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Arbeiten, lernen, ausprobieren

SEKEM - ein landwirtschaftliches Selbsthilfeprojekt in Ägypten
Von Barbara Schleicher

Als vor 22 Jahren der Ägypter Dr. Ibrahim Abouleish 70 ha unkultiviertes Ödland am oberen Nildelta kaufte, glaubte niemand, dass er jemals eine blühende Oase schaffen könnte, auf der 4 t hochwertiges Getreide, Obst und Gemüse pro Tag geerntet werden. Der Beginn dieser Erfolgsstory lässt sich in die 60er Jahre zurückverfolgen und mutet an wie ein Märchen: Es war reiner Zufall, dass der junge Ibrahim Abouleish bei einem Verwandtenbesuch in Kairo in eine Vorlesung über Johann Wolfgang von Goethe geriet. Damals erfasste ihn eine Faszination für den deutschen Dichterfürsten, die ihn nie mehr loslassen sollte. Sein Ziel war Deutschland, um mehr über das Leben und Schaffen von Goethe zu erfahren. Da das notwendige Kleingeld für eine solche Literaturreise fehlte, heuerte Ibrahim kurzerhand in Alexandria an. Ein dreiviertel Jahr durchkreuzte der Frachter das Mittelmeer, ehe Ibrahim in Genua von Bord ging und in den Zug Richtung Deutschland stieg. Die Fahrt endete aufgrund des allzu kleinen Budgets bereits in Graz.

Ibrahim gefiel es in der steirischen Landeshauptstadt, wo er einen Arbeitsplatz fand und sich die notwendigen Deutschkenntnisse erwarb, um Medizin und Pharmazie zu studieren. Schon die ersten Berufsjahre waren von Erfolg gekrönt, da ihm die Entwicklung von zwei pharmazeutischen Patenten gelang. In den Grazer Jahren hatte er Goethe nie ganz aus den Augen gelassen und kam über diesen Umweg auch mit der Anthroposophie von Rudolf Steiner in Berührung, die sein Leben nachhaltig verändern sollte.

Mit dem Erlös aus den Patenten und erfüllt von dem Gedanken als "Ägypter etwas für Ägypten" zu tun, kehrte der Pharmakologe in Begleitung seiner Familie 1977 nach Kairo zurück. Nach monatelangem Suchen fand er 60 km nordöstlich von Kairo ein 70 ha großes Wüstenland, das er preisgünstig erwerben konnte. Das Klima dieser Region nahe des Nildeltas zeichnet sich durch milde Winter und heiße Sommer aus. Bei einer jährlichen Niederschlagsmenge von 24 bis 200 mm stellt sich das Wasserproblem in besonderer Weise. In früheren Jahrhunderten war der Nil regelmäßig über die Ufer getreten und hatte dabei fruchtbaren Schlamm (Sedimente) abgelagert. So entstand auf einem 8 bis 16 km breiten Streifen üppiges Kulturland, von dem bereits im Alten Testament die Rede ist. Seit Fertigstellung des Assuan-Staudammes (1968) führt die Wasserstandsregulierung auch zur Unterbindung von Überschwemmungen, was sich auf die Fruchtbarkeit dieser Region auswirkt. Zur Bewässerung der Anbauflächen muss vermehrt auf Grundwasser zurückgegriffen werden. Die Folge davon ist ein sinkender Grundwasserspiegel im Nildelta, weshalb das Meerwasser immer tiefer in die Wasserarme eindringt und Brackwasser (Gemisch aus Salz- und Süßwasser) entsteht. Von diesem Versalzungseffekt sind auch die Ackerböden betroffen.

Unbeirrt von der ökologischen Fehlentwicklung der Region ging Ibrahim Abouleish, unterstützt von seiner Familie sowie europäischen und ägyptischen Freunden, ans Werk. Das Projekt wurde Sekem genannt, das heißt "lebensspendende Sonnenkraft". Zur zentralen Überlebensfrage wurde die Wassergewinnung für die drei 100 m

tiefe Brunnen gebohrt wurden. Da die Tageshöchsttemperaturen von 40 Grad im Schatten und 80 Grad in der Sonne bewirken, dass beim Berieseln von Anbauflächen zirka 80 Prozent des Wassers direkt verdunsten, entschied man sich für die Bewässerung durch ein unterirdisches Versorgungssystem.

