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Nach über 50 Jahren sollen auch in Österreich die noch lebenden Zwangsarbeiter entschädigt werden

Der Preis der Vergangenheit

Von Christian Höller

Ohne Zwangsarbeiter hätte Österreichs Industrie die Produktion während des Zweiten Weltkrieges nicht aufrecht erhalten können. Sie war noch stärker auf ausländische
Arbeitskräfte angewiesen als die Wirtschaft des „Altreichs". Der Grund: Hitler ließ hier, vor allem in seiner Heimat „Oberdonau", gigantische Industrieanlagen bauen, für die wegen des Krieges keine
inländischen Arbeiter vorhanden waren: die Hermann-Göring-Werke (heutige VA Stahl) und die Stickstoff-Werke (spätere Chemie Linz), das Zellstoffwerk Lenzing und die Aluminiumwerke in Ranshofen. Auf
den großen Kraftwerksbaustellen (Kaprun, Ybbs-Persenbeug) und in den Steyr-Werken waren zeitweise mehr als die Hälfte der Belegschaft Deportierte. Bekommen haben die unfreiwilligen Arbeiter für ihre
erlittenen Qualen so gut wie nichts. Bei KZ-Häftlingen haben Unternehmer die Tagesmiete von sechs Reichsmark pro Facharbeiter und vier Reichsmark für Hilfsarbeiter direkt an die Waffen-SS abgeführt.
Und Ostarbeitern wurde der Großteil ihres Lohns automatisch für Unterkunft und Verpflegung abgezogen.

Nach über 50 Jahren des Verdrängens sollen endlich auch in Österreich die wenigen noch lebenden Zwangsarbeiter entschädigt werden. Dass ihre Ansprüche berechtigt sind, bezweifelt niemand prinzipiell.
Diese Opfer wurden, weil riesig an der Zahl und jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden, bisher von allen Wiedergutmachungsgesetzen planmäßig ausgespart. Den Anfang bei der
Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen machte Deutschland. Unter dem Druck amerikanischer Sammelklagen einigten sich im Dezember 1999 in Berlin Regierung, Industriebosse und Opferverbände auf einen
Entschädigungsfonds in der Höhe von 10 Mrd. Mark. Die deutsche Wirtschaft und die öffentliche Hand bringen je 50 Prozent der Summe auf, die genauen Details werden aber noch jetzt nachverhandelt.
Wichtig dabei: Die US-Regierung stimmte zu, deutsche Firmen durch bilaterale Vereinbarungen eine Rechtssicherheit vor amerikanischen Sammelklagen zu garantieren.

Gleich nach dem deutschen Abkommen drohte der prominente US-Opferanwalt Ed Fagan: „Jetzt ist Österreich dran." Der neuen Wiener Bundesregierung blieb somit gar nichts anderes übrig, als in die
Offensive zu gehen. Ähnlich wie in Deutschland plant die dafür zuständige Regierungsbeauftragte Maria Schaumayer einen runden Tisch, an dem Opferanwälte, Vertreter der Industrie und der Regierung
gemeinsam nach einer angemessenen Lösung suchen. Umstritten ist derzeit vor allem die Frage, wer für die in der Landwirtschaft eingesetzten NS-Zwangsarbeiter zahlen soll. In Deutschland gehen sie
nach der Grundsatzeinigung vom Dezember leer aus. Und auch Schaumayer stellte gleich in ihrem ersten Interview nach ihrer Bestellung zur Regierungsbeauftragten Mitte Februar unmissverständlich fest:
„Der Auftrag lautet, Zwangsarbeit in der Industrie zu entschädigen. Natürlich wurden auch in der Landwirtschaft Kräfte gegen ihren Willen eingesetzt, aber das hat auch für Österreicher gegolten.
Ich musste einen Sommer lang Seidenraupen für die Fallschirmseiden-Produktion füttern." Grundsätzlich glaube sie, so Schaumayer, „dass Zwangsarbeit in der Landwirtschaft nicht in den strengen
kriegswirtschaftlichen Rüstungsbegriff der Zwangsarbeit fällt."

