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Das harte Leben der "Ziegelböhm" in den Favoritner Werken

"Vor 50 Männern entbunden"

Von Karl Pufler

Wien ohne Tschechen wäre undenkbar. Dies zeigt sich nicht nur im Wienerischen, wo der Revach, der Womacka oder das beschwichtigende Pomale eindeutig tschechische Wörter sind. Auch auf der Speisekarte, im Telefonbuch, in der Kultur und vielen anderen Bereichen hinterließen die Tschechen ihre Spuren in Wien - und hinterlassen sie heute noch. Wenn man allerdings an die Tschechen in Wien denkt, kommen den meisten Menschen heute hauptsächlich die Tischler, Dienstmädchen und womöglich noch die Handwerksburchen auf der Walz in den Sinn, die sich in Wien niedergelassen haben. Die "Ziegelböhm" hingegen, die bei den Wienerberger Werken am Laaer Berg und am Wienerberg ein schweres Los hatten, gerieten mit der Zeit beinahe in Vergessenheit. Dabei erinnert viel mehr an sie als nur der Böhmische Prater in Favoriten.

Die "Ziegelböhm" lebten bei den großen Wienerberger Ziegelwerken. Hans Pintarich, in vierter Generation Wirt im Böhmischen Prater, weiß heute noch zu erzählen, was er von seinen Eltern und Großeltern gehört hat: "Der Name Böhmischer Prater kommt von den Böhm, den Ziegelböhm. Zu jeder Sandgrube und jedem Ziegelwerk gab es ein Wohnhaus für die Arbeiter. Natürlich: Wo Leute sind, hat sich sofort jemand etabliert mit einer Ausschank, mit einem Wirtshaus. Damals gab es am ganzen Laaer Berg verteilt 25 solche Wirtshäuser. Viele davon haben zugesperrt, als die Sandgruben und Ziegelwerke aufgelassen worden sind. Die wenigen, die übrig blieben, waren alle an dieser Straße angesiedelt, die zu einem Zentrum wurde. Einzelne Schausteller haben dann gesehen, dass hier viele Leute sind, und so haben sich dann einer nach dem anderen angesiedelt. Erst haben die Wirten mit einer kleinen Schaukel und so angefangen. Als sie gesehen haben, wie das frequentiert wird, haben sie dann immer größere Attraktionen gemacht."

Gigantischer Bauboom

Aber wie lebten die Ziegelböhm wirklich? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschte in Wien ein bis zu diesem Zeitpunkt noch nie da gewesener Bauboom. Für die neuen Bauten waren Unmengen von Ziegeln nötig, die zum größten Teil aus den Wienerberger Fabriken am Wienerberg und am Laaer Berg stammten. Allein für die Errichtung des Arsenals etwa benötigte man über eine Million Ziegel. Die Arbeiter stammten zum Großteil aus Böhmen und Mähren - die Ziegelböhm, wie sie bald genannt wurden. Der erste Besitzer der Wienerberger Ziegelfabriken, Alois Miesbach, führte sein Unternehmen noch als Patriarch alten Stils. Er fühlte sich für seine Arbeiter verantwortlich und spendete einen Teil seiner Einnahmen für soziale Einrichtungen und Stiftungen. Doch 1869 wurde der Betrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, ein Bankenkonsortium hatte nun das Sagen, und in der Folge ging es den Ziegelböhm immer schlechter.

So wurde schon früh das gesetzlich verbotene Trucksystem ("truck" bedeutet Tausch, Tauschhandel) oder auch Blechsystem eingeführt. Das hieß, die Arbeiter wurden nicht mit Geld entlohnt, sondern sie erhielten Blechmarken, die sie nur bei einem bestimmten Kantinenwirt einlösen konnten. Dieser besaß dadurch eine Monopolstellung, die er auch weidlich ausnutzte. So kostete zu dieser Zeit in Inzersdorf ein Laib Brot vier Kronen, während die Wienerberger Kantinen Blech im Wert von fünf Kronen nahmen. Auch die Qualität des Essens ließ zu wünschen übrig. Betteln konnten die Arbeiter zwar, um zu Geld zu kommen, aber dieses auszugeben war nicht nur schwer, denn die Arbeitszeit betrug siebenmal wöchentlich etwa 15 Stunden, sondern auch strengstens verboten: Wer auswärts einkaufte, wurde sofort entlassen. So blieb vielen Ziegelböhm nichts anderes übrig, als bei Inzersdorfer um Suppe zu betteln.