Wie durch ein Wunder gelang es eine Bodenfruchtbarkeit aufzubauen. Gegenwärtig versucht Sekem das wassersparende Granulat Sanoplant - in Österreich entwickelt und mit dem hiesigen Staatspreis ausgezeichnet - einzusetzen. Das Granulat in Wurzelhöhe ermöglicht der Pflanze das gespeicherte Wasser bedarfsgerecht aufzunehmen, wobei das Verfahren verhindert, dass es zum Versickern bzw. Verdunsten des kostbaren Gutes kommt. Gleichzeitig ist es durch das verbesserte Wasserspeichervermögen möglich, mit der gleichen Wassermenge statt 2 sogar 8 ha Anbaufläche zu versorgen. Im anthroposophischen Sinne fiel die Entscheidung für den biologisch-dynamischen Anbau ohne Pestizide.

Überschaubare Einheiten

Die Nutzflächen sind bewusst auf 700 x 700 m kleine Parzellen ausgerichtet. Dahinter steht das pädagogische Konzept, dass sich Menschen in kleinen überschaubaren Einheiten eher orientieren und ihr Tagwerk erfolgsversprechend verrichten können. Da auf Kunstdünger bewusst verzichtet wird, ist der Fruchtwechsel für die Erholung des Bodens notwendig. Auf den Ackerflächen gedeihen Erdäpfel, Zucchini, Sonnenblumen, Tee, Heilpflanzen usw. Allein die Obstplantagen weisen 110.000 Bäume aus, darunter Mango, Dattelpalmen, Zitronen, Orangen, Eukalyptus usw. Sensationell ist die geglückte Kreuzung mehrerer Baumwollsorten, die ihren Wasserbedarf aus der nächtlichen Feuchtigkeit schöpfen und es keiner zusätzlichen Berieselungen bedarf. Mit dieser überlebensfähigen Biopflanze sind drei ertragreiche Ernten im Jahr möglich. Was die Viehzucht betrifft, so besteht diese hauptsächlich aus Hühnern, drei Kamelen und etwa 100 Rindern, die ursprünglich aus einer biologisch dynamischen Farm aus dem Allgäu eingeflogen wurden.

Gegenwärtig bauen 160 Bio-Farmen mit rund 2.000 ha Anbaufläche in Ägypten nach der Sekem-Methode an, wobei die Bauern ständig geschult und fachlich begleitet werden. Jeder dieser Landwirte erhält als Starthilfe ein Rind mit der Verpflichtung, ein späteres Jungtier der Gründungsfarm Sekem zurückzugeben.

Sekem eröffnet den Menschen aus den umliegenden Dörfern neue vielfältige Perspektiven. Auf der Farm sind 600 Arbeitskräfte ständig, in der Hochsaison bis zu 2.000 Menschen beschäftigt. Eindrucksvoll beschreibt der Geschäftsführer des Bio-Verlages Ronald Steinmeyer das Miteinander der Menschen: "Lernen und arbeiten, ausprobieren und lehren sind ein Fundament von Sekem. Das fängt frühmorgens in den einzelnen Betrieben an. Die Landarbeiter, die Lehrer, die Büroleute - alle treffen sich vor der Arbeit in einem Kreis. Das arabische, das christliche Datum, der Wochentag werden genannt, dann sagt jeder, was er oder sie gestern getan hat und heute tun wird." Während der Arbeitszeit finden täglich einstündige Fortbildungen statt, bei der die Mitarbeiter die Handhabung von Näh- und Verpackungsmaschinen kennen lernen, in Landeskunde, Geschichte, Sprache usw. unterrichtet werden.