Eine Welle der Empörung war die Folge. „So kann es nicht gehen. Ich habe Frau Schaumayer klipp und klar gesagt, dass Landwirtschaftsarbeiter entschädigt werden müssen", so der Wiener
Rechtsanwalt Georg Zanger, der vom Wiener Bezirksgericht Innere Stadt zum Abwesenheitskurator aller unbekannten NS-Zwangsarbeiter bestellt worden ist. Noch schärfer argumentiert Opferanwältin
Elisabeth Steiner, die die ukrainischen und weißrussischen Opferverbände vertritt: „Eine Lösung, von der Landwirtschaftsarbeiter ausgeschlossen sind, werde ich gewiss nicht akzeptieren."
Notfalls will sie sogar vor Gericht ziehen: „Ich will grundsätzlich nicht klagen, aber wenn es nicht anders geht, werde ich mir rechtliche Schritte vorbehalten."

Landarbeiter entschädigen?

Schützenhilfe in dieser Frage bekommen die Opferanwälte von der Industrie. „Die VOEST Alpine war bereits mit einer Delegation bei Frau Schaumayer. Und wir haben betont, dass in einer
gesamtösterreichischen Lösung nicht nur Arbeiter in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft eine Wiedergutmachung erhalten sollen", sagt Wilhelm Nitterl, Sprecher der VA Stahl AG. Bei
solch geballtem Widerstand machte Schaumayer bereits einen ersten Rückzieher. So meint sie jetzt: „Auch Landarbeiter sollen entschädigt werden." Hinter der zögerlichen Haltung Schaumayers
steckt freilich ein handfestes Finanzierungsproblem. Während die Industrie grundsätzlich zu Zahlungen für die von ihr ausgebeuteten Arbeiter bereit ist, müsste der Staat für die
Landwirtschaftssklaven aufkommen. Und das kann teuer werden. Denn im Dritten Reich waren anfangs über die Hälfte aller Deportierten in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt; im August 1944, als
bereits alles der Rüstungsproduktion untergeordnet war, immerhin noch 35 Prozent. Opferanwältin Steiner fordert daher, dass auch „der Bauernbund und Großgrundbesitzer wie die Kirche oder die
Aristokratie" einen finanziellen Beitrag leisten, da „dort sicher viele Zwangsarbeiter im Einsatz waren".

Doch die betroffenen Institutionen wollen davon nichts wissen. „Der Bauernbund wurde in der NS-Zeit enteignet. Wir werden daher sicher nicht für die Landwirtschaftsarbeiter aufkommen. Dafür ist
die Republik Österreich zuständig", unterstreicht Bauernbund-Direktor Franz Ledermüller. Außerdem habe es in der NS-Zeit knapp 650.000 land- und forstwirtschaftliche Betriebe gegeben, heute seien
es nur mehr 250.000. „Und man wird sicher nicht die heutigen Bauern für das damalige Geschehen zur Kasse bitten können", so Ledermüller. Ablehnend steht auch Stefan Schenker, Präsident des
Hauptverbandes der Land- und Forstwirtschaftsbetriebe Österreichs, allen Entschädigungsforderungen gegenüber: „Von juristischer Seite besteht kein Anspruch. Außerdem ist die Ertragsseite der land-
und forstwirtschaftlichen Betriebe derzeit gering. Ich sehe hier wirklich keine Möglichkeit, finanzielle Beiträge locker zu machen." Sollte die Regierung die Arbeiter in der Landwirtschaft
entschädigen wollen, müsse sie dafür auch das Geld bereitstellen. In die selbe Kerbe schlägt Erich Leitenberger, Sprecher der Erzdiözese Wien: „Die meisten katholischen Stifte und Klöster wurden
von den NS-Machthabern aufgelöst. Sie haben damals gar nicht existiert."

Die österreichische Industrie ist grundsätzlich zu einer moralischen Wiedergutmachung bereit. „Wir haben die juristischen Fragen genau geprüft. Die spätere VOEST kann nicht als Rechtsnachfolger
der Hermann-Göring-Werke angesehen werden. Denn die Hermann-Göring-Werke waren eindeutig im Eigentum des Deutschen Reiches", betont VA-Sprecher Wilhelm Nitterl. Allerdings gebe es eine moralische
Verantwortung. Diese sei aber „kein Thema für ein einziges Unternehmen", hier müsse es um eine gesamtösterreichische Lösung gehen. Nitterl schlägt daher · ähnlich wie in Deutschland · einen
„Opfer-Fonds" vor, an dem sich der Staat, die Wirtschaft und andere Institutionen beteiligen. Die Voraussetzung für ein finanzielles Engagement seitens der VA Stahl Linz sei aber, dass mit den
Zahlungen aus einem solchen Fonds die Ansprüche sämtlicher Gruppen und Personen als abschließend und endgültig befriedigt gelten und keine späteren Forderungen mehr kommen.

