wege der 'Ungehorsamen' über Jahrhunderte. Aber kein Verrat an Murano war so folgenschwer wie der des Geistlichen Antonio Neri . . ."

Seine Sammlung von Glasrezepturen, die er geheimen Aufzeichnungen entnommen und von Glasmachern in Murano bereits hatte erproben lassen, erschien erstmalig 1612 in Florenz als Buch unter dem Titel "L'Arte Vetraria". Zunächst machte es in italienischer Sprache seine Runde, wenige Jahrzehnte später war es bereits in Englisch zu haben und dann in rascher Folge in Latein, Deutsch, Französisch und Spanisch. So geschah es, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert in allen Ecken Europas Glashütten entstanden, in denen man aber bald nicht nur Gläser "a la façon de Venise" fertigte, sondern auch selbst neue Schmelzen, neue Techniken und eigene Formen entwickelte.

Das Interesse dafür und die Marktsättigung wurden zur drohenden wirtschaftlichen Gefahr für Murano. Dazu kam, dass selbst die venezianische Nobiltá der heimischen Produktion müde zu sein schien und sich lieber mit dem Gefunkel englischen oder böhmischen Glases zu umgeben begann. Da gelang einem genialen Mann in Murano eine neue Erfindung: die Bereitung von Kaliumkristall, das sich mit der Brillanz des böhmischen Glases messen konnte.

Giuseppe Briati wurde zur großen Figur seiner Zeit: seinem neuen Glas war enormer Erfolg beschieden. Auch den Objekten, die er daraus gestaltete, wie etwa der berühmt gewordenen Lusterform ciocca - oder dem bald in vielen Fürstenhäusern begehrten, zerlegbaren Tafelaufsatz, dem so genannten desert. Briati, der durch seine Leistungen von der Serenissima beachtliche Privilegien erwirkte, hinterließ seinem Neffen ein florierendes Unternehmen.

Mitte des 18. Jahrhunderts kam auch wieder die Herstellung von Milchglas in Schwung. Und zwar waren es die Familien Miotti und Bertolini, die Porzellan täuschend nachzuahmen suchten. Ein Miotti war es denn auch, der nach wieder entdeckten Rezepten das Avventuriniglas zu fertigen vermochte.

"Die Avventurini, die Conterini, die Perlen . . . Um die Dimensionen unserer abenteuerlichen Glasgeschichte abschätzen zu können, lohnt es sich auch den Spuren nachzugehen, die unsere Perlen-Händler gezogen haben", meint Domenico. "Man weiß doch, dass diese Brüder schon im 15. Jahrhundert den Eroberern neuer Kontinente auf den Fersen gefolgt sind und es verstanden haben, Souveräne und Stammeshäuptlinge nach unseren Glasperlen verrückt zu machen. Gold gab man dafür und später ersetzten sie sogar Währungen, auch im florierenden Sklavenhandel."

Domenico schweigt einen Augenblick, dann fährt er fort: "Die Kehrseite des opulenten Perlengeschäftes sah freilich anders aus: Hier auf den Inseln und in den armen Vierteln von Venedig selbst arbeitete ein Heer unterbezahlter Menschen für den hoch dotierten Export."

Überhaupt ist das mit der Glasgeschichte verbundene Abenteuer bei den kleinen Leuten noch umso manches facettenreicher: Wer denkt schon an die Arbeiter, die seit hunderten von Jahren Nacht für Nacht, nach endlosen Stunden an glühenden Öfen, in ihren armseligen Booten heimwärts ruderten: nach Burano, Mazzorbo oder Torcello? - Bei Winterstürmen und den für hier so typisch heftigen Gewittern . . . "Über die dramatischen Episoden, die sich hier abspielten, liest du freilich nichts in der Geschichtsschreibung. In den traurigen Liedern aber, die die Alten noch im Dialekt der Inseln singen, sind sie überliefert."

Der Sturz der Republik Venedig im Jahre 1797 und die folgenden Jahrzehnte unter österreichischer Fahne brachten Venetien eine Misere, von der es sich nur mühsamst erholte. Erst nach dem definitiven Anschluss an das italienische Königreich kam venezianisches Glas wieder ins Gespräch: Antiquare und Sammler interessierten sich mit einem Mal besonders für frühere Objekte, in Murano selbst setzte ein engagierter Bürgermeister und der gelehrte Abt Vincenzo Zanetti kulturelle Taten: 1861 wurde das Glasmuseum eröffnet, ein Jahr danach eine Schule für Entwurf.

Entscheidend sollte sich für die künftige Entwicklung der Auftritt eines Advokaten aus Vicenza namens Antonio Salviati erweisen: Er gründet eine Glashütte und setzt auf die Zusammenarbeit mit den Meistern der großen Glasmacherfamilien und deren Söhnen, die er zur Beschäftigung mit vergessenen Techniken und neuen Methoden anregt. Domenico kennt sie alle, diese Techniken. Seine Könnerschaft ist eine vom Vater dem Sohn tradierte, sein Formenrepertoir auch. Er fühlt sich der "Klassik" venezianischen Glases verpflichtet. Gegen die Art, wie sich die Glaskünstler in den letzten Jahrzehnten auszudrücken pflegen, hat er seine Vorbehalte - und so mancher seiner Altersgenossen auch. Sie vermissen in der Großzügigkeit vieler heutiger Arbeiten, was ihrer Meinung nach neben der Farbenpracht das unverkennbar Muranesische ausmacht: die Beherrschung allerfeinster Details. Das größte Lob eines Kollegen war schließlich: "Du schaffst doch glatt die Beine einer Fliege!"

Künstler und Unternehmer

Aber es gibt auch die Maestri, die mit der Zeit gehen, selbst experimentieren oder mit einem Designer arbeiten. Die Ergebnisse sind die Basis für ein neues Image, das sich auf der ganzen Welt sehen lassen kann. Im Idealfall sind die Unternehmer selbst Künstler und Glasmacher zugleich, wie bei Barovier, Seguso oder Moretti. In einem Gespräch mit den Brüdern Moretti wird deutlich, dass man auch in unseren Tagen die Herausforderungen des Metiers nur mit Mut und der Leidenschaft für die Materie bewältigen kann. "Die Problemkreise sind zwei: Wir müssen uns im Weltmarkt zurecht finden und daheim den Kampf gegen die Billigimporte bestehen. Sie werden ja sogar in den Läden unserer Insel dem uninformierten Touristen als venezianisches Glas angedreht. Wir in Murano aber müssen unsere hoch dotierten Meister bezahlen und haben eine Reihe Kosten zu verkraften, die sich allein aus der Inselsituation und dem Umstand ergeben, dass wir im Gesetz nicht als Handwerksbetriebe, sondern als Fabriken figurieren und als solche keine Subventionsansprüche haben."

Veraltete Strukturen und der steigende Kostendruck hat so manches renommierte Unternehmen zur Schließung oder Fusionierung gezwungen. Doch erstand in den letzten Jahren auch manch aufgegebene Fabrik in restauriertem Glanz. Signale eines neuen Trends: die italienische Großindustrie investiert in marode Glashütten! Kulturelles Engagement der Multis - oder steuerlicher Absatzposten?

Das sei gar nicht die entscheidende Frage, meinen die Morettis. "Gravierend ist vielmehr, dass selbst das modernste Management-Konzept dem Betrieb nichts bringt, wenn es nicht gelingt, die 'Seele' der Glashütte, die kreative Kraft zu halten, die den Kollektionen des Hauses ihre Unverwechselbarkeit gibt. Ohne sie ist der Betrieb nicht zu retten."

Freitag, 22. Februar 2002

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