Zehn Familien in einem Raum

Unter dem Titel "Die Lage der Ziegelarbeiter" veröffentlichte Victor Adler am 1. Dezember 1888 einen Artikel, in dem er diese Missstände anprangerte: "Für die Ziegelschläger gibt es elende ,Arbeitshäuser´. In jedem einzelnen Raum, sogenanntem ,Zimmer´ dieser Hütten, schlafen je drei, vier bis zehn Familien, Männer, Weiber, Kinder, alle durcheinander, untereinander, übereinander. Für diese Schlafhöhlen scheint die Gesellschaft sich noch ,Wohnungsmiete´ zahlen zu lassen, denn der Bericht des Gewerbeinspektors meldet 1884 von einem Mietzins von 56 bis 96 fl. (Gulden), der auf dem Wienerberg vorkommt. Seit einiger Zeit ,wohnen´ die Ledigen in eigenen Schlafräumen. Ein nicht mehr benützter Ringofen, eine alte Baracke, wird dazu benützt. Da liegen denn in einem einzigen Raum 40, 50 bis 70 Personen. Holzpritschen, elendes altes Stroh, darauf liegen sie Körper an Körper hingeschlichtet. In einem solchen Raum, der etwa 10 m lang, 8 m breit und höchstens 2,2 m hoch ist, liegen über 40 Personen, für deren jede also kaum 43 Kubikmeter Luft bleiben. Da liegen sie denn, diese armen Menschen, ohne Betttuch, ohne Decke. Alte Fetzen bilden die Unterlage, ihre schmutzigen Kleider dienen zum Zudecken. Manche ziehen ihr einziges Hemd aus, um es zu schonen und liegen nackt da. Dass Wanzen und Läuse die steten Bettbegleiter sind, ist natürlich. Von Waschen, von Reinigen der Kleider kann ja keine Rede sein. Aber noch mehr. In einem dieser Schlafsäle, wo 50 Menschen schlafen, liegt in einer Ecke ein Ehepaar. Die Frau hat vor zwei Wochen in demselben Raum, in Gegenwart der 50 halbnackten, schmutzigen Männer, in diesem stinkenden Dunst entbunden."

Mit seiner Beschreibung der Lebens- und Arbeitsumstände der Ziegelböhm erreichte Victor Adler zwei unmittelbare Ergebnisse: Das Gewerbeinspektorat inspizierte die Wienerberger Ziegelwerke und untersagte unter anderem die Anwendung des ohnehin verbotenen Trucksystems. Des Weiteren wurden Victor Adler und zwei Ziegelarbeiter wegen unbefugter Verbreitung der "Gleichheit" zu Geldstrafen verurteilt.

Doch das hielt den Journalisten, Arzt und Politiker nicht davon ab, weiterhin Missstände aufzuzeigen. So klagte Victor Adler etwa in einer Rede, die er 1896 hielt und die am 28. April 1896 in der "Arbeiter-Zeitung" veröffentlicht wurde, den "Unterstützungsverein der Arbeiter und Bediensteten der Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft" an. Jedem Arbeiter zog man zu dieser Zeit ein halbes Prozent vom Lohn ab - für den Krankheits-, Arbeitsunfähigkeits- oder Pensionsfall. Allerdings wurde der Verein nie polizeilich angemeldet und folglich konnte auch niemand die Statuten des Vereins einsehen.