Auch Böhler-Uddeholm-Sprecher Randolf Fochler bevorzugt eine Fondslösung. „Wir werden uns nicht der moralischen Verpflichtung entziehen. Und so wie die Situation in Deutschland gelöst wurde, wäre
das auch ein gangbarer Weg für Österreich." Wichtig für Fochler ist, dass sich die Republik an dem Fonds beteiligt, und nicht einen Hauptteil der Last auf die Wirtschaft abwälzt. „Wir sind eine
Aktiengesellschaft. Der Betrag, den wir in den Fonds einzahlen, muss für uns tragbar sein." Sollte Böhler Uddeholm in den Fonds einzahlen, müsste garantiert sein, dass es später keine Klagen in
den USA geben kann.

Für Anwälte lukrativ

In Österreich und in Deutschland hat die Wirtschaft das unangenehme Thema Zwangsarbeit so lange zu ignorieren versucht, bis es ihr aufgezwungen wurde. Der berüchtigte amerikanische Anwalt Ed Fagan
knüpfte sich im Sommer 1998 ein Unternehmen nach dem anderen vor. Immer wieder zog er mit einer Handvoll ehemaliger Zwangsarbeiter vor einen Firmensitz, um vor laufenden Kameras Milliardenbeträge zu
fordern. Fagan hat unter anderem BMW, Siemens, Daimler-Benz, Krupp und Degussa mit Sammelklagen nach amerikanischem Recht überzogen. Anders als in Österreich und Deutschland gibt es in den USA keine
einheitlichen und eindeutigen Verjährungsfristen. Durch die sogenannten class actions (Sammelklagen), die es hierzulande nicht gibt, können auf einmal gigantische Summen eingeklagt werden. Und
die in den USA üblichen Erfolgshonorare, die bis zu einem Drittel des erkämpften Betrags ausmachen, sind für die Anwälte besonders lukrativ. Wenn ein Unternehmen in einem US-Bundesstaat eine Filiale
oder eine Tochtergesellschaft besitzt, kann es auf jeden Fall nach US-Recht geklagt werden. Die betroffenen Konzernspitzen wissen: Läuft in den USA einmal ein Verfahren wegen Nazi-Verbrechen, wird
das Image beträchtlich beschädigt. Dass die Anwälte zu wenig zimperlichen Methoden greifen, rechtfertigt Fagan: „Ohne diesen Druck hätten wir nichts erreicht."

Wie schwer die Nähe zu Nazi-Greuel gerade in den USA wiegt, zeigte die Fusion der Deutschen Bank mit Bankers Trust. Die Übernahme wurde erst genehmigt, nachdem alle Vorwürfe über eine Verstrickung
der Deutschen Bank in die Judenverfolgung geklärt wurden. Gegen österreichische Unternehmen wurde US-Anwalt Fagan im Herbst 1998 aktiv. Mit Sammelklagen deckte er zunächst den Magna-Konzern und die
VA Stahl AG ein. Seine Drohung, gegen die gesamte heimische Industrie vorzugehen, genügte, und schon schrillten bei allen betroffenen Konzernchefs die Alarmglocken. „Sobald ich hörte, was Fagan
vorhatte, wusste ich, dass Feuer am Dach ist", erzählt Lenzing-AG-Sprecherin Rosemarie Schuller. Lenzing hat daher 1998 eine Historikerkommission gebildet, „um die dunkeln Kapiteln unserer
Geschichte objektiv aufzuarbeiten", so Schuller. Auch die VA Stahl AG, deren Aktien sich teilweise im Besitz amerikanischer Pensions- und Investmentfonds befinden, fackelte nicht lange und setzte
eine Historikerkommission ein.