Der rein biologische Anbau bringt gute Erträge. Die meisten Agrarprodukte werden in eigenen Firmen (ATOS, HATOR, CONNTYTX, ISIS, PERFECT usw.) verarbeitet. So gibt es eine Käserei, Bäckerei, Öl- und Getreidemühlen, Teeabfüllmaschinen, Arzneimittelherstellung, Textilfabriken u. ä. Selbstverständlich wird auch bei der Weiterverarbeitung auf chemische Zusätze verzichtet. Etwa 50 Prozent der Produkte in Spitzenqualität werden nach Deutschland, Dänemark, Niederlande, Großbritannien und Frankreich exportiert. Getrocknete Kräuter, Gewürze und Tees, Naturkosmetik, anthroposophische Arzneimittel, frisches Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte, Getreide, Speiseöle, ätherische Öle, Textilien usw. finden sich auf den Regalen der Geschäfte (Naturkostläden, Apotheken, Drogerien, Boutiquen usw.) wieder. Für das Import- und Exportgeschäft stehen mittlerweile an die 2.000 Angestellte zur Verfügung. Unermüdlich beschäftigen sie sich mit der Produktentwicklung, um z. B. im Textilbereich den europäischen Geschmack zu treffen. Umsatzzahlen in Höhe von 70 Millionen ägyptischen Pfund werden jährlich gebucht. Doch gibt es Probleme, die auf internationale Finanzspekulationen und deren Auswirkungen auf die Wechselkurse sowie den Außenwertverfall des ägyptischen Pfunds zurückzuführen sind. In den Zeiten der Globalisierung mit fatalen Folgen für Sekem, wie Ronald Steinmeyer schreibt. "Ägypten befindet sich in einer wirtschaftlichen Talfahrt. Die Abwertung wichtiger Exportland-Währungen durch die Euro-Schwäche macht die Ausfuhr schwierig, denn die ägyptische Währung ist an den Dollar gekoppelt. Die Preise in D-Mark sind heute um 20 Prozent geringer als vor eineinhalb Jahren."

Die wirtschaftlichen Gewinne Sekems fließen in soziale Einrichtungen. So gibt es seit 1988 einen eigenen Kindergarten, wo sich die drei- bis sechsjährigen Kinder tummeln. Hier sind die Tage mit praktischer und künstlerischer Arbeit, fantasiereichem Spiel und Geschichten gefüllt, wobei sich die Pädagogik an Steiner'schen Grundsätzen orientiert. Mit dem gleichen Ansatz arbeitet auch die Waldorfschule, der 1989 vom ägyptischen Staat das Öffentlichkeitsrecht verliehen wurde. Das Schulgeld richtet sich nach der Einkommenslage der Eltern. Auf dem Stundenplan scheinen neben Mathematik, Physik und Geschichte auch antroposophische Fächer wie Eurythmie, Drama, Tanz und Musik auf. Die Schule führt bis zur Matura. Wer einen Beruf anstrebt, kann nach dem Hauptschulabschluss auch eine qualifizierte Ausbildung als Zimmermann, Installateur, Elektriker, Computertechniker oder als Näherin beginnen.

Die "Kamille-Kinder"

In Ägypten unterliegen die Kinder nur bis zum elften Lebensjahr der gesetzlichen Schulpflicht. Allerdings sieht die traurige Realität anders aus, da bereits die Jüngsten zum Familienunterhalt bzw. zur Altersversorgung der Eltern beitragen müssen. Folglich liegt die Einschulungsrate bei 70 Prozent (1996). Sekem versucht diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem 40 "Kamille-Kinder" halbtags beschäftigt werden. Nach vierstündiger Arbeit in den Kamillefeldern erfolgt der kostenlose Unterricht in Geschichte, Kultur, Geographie, Körperhygiene, Eurhythmie usw. Für ihre Arbeit erhalten die Kinder den üblichen Lohn und ein kostenloses Mittagessen.

Die Mitarbeiter und Bewohner der Umgebung werden in der eigenen Polyklinik - Innere Medizin, Chirurgie, Kinderheilkunde, Augen- und Zahnmedizin - von Ärzten, Krankenschwestern und Hebammen behandelt. Der Laborservice umfasst eine Diagnoseausrüstung einschließlich Röntgengerät. Hervorzuheben ist das Engagement des Wiener Gynäkologen Dr. Roland Frank, der hierzulande bei Informationsveranstaltungen für Sekem wirbt und gleichzeitig Unterstützungsgelder sammelt. In diesem Rahmen ist er schon in EU-Institutionen sowie der niederländischen Lehr-Stiftung vorstellig geworden. Seine regelmäßigen Besuche in Sekem zielen auf den Aufbau eines "geburtshilflichen ganzheitlichen Zentrums für die Bevölkerung der umliegenden Dörfer. Dazu gehört die Schulung von Schwestern und Ärzten in anthroposophischer Medizin und speziell in der Frauenheilkunde, die Schwangerenbetreuung, Hausbesuche, Gesundheit- und Hygieneunterricht in Dorfschulen. Bedeutung haben insbesondere vertrauensbildende Maßnahmen zu den Familien, von denen die gesamte Initiative Sekem profitiert."

