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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Ein merkwürdiger Spaziergang an der Wiener Peripherie

Landspeck vor der Preisruine

Von Beppo Beyerl

Da passiere ich erst mit der U1 das neue Wien, das weltstädtische Wien, das hochhäusige Wien, das extramegagiga Wien. Dann fahre ich mit dem 25er durch das alte Dorf Kagran, Kaiserzeit, Zwischenkriegszeit, Nachkriegszeit. Dann folgen die Rennbahngründe, ohne Kommentar. Und schlussendlich steige ich aus der Bim, gehe mangels anderer Möglichkeiten auf der Wagramer Straße zu Fuß und erreiche nach 20 Minuten das Stadtende.

Auf meiner Karte aus dem Jahre 1992/93 sind hier ausschließlich "landwirtschaftliche Nutzflächen" eingezeichnet, weiters entnehme ich der Karte einige Flurbezeichnungen wie Langes Feld, Mittleres Feld, Oberfeld, Kurzried oder Kurze Kirchenlucken.

Nun reiht sich genau auf dem selben Areal Abholmarkt an Baustoffhändlerzentrum, Einkaufsparadies an Großtankstelle.

Selber schuld, dass ich zu Fuß gehe, wo man doch zu so was nur mit dem Auto fährt. Der Gehsteig bringt mich auch nicht weiter. Der endet nämlich beim Kika, der weiter hinten liegende Appel führt bereits eine gehweglose Existenz. Genauer gesagt endet der Gehsteig natürlich nicht beim Kika, weil er keine Anstalten macht, mich in die Nähe oder zumindest in die Sichtweite eines Eingangs zu bringen. Alle Kundeneingänge werden vom Parkplatz aus erreicht und der Gehsteig führt mich seitlich am Kika vorbei und endet zweckbestimmt und ansatzlos in der Gstätt'n.

Rund um den Kika erkenne ich einen Wassergraben. Der ist natürlich kein Wassergraben, vielleicht wird er benötigt, um die Fenster der kikantischen Kellergeschoße zu belichten. Vielleicht kann man all das Glumpert, für das noch kein geeigneter Entsorgungsort gefunden wurde, in den Graben schmeißen. Jedenfalls gibt es dort unten etwas, was es auf dem gesamten Areal nicht gibt. Bäume.

Ich betrete das kikantische Bauwerk und gehe schnurstracks zum tadellos ausgeschilderten Blumenshop. Juchu, da gibt es Forsythien mit gelben Blüten, ausgereifte Sonnenblumen mit weißen Körnern und die unverwüstlichen bunten Gartenzwerge. Forsythien und Sonnenblumen sind aus reißfestem Plastik. Aus welchem Material die Gartenzwerge sind, weiß ich nicht. Ich muss nämlich dringend aufs Klosett. Im weitläufigen Erdgeschoß gibt es für die Verrichtung des unbedingten Bedürfnisses keine vorgesehene Örtlichkeit. Ich muss mit dem Großmarktlift in den ersten Stock fahren und renne eine Zeit lang wirr durch die Gegend, bis ich endlich eine Tafel mit den heiß ersehnten zwei Buchstaben erspähe.

Auf der Gstätt'n

Ich gehe auf dem Gelände auf und ab. Die riesige ABA - nein, keine um eine Person verkleinerte schwedische Popgruppe, sondern die Abfallbehandlungsanlage, die mir noch unter dem von der Gemeinde nicht besonders goutierten Namen Rinter-Mistzelt bekannt ist. In drei Sprachen wird bei der Einfahrt zur ABA bekannt gegeben, zu welchen Zeiten der Abfall, der gelegentlich auch Müll oder Mist heißt, hier behandelt wird. Ob man ihn gut behandelt, den Müll oder den Mist oder den Abfall, das verrät mir hier keiner.

Ausgehend vom Rautenweg wurde wie am Reißbrett Großareal an Großareal gesetzt. Zwischen Groß-areal und Großareal befinden sich breite Straßen, Gehwege und Fahrradstreifen.

Weil der Bau der Straßen und der Großmärkte nicht aufeinander abgestimmt ist, sind zwischen den Straßen und den Flächen mit den Großmärkten kleine Spalten erkennbar. Die Spalten der fehlenden Abstimmung, das sind die Hoffnungen. Da taucht die Gstätt'n wieder auf, da blühen Löwenzahn und Huflattich, und ab und zu stehen Brennnesseln herum. Was der Fußgänger auf den vom Kachelofenverband zum Baustoffhandel führenden Gehsteigen machen soll, bleibt mir rätselhaft. Vielleicht soll er einen Stadtwanderweg absolvieren, der unter dem Aspekt: "Wir betrachten das größte Mistzelt und die billigsten Plastikblumen" errichtet wurde.