„Ich habe den Auftrag nur unter der Bedingung angenommen, dass ich unabhängig recherchieren darf und Zugang zu allen Archiven habe",erzählt Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte an
der Universität Wien und Leiter der VA-Stahl-Historikerkommission. „Wir haben tatsächlich jeden Keller auf den Kopf gestellt." Und siehe da, interne Quellen und Personalakten, von denen es
lange Zeit hieß, sie würden nicht mehr existieren, kamen doch ans Tageslicht. „So können wir eine umfassende Datenbank über ausländische und deutsche Arbeitskräfte bei den Hermann-Göring-Werken
erstellen", so Rathkolb. Der Abschlussbericht der Historikerkommission soll noch Ende 2000 vorliegen.

Die Aktivitäten der betroffenen österreichischen Industrieunternehmen sind genau koordiniert und untereinander abgestimmt. Schon seit Monaten treffen sich die Spitzen der großen Konzerne und deren
Anwälte zu einem regelmäßigen Erfahrungsaustausch. Wieviel die Firman an die noch lebenden Zwangsarbeiter zahlen werden, steht noch nicht fest.

Das deutsche Modell

In Deutschland hat die Wirtschaft große Probleme, ihre für den Entschädigungsfonds zugesagten 5 Mrd. Mark zusammenzubringen. Für das Eintreiben des Geldes wurde die Stiftungsinitiative
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gegründet. Bislang sind ihr erst 500 Unternehmen beigetreten, die zusammen nur 2,5 Mrd. Mark spenden wollen. Wolfgang Gibowski, Sprecher der
Stiftungsinitiative, betont daher unermüdlich, dass es sich um eine „Solidarleistung der gesamten deutschen Wirtschaft handeln soll". Entscheidend sei nicht, ob eine Firma im Dritten Reich 300
oder 30.000 Zwangsarbeiter beschäftigt habe. Schließlich müssten auch Opfer entschädigt werden, deren Unternehmen heute nicht mehr existieren. Gibowski wird daher alle Firmen, die nicht zahlen
wollen, anschreiben. „Aus diesem Brief wird erkennbar, welchen Betrag wir erwarten." Alle Betriebe, egal ob es sie in der NS-Zeit gegeben hat oder nicht, sollten ein Promille ihres
Jahresumsatzes beisteuern. Der Sprecher der Stiftungsinitiative will sanften Druck ausüben: „Wenn die Summe nicht angemessen ist, werden die Unternehmen eben nicht in die Stiftung aufgenommen und
stehen damit öffentlich am Pranger." Eine zwangsweise Vorschreibung lehnt Gibowski allerdings ab: „Das ist eine Frage von Moral und Verantwortung."

Auch Otto Graf Lambsdorff, deutscher Regierungsbeauftragter für die Zwangsarbeiterfrage, kritisiert das Engagement der deutschen Wirtschaft als „nicht besonders eindrucksvoll". Es gehe um eine
„Gesamtverantwortung der Wirtschaft, die sich ihrer Geschichte stellt". Wieviel Geld sollen Zwangsarbeiter als Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht erhalten? Klar ist, dass man mit keiner
Summe der Welt die Qualen vergessen machen kann. So gesehen wird jeder Betrag unangemessen bleiben. In Deutschland hat man sich darauf geeinigt, dass Sklavenarbeiter, die unter KZ-Bedingungen
geschuftet haben, bis zu 15.000 Mark erhalten. Beschäftigte, die aus ihren Heimatländern verschleppt und in der Industrie eingesetzt wurden, können mit 5.000 bis 6.000 Mark rechnen.
Landwirtschaftsarbeiter gehen nach der Berliner Grundsatzeinigung vom Dezember leer aus.

Nimmt man das deutsche Modell als Richtschnur für Österreich, so müssen sich Wirtschaft und Regierung auf einen Betrag von mindestens 7 Mrd. Schilling einstellen. Werden bei uns auch
Landwirtschaftsarbeiter in den Fonds aufgenommen, kommen noch einige Milliarden dazu. US-Anwalt Ed Fagan fordert von Österreich 14 Mrd. Schilling. Die Zeit drängt. Pro Monat sterben rund 1.200 der
heute noch lebenden 240.000 Sklavenarbeiter, die einst auf österreichischem Boden zum Dienst verdammt waren. Regierungsbeauftragte Schaumayer will noch heuer die ersten Beträge ausbezahlen.

Freitag, 24. März 2000

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