So erschien die Vorgangsweise des "Unterstützungsvereins" äußerst suspekt: Arbeiter, die aus der Firma austraten oder gekündigt wurden, verwirkten ihre Ansprüche. Wer seine Ansprüche geltend machen wollte, musste seine lückenlose Zugehörigkeit als Arbeiter von Wienerberger nachweisen - was man den Betroffenen im Vorhinein natürlich nie mitgeteilt hatte, und da die meisten Ziegelböhm auch nicht lesen konnten, behandelten sie das Büchlein, in dem die Zugehörigkeit jährlich eingetragen wurde, auch dementsprechend nachlässig und verlegten bzw. verloren es.

Folgende Beispiele, in denen die Wienerberger Ziegelfabrik besonders knausrig erscheint, muss man unter der Voraussetzung sehen, dass die Wienerberger Ziegelfabrik und Baugesellschaft im Jahr 1887 insgesamt 490.000 Gulden an Dividende ausschüttete, was einem Gewinn von 12 Prozent entsprach:

"So musste die Witwe eines Arbeiters, Elisabeth Matousek, die durch 33 Jahre im Dienste der Gesellschaft stand, um eine Provision von 72 fl. 80 kr. prozessieren und erhielt schließlich im Ausgleichswege 70 fl. (. . .) Katharina Marik war durch 50 Jahre im Dienste der Gesellschaft und hatte Anspruch auf eine Provision von 105 fl. 60 kr. Sie erhielt, da sie den ,Arbeitsnachweis´ nicht ganz beibringen konnte, keinen Heller."

Franz Brabenec arbeitete zu dieser Zeit als Ziegelböhm und erinnerte sich in der Broschüre "35 Jahre Gewerkschaftsorganisation der Ziegelarbeiter Österreichs" (erschienen im Verlag Koch, Wien 1930), wie er nach Wien kam: "Ich kam als 19-jähriger Junge im Jahre 1885 mit meinem Bruder aus Ostböhmen nach Wien. Wir erhielten Arbeit bei dem Platzmeister Kral und es wurde uns auch eine Ledigenwohnung zugewiesen. Diese war eine aus einer alten Scheune hergestellte Gesindestube. Wie viele Menschen in dieser Gesindestube eigentlich gewohnt haben, konnte niemand sagen; nach der Anzahl der Betten konnte man das nicht feststellen, denn es schliefen viele junge Männer auch auf den Pawlatschen."

18-Stunden-Tage

Noch schlimmer waren die Wohnungsverhältnisse bei den Verheirateten. In einer solchen Gesindestube am Wienerberg wohnten und schliefen 68 Personen und es kann sich jeder vorstellen, welchen Einfluss diese gemeinsame Schlafstätte auf die Jugend ausgeübt hat. Jede Familie hatte ihr Plätzchen, das mit einer Nummer gekennzeichnet war. "Dieser Wohnmisere", so Franz Brabenec, "war auch das ganze Leben angepasst. Der Lehmarbeiter zog im Frühjahr seine blaue Hose und seinen Jankl an, band sich die blaue Schürze vor und ging auf seinen Arbeitsplatz. In diesem Anzug steckte er bis in den Winter drinnen. Und die Löhne? Für schwere Arbeit erhielt der Ziegelarbeiter 1 Gulden 20 Kreuzer. Diejenigen, die den Lehm höher befördern mussten, erhielten 1 Gulden und 40 Kreuzer. An manchen Stellen musste mit Hilfe der Hunde der Karren aus der Lehmgrube auf den Arbeitsplatz befördert werden. Um 4 Uhr früh wurde begonnen und nach Sonnenuntergang wurden die fertigen Ziegel in den Schuppen getragen, was im Sommer bis 10 Uhr nachts dauerte."

