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In Singen am Hohentwiel erinnert die Theresienkapelle an Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene

Die Kirche auf dem Bunker

Von Martin Arnold

N icht, dass es dem kleinen Minis tranten Wilhelm Waibel an Gottesfurcht gefehlt hätte, wenn sein Blick während der Messe abschweifte, in Richtung
Kirchenbänke, wo ein seltsames Gitter einen Abgang in den Untergrund versperrte. Welchen Jungen packt nicht die Neugier, wenn er einen Geheimgang vermutet, und dazu noch einer, der ein Kirchenschiff
mit einem unbekannten Ort in der Außenwelt verbindet? Das war 1947 und der 13-jährige Wilhelm Waibel wusste im Grunde genommen, weshalb sich unter dieser Kirche ein Geheimgang befindet. Er hatte den
Krieg erlebt, die Bomben und das Ende des nationalsozialistischen Regimes. Die Männer, die nun in die neu erbaute Theresienkapelle zum Gottesdienst kamen, waren deutsche Kriegsgefangene. Der Junge
begann unbewusst zu begreifen, was Europa und Multikultur bedeuten, wenn Nationalisten das Sagen haben.

Es gibt wohl wenige Orte auf dem Kontinent, die den Schmerz der Menschen ganzer Völkern bündelten, und von dem so viel neue Hoffnung nach dem Krieg ausging, wie von diesem Ort in Singen, nahe der
Schweizer Grenze. Und wer die Geschichte dieser Kapelle kennt, versteht die jüngere Geschichte, auch die schweizerische besser. Singens Industrialisierung ist untrennbar mit den Firmen Alusingen,
Maggi, und Georg Fischer verbunden; alles Schweizer Unternehmen, die auch für Hitlers Kriegsmaschinerie von Bedeutung waren. Und damit diese Kriegsmaschinerie auch dann noch wie geschmiert
funktionierte, als die meisten deutschen Arbeiter an der Front kämpften, mussten auch die Schweizer Firmen Zwangsarbeiter anstellen. Sie hatten keine andere Wahl, wenn sie nicht die Verstaatlichung
der Produktion hätten riskieren wollen.

Rund sechs Millionen Menschen wurden aus Russland, Polen und der Ukraine verschleppt und der deutschen Industrie zugeführt. Ungefähr 3.000 von ihnen landeten in Singen. Es sind Schicksale
wie jenes von Anna Witkowska, die heute den Nachnamen Graber trägt und statt in der Ukraine im jurassischen Porrentruy wohnt. Sie wurde 1942 zusammen mit ihren Klassenkameraden von deutschen Soldaten
verschleppt. Die 17-jährige Anna landet in einer Kaserne, wo sie eine schlaflose Nacht verbrachte, bis sie schließlich mit Dutzenden von Landsleuten in einen Viehwaggon verfrachtet wurde. Dort
verbrachte sie die nächsten zwei Wochen ohne Essen und fast ohne Wasser. Weil keine Toiletten vorhanden waren, stank es auf dieser alptraumhaften Fahrt nach Westen entsetzlich.

Das Endziel für Anna Witkowska war ein Bauernbetrieb in Büsingen bei Schaffhausen. Hier arbeitete sie zwei Jahre lang, bis vier russische Burschen, die ebenfalls Zwangsarbeit auf dem Bauernbetrieb
verrichteten, in die Schweiz flohen. Anna Witkowska wurde der Konspiration verdächtigt, geschlagen, wieder frei gelassen und schließlich von der SS verschleppt und in eine Waffenfabrik verbracht, wo
sie abgesehen von einigen Wochen Zwangsarbeit bei Maggi, den Rest des Krieges schuftete.

Der Unterschied zwischen der deutschen und der Schweizer Fabrik war kein großer. In der Waffenfabrik wurde sie geschlagen, wenn sie ihr Akkordsoll nicht erfüllte. Immerhin entlohnte sie die
Firma mit Coupons, für die man im betriebseigenen Laden etwas Fleisch kaufen konnte. Von Maggi hat sie bis heute keinen Rappen gesehen. Auch dort herrschte ein Regime der Angst. Anna Witkoswska
hauste im Lager „Gütterli" · eine sinnige Anlehnung an die Maggi-Fläschchen, die im Schweizer Dialekt „Gütterli" genannt werden · mit vier Leidensgenossinnen in einem Zimmer. Duschgelegenheiten gab
es keine. Das Essen beim Lebensmittelproduzenten bestand manchmal aus nicht viel mehr als gekochten Kartoffelschalen. Zeugen sagten aus, dass das Fleisch manchmal jenes war, welches nicht über die
Freibank ins Lager kam: Küchenschaben und anderes Ungeziefer.