Im März 2000 wurde in Kairo die Sekem-Akademie für Wissenschaft und angewandte Künste in ambitionierter Architektur eröffnet. Geforscht wird in den Fächern Architektur, Kunst (Eurythmie, Musik, Sprache und Drama), biologisch-dynamische Landwirtschaft, Betriebswirtschaft, Grafik und Design, Medizin und Pharmazie, wobei in allen Studienrichtung die anthroposophische Philosophie einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Überdies will die Akademie den ständigen Dialog verschiedener Forschungseinrichtungen forcieren.

Mensch vor Profit

Da stellt sich die Frage, wie Staat und Gesellschaft auf das Experiment Sekem reagieren? In den ersten Jahren begegnete man Abouleish skeptisch bis ablehnend, beobachtete Kreuzung und Anbau der neuen Sekem-Baumwolle voller Misstrauen. Drei Jahre stand die Farm sogar unter ständiger militärischer Bewachung, da man der Ansicht war, dass auf der Farm zu nächtlicher Stunde gegossen wird. Nachdem sich die Regierung eines Besseren belehren ließ, baut sie auf 400.000 ha staatlicher Anbaufläche seit 1993 auch Sekem-Baumwolle an, was Mensch und Tier jährlich 30.000 t Pestizide erspart. Die Wertschätzung, die Dr. Ibrahim Abouleish seitens der Regierung entgegengebracht wird, lässt sich daran erkennen, dass ihm vor fünf Jahren das Amt des Landwirtschaftsministers angeboten wurde. Aus Gründen der Unvereinbarkeit von Ministeramt und Konzernleitung hat er dankend abgelehnt, schließlich wird auf wirtschaftliche Autonomie größter Wert gelegt. Die gute Kooperation zwischen Sekem und Regierung wird von international agierenden Konzernen nicht gerne gesehen. Seitdem in Ägypten vornehmlich Sekem-Baumwolle angebaut wird, die gänzlich auf Pestizide, Kunstdünger und chemische Färbemittel verzichten kann, sehen sich die Chemiegiganten um ihren Profit betrogen.

Alles in allem fällt die Bilanz des Sekem-Projektes positiv aus, immerhin ist eine Wüstenlandschaft kultiviert worden, die Spitzenprodukte aus biologisch-dynamischer Landwirtschaft herstellt und damit vielen Menschen eine neue Arbeits- und Lebensperspektive gegeben hat. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich in Sekem um ein Projekt "von Ägyptern für Ägypter", selbst wenn viele Europäer in verantwortlicher Position tätig sind. Für den Wiener Roland Frank fließt "in Sekem zeitgenössisches Know-how in das Land zurück, aus dem unsere ungebildeten Vorfahren vor Jahrhunderten ihr medizinisches, mathematisches, naturwissenschaftliches Grundwissen mitbrachten. Für den angestrebten Modernisierungsprozess in Ägypten erweist sich das geistige Miteinander von Islam und Antroposophie als nahezu ideal. Interessant ist besonders die Umsetzung praktisch angewandter antroposophischer Gedanken und Forschungen in den praktischen Alltag prosperierender Firmen im islamischen Kulturkreis. Der Grundsatz Mensch vor Profit besticht insbesondere in unserer Zeit. Schließlich fließen die Gewinne im Realprojekte statt in Finanzderivate oder weitere virtuelle Welten. Um den Ägyptern mehr Verantwortung zu überlassen, ist eine Bildungsoffensive unabdingbar, die neben der Vermittlung allgemein bildender Inhalte auch Individualität und Eigenverantwortlichkeit fördert und eine Chance zur Identifikation - was Sekem bietet. Auf diese Weise will Ibrahim Abouleish eine menschen- und friedensverbindende Gesellschaft schaffen. Gleichwohl weiß er, dass gut ausgebildete Menschen für fanatische Ideen nicht so leicht empfänglich sind."

Freitag, 23. November 2001

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