Karl Koch schilderte in der Broschüre "35 Jahre Gewerkschaftsorganisation der Ziegelarbeiter Österreichs" das Los der Ziegelarbeiterinnen, die es noch schlechter hatten: "Die Ziegelarbeiterin von damals musste schon zeitlich früh zur Arbeit. Um 4 Uhr früh wurde schon mit dem Ziegelverladen, um 5 Uhr, später um 6 Uhr früh, wurde mit dem Ziegelschlagen begonnen. Selbstverständlich musste die Frau vorher alle notwendigsten häuslichen Arbeiten verrichten, den älteren Kindern Weisungen erteilen, den jüngeren Kaffee zu kochen, sie anzuziehen und sie dann rechtzeitig auf den Schlagplatz zu führen, damit sie, bevor sie noch in die Schule gehen, Ziegel aufstellen, Sand herrichten und dergleichen Nebenarbeiten verrichten. Nicht genug, dass die Ziegelarbeiterin 16, später 10 Stunden im Tag gearbeitet hat, musste sie nach Arbeitsschluss bis spät in die Nacht hinein weiter zu Hause arbeiten. Wäsche waschen, das Mittagessen für den nächsten Tag vorbereiten und die dringendsten Flickarbeiten erledigen."

Der große Streik

Die von Victor Adler aufgezeigten Missstände betreffend das Leben der Ziegelböhm und das Unwesen des "Unterstützungsvereins der Arbeiter und Bediensteten der Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft" (beiden widmete er eine Artikelserie in der "Gleichheit" und später in der "Arbeiter-Zeitung") führten 1895 zum großen Ziegelarbeiterstreik, bei dem sich die Fronten verhärteten und sogar die Polizei eingriff, was zu zahlreichen Verletzten und sogar einem Toten bei den Ziegelarbeitern führte.

Die Favoritner Bevölkerung zeigte sich in der Folge mit den Ziegelarbeitern solidarisch, und der sozialdemokratische Abgeordnete Engelbert Pernerstorfer, der die Ziegelwerke gemeinsam mit Victor Adler besucht hatte, brachte die Causa im Parlament zur Sprache. Unter diesem öffentlichen Druck mussten die Ziegelwerksbesitzer - ein Bankenkonsortium - mit den Streikenden verhandeln: Eine Erhöhung der Löhne, die Einhaltung des Elfstundentags sowie die Zusicherung der Sonntagsruhe und die Abschaffung des ungerechten Prämiensystems sowie des verbotenen Trucksystems waren das Ergebnis.

Die inzwischen organisierten Ziegelböhm setzten auch durch, dass sie bei den Feiern zum 1. Mai nicht mehr arbeiten mussten. So konnte im Jahr 1897 die "Arbeiter-Zeitung" Folgendes berichten:

"Am Laaer Berg, im sogenannten Böhmischen Prater, wo die Ziegelarbeiter des Wienerberges und der benachbarten Werke zusammenkamen, ging's nachmittags lustig zu. Feierten doch die Ziegelarbeiter nicht nur das Weltfest des Proletariats, sondern auch den Sieg, den sie ohne Streik, nur durch die Macht ihrer Organisation errungen hatten. (. . .) Schon vor 2 Uhr kamen die ersten Züge von den kleineren Werken auf dem Laaer Berg an, und bald hatte der Laaer Berg ein festliches Aussehen. Gruppenweise begaben sich die Genossen in die einzelnen Gasthäuser, wo sie sich bald einer gemütlichen Unterhaltung hingaben." (Zitiert nach Christine Lapp und Harald Troch: "Favorit in Favoriten - Geschichte der Sozialdemokratie in Favoriten")

Das nebenstehende Bild sowie der Text in leicht veränderter Form sind dem Buch "Wo der Ziegelböhm tanzte . . ." von Karl Pufler entnommen, das vor kurzem im Verlag Milde erschienen ist. Erhältlich ist das Werk im Böhmischen Prater sowie beim Kulturverband Böhmischer Prater Tivoli, 1100 Wien, Laaer Wald 30 c, Telefonnummer:0664/358 95 89 oder unter der Wiener Nummer 707 05 05.

Freitag, 04. August 2000

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