Aber Achtung. Es gibt auf dem gesamten Areal kein Bankerl, keine Sitzfläche, nicht einmal einen sogenannten Stein. Ich überlege schon, in die Wohnzimmerabteilung eines Einrichtungshauses zu gehen und mich auf einer Couch ein wenig auszurasten.

Da erspähe ich an der Rückseite einer Wash-Drive-Anlage ein Bankerl. Schnell nehme ich Platz und stütze die Hände auf den angeschlossenen Holztisch. Wunderbar. Jetzt brauche ich nur mehr zu überlegen, ob ich im Waschautomaten auf Unterbodenwäsche, Aktiv, Tiptop oder Premium tippen soll, um die Wirksamkeit einer Wash-Go-Anlage auszutesten.

Ausgeruht falle ich danach sofort in die Preisruine. Warum nicht gar Preiskollaps? Oder Preisdesaster? Das überdenke ich später, denn voll Demut verneige ich mich vor den prall gefüllten Warenkörben mit Minilichterketten, Massageautositzauflagen sowie den Funny Mini Bowling. Schlicht bleibt mir die Spucke weg bei den Dosen mit Paradeismark um 2 Schilling 90 die Dose sowie den Mayonnaisetuben um 2 Schilling 90 die Tube.

Auf der Salami steht nur der Preis, aber weder Herkunftsort noch Abpackdatum noch andere überflüssige Daten. Halt, noch etwas steht auf der Salami: Salami. Die Preise sind tatsächlich ruinös. Bleibt offen, was sind die Waren?

Ladehof, Gewerbepark, Einrichtungshaus, Abholmarkt. Da nimmt man Ausdrücke von dörflichen Strukturen, aus dem ländlichen Raum, aus Großmutters Zeiten. Der Hof, der Park, das Haus, der Markt. Nur Brunnen gibt es keinen, weil das Wasser sowieso nur Dreck macht. Und manchmal kommt auch ein Schuss Südseeromantik dazu, wenn ein Großkaufhaus an der blauen Lagune liegt.

Bei großkomplexigen kikantischen Strukturen, da kann unsereiner von Glück reden, wenn er rechtzeitig die Tür zum Klo findet oder das vor zwei Wochen in einem Regal entdeckte Luxusschmankerl oder am Ende die Frau Gemahlin. Logisch, dass da einmal eine Sehnsucht durchbricht nach einer überschaubaren Welt, eine Freude hochsteigt über wiedererkennbare Orte. Und mit dem Hof und dem Park und dem Markt wird etwas suggeriert, was es nicht mehr gibt: die verlorene Geborgenheit.

Nicht nur semantisch werden Großkaufhäuser von agrarischen Strukturen durchsetzt. Vor den Ein- und Ausgängen, da warten tatsächlich die Bauern. Sie haben ein Standerl aufgestellt und verkaufen mit urwüchsigen Jacken in einer urwüchsigen Sprache ihre urwüchsigen Speisen. Und immer wieder bieten sie Speckbrote an oder Grammelschmalzbrote oder echten Most vom Bauern oder Landspeck vom Feinsten. Und der Riesenkrapfen kostet nur 25 Schilling, und wenn man vier Riesenkrapfen kauft, erhält man den fünften Riesenkrapfen gratis dazu.

Die Besucher, die noch den weiten Weg vom Ausgang zu ihrem abgestellten Auto vor sich haben und zwei gefüllte Einkaufswagerln schieben, greifen wollüstig nach einem frischen nicht plastikverschweißten und nicht zerrfesten Speckbrot. Und überlegen gar nicht, ob die so urwüchsig aufgestellten Bauern nicht verkleidete Angestellte der Handelsketten sind.

Gibt es noch Reste der agrarischen Strukturen? Der breite Rautenweg, dessen Name auf das Disparate der Ortsbezeichnungen und ihre Herkunft aus dem agrarischen Sektor verweist, der Rautenweg also verengt sich vor dem Mistzelt, wird ein schmales Gasserl, führt hinauf zu der mit Schranken geregelten Überquerung der Ostbahn. Neben der engen Fahrbahn breitet sich die sogenannte Gstätt'n aus. Auf der Gstätt'n ist ein Zelt aufgestellt und vor dem Zelt steht ein sogenanntes Bankerl. Ich erblicke keinen Menschen, der meine zeitweilige Inbesitznahme des Bankerls möglicherweise an diverse von mir nicht erfüllbare Auflagen bindet und setze mich kurzerhand auf besagtes Bankerl und zünde mir eine Zigarette an.

Ein paar Meter vor mir liegen vier Reifen auf dem Boden der Gstätt'n. Auf den Reifen ist ein sechseckiges Gerüst montiert, auf dem Tafeln fixiert sind: Rosen, Most, Bauernbrot, Speck. Zur Abschreckung ist weiter vorn noch eine Tafel montiert: Parkplatz nur für Kunden.

Wie blöd ist doch der Mensch. Hätte ich in der Preisruine einen Karton mit 100 Mayonnaisetuben gekauft, könnte ich jetzt auf einen Pappkarton mit großen Buchstaben schreiben: Mayonnaise, 4 Schilling 90 Preisgarantie. Bei einem Totalabverkauf hätte ich immerhin 300 Schilling lukriert, mit denen ich die Minilichterketten aufkaufen könnte.

So leider nichts mit der Hetz. Ein Wegerl kommt vom Feld, durch große Poller wird die Einbindung in den Rautenweg verhindert. Natürlich: die beiden Systeme, das der Felder und der Kartoffelvollernter und der Totalherbizidspritzen, das ist nicht kompatibel mit dem System der Abholmärkte und der Lieferfahrzeuge und der Ikea-Busse. Das Wegerl wird gesäumt von hässlichen Kugellaternen, die die wohlfeile Ästhetik der Siebzigerjahre verkünden. Und auch die Stromleitungen sind nicht unter der Erde, sondern werden von Strommast zu Strommast gespannt.

Ich dämpfe die Zigarette aus und überlege das mit den Parkplätzen. Park kommt vom mittellateinischen parricus, was so viel wie Gehege bedeutet und von den französischen und englischen Parkgestaltern übernommen wurde. Woher kommt der Parkplatz? Jaja, ich weiß schon, von der Tiefgaragenbaufirma. Und wieso parke ich ein Auto? Jaja, weil ich drinnen nicht übernachten will. Und wieso sind die Parkplätze, die man in ihrer Gesamtheit bereits als Parkfläche bezeichnen könnte, warum ist also die Parkfläche mindestens zweimal so groß wie die von den Einkaufshäusern verbaute Fläche? Mir geht es besser. Meine Parkfläche ist nicht größer als der Umfang meiner Doc Martens-Schuhe, und vom Bankerl benötige ich genau 35 Zentimeter.

Schnitzel beim Mistzelt

Auf einmal bemächtigt sich meiner der sogenannte Hunger. Ich erinnere mich an die Tafeln: Jetzt neu: Mittagessen im Wert von 80,-! Dem Texter dürfte der Hunger die Sprache durcheinander gerüttelt haben, da er vergessen hat, dem Wert auch den Preis beizufügen. Also verzichte ich auf das unseriöse Angebot und gehe zum Würstelstand, den ich schon vorher auf dem Rautenweg entdeckt habe.

Ja, ein Würstelstand! Natürlich heißt er Bauernimbiss. Vom vielbefahrenen Rautenweg ist er getrennt durch einen Maschendrahtzaun, und wenn man sich an der Bude aufstützt und den Kopf wendet, dann erkennt man die Großtankstelle und weiter hinten das alles überragende Rinter-Mistzelt.

Ich bestelle die obligatorische Leberkässemmel, doch die Standlerin antwortet in breitem Kärntnerisch, dass sie nur Schinkensemmeln und Schnitzelsemmeln habe. Also bestelle ich Schnitzelsemmel und schwarzen Kaffee.

Sie habe erst seit fünf Wochen den Würstelstand, erzählt die Kärntnerin, und auf meine Bedenken wegen der fehlenden Laufkundschaft meint sie, dass halt jeder klein anfangen müsse, und im übrigen verweist sie auf einen Parkplatz hinter dem Würstelstand.

Als ich das letzte Schnitzeleck hinunterwürge, betritt ein Mann den Bauernimbiss und bestellt ein Bier. Er kommt zu Fuß, doch ich kann nicht mehr eruieren, ob er von der Großtankstelle kommt oder vom Baustoffhandel. Wobei ja zu bedenken gilt, dass auf dem Areal der Tankstelle eine Kühltruhe mit Bierdosen steht und dass der Baustoffhandel sicher über eine Kantine verfügt. Und weiters gilt es zu bedenken, dass der Mann sowohl in die Großtankstelle als auch in den Baustoffhandel höchstwahrscheinlich mit einem Auto gefahren ist. Warum kommt er also zu Fuß?

Ich fürchte, ich werde es nie erfahren. Er lässt die Bierflasche von der Kärntnerin öffnen, nimmt einen kräftigen Schluck und verschwindet, wie er gekommen war.

Als ich gezahlt und den Fotoapparat gepackt habe, ist der Biertrinker schon über alle Müllberge verschwunden. Wahrscheinlich ist er zurückgekehrt in ein Spiel, das schon längst aus dem Verkehr gezogen, oder in eine Zeit, die mangels Aktualität eingestellt wurde.

Freitag, 04. August 2000

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