Üble Strafen

Der Kontakt mit Einheimischen zog Sanktionen bis zur Todesstrafe nach sich. Der Alltag spielte sich zwischen Lager und Produktion ab. Freizeit gab es keine, Verdienst gab es
keinen. Nur logisch, dass den Zwangsarbeitern auch das Verlassen des Lagers verboten war. Wer floh, dem drohte beim Scheitern ebenfalls die Todesstrafe. Andere Zwangsarbeiter-Lager in Singen hießen
Ostend und Westend. Dort wohnten vor allem jene Menschen, die bei Georg Fischer arbeiteten. Auch sie litten am Wohn- und Arbeitsort. Selten waren deutsche Arbeitskollegen bereit, das Risiko der
Menschlichkeit auf sich zu nehmen. Beispiel Hermann Amann, Personalchef von über 1.693 Zwangsarbeitern bei Georg Fischer: Über ihn äußerten sich mehrere der heute in der Ukraine lebenden, ehemaligen
Zwangsarbeiter positiv. Er sei streng, aber menschlich gewesen und habe sogar die im Lager geborenen Säuglinge stolz herumgetragen. Diese insgesamt 50 Kinder in Singen hätte es gar nicht geben
dürfen. Denn sexuelle Kontakte waren verboten. Obwohl sich Hermann Amann mit seiner menschlichen Haltung in Gefahr begab, ist ihm nie etwas geschehen.

Amann war in der Firma Georg Fischer eine Ausnahme. Bei Maggi zog Blutordenträger und Hitler-Freund Hermann Weiss ein Terror- und Angstregime auf, unter dem die 184 Zwangsarbeiter litten.

Aber auch bei den Alutöchtern Lonza in Rheinfelden (622 Zwangsarbeiter) und Alusingen (792 Zwangsarbeiter) ging es den Untergebenen schlecht. Ob und wie hoch die Zwangsarbeiter entlohnt wurden, ist
heute umstritten: Anna Witkowska hat beispielsweise nie einen Lohn erhalten. In einigen Firmen wurden Wertmarken als Entlohnung abgegeben. Nur waren die nie einlösbar. Vom angeblich normalen
Einkommen wurde den Zwangsarbeitern die sogenannte Ostarbeiterabgabe abgezogen, welche die Firmen dem Naziregime zur weiteren Finanzierung der Kriegsmaschinerie überwiesen.

Vom Rest wurden großzügige Abzüge für Unterkunft und Verpflegung verrechnet. Auch das kümmerliche Überbleibsel sahen manche Zwangsarbeiter nie.

Haben die Firmen an den Zwangsarbeitern verdient? Sie mussten für die Zwangsarbeiter eine Ostarbeiterabgabe an das Naziregime entrichten. Dennoch waren die osteuropäischen Arbeitskräfte
billiger als deutsche Arbeiter und der Krieg diente Firmen wie Georg Fischer, um sich von mittleren Betrieben zu Großunternehmen zu wandeln. Laut Recherchen der Historikerin Sophie Pavillon aus Cully
steigerte der Rüstungsproduzent Georg Fischer seinen Gewinn von 800.000 im Jahre 1939 auf 4,96 Mill. Franken im Jahre 1944.

Kriegsprofiteure

Die Schweizer Firmen schafften es geschickt, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Nicht nur, dass einige Firmen während des Krieges einen kräftigen Wachstumsschub durchmachten und
erst zu dem wurden, was sie heute sind; sie zogen auch den Kopf nach Kriegsende elegant aus der Schlinge.

Wilhelm Waibel erinnert sich an seine Kindheit: „Die Franzosen demontierten nach Kriegsende deutsche Firmen und transportierten Maschinen als Reparation ab. Anders bei Schweizer Firmen:
Sie hängten flugs einen Zettel mit weißem Kreuz auf rotem Grund vor die Werkstore. Der Schutzbrief bewahrte sie weitgehend vor der Demontage und ermöglichte es, einige Monate nach Hitlers Tod wieder
mit Volldampf zu produzieren."

Auch für die Zwangsarbeiter begann nach Kriegsende eine neue Ära: Anna Witkowska floh mit vielen Landsleuten in die Schweiz und arbeitete dort bei Bauern und im Service. Bevor sie mit den
anderen Russen und Ukrainern zurück fahren sollte, erfuhr sie, dass die Zwangsarbeiter wegen „Kooperation mit dem Feind" von Stalin nach Sibirien verbannt würden. Der Aufenthalt
sollte für Tausende so lange dauern wie die Zwangsarbeit in Hitlers Industrie.

Anna Witkowska hatte Glück: Die Hilfe einiger Schweizer und ihres späteren Mannes verhinderten eine Rückführung. Allerdings sah sie ihre Mutter erst 33 Jahre, nachdem sie aus dem Klassenzimmer
verschleppt wurde, wieder. Es war ohnehin eine traurige Rückkehr für viele Ukrainer. Wilhelm Waibel erinnert sich an seinen ersten Besuch in Kobeljaki. „Ich lernte eine Frau kennen, die
bei Georg Fischer arbeitete und für einige Jahre in der sibirischen Verbannung lebte. Bei ihrer Rückkehr ins Elternhaus sagte ihr kriegsinvalider Bruder zur Begrüßung: ,Du hast die Granaten
hergestellt, die mir das Bein zerfetzte.`"

Das Kriegsende bedeutete noch lange nicht das Aus für die Arbeitslager Ostend und Westend, wo die Arbeiter von Georg Fischer untergebracht waren. Nun wurden deutsche Kriegsgefangene und
regionale Nazigrößen hier untergebracht. Sehr viel später, als Wilhelm Waibel Prokurist bei Georg Fischer war, begann er sich mit der Geschichte seiner Heimatstadt zu beschäftigen. Sein Buch
„Schatten am Hohentwiel" ist eine Dokumentation über jenen Geschichtsabschnitt einiger Schweizer Unternehmen, über den sie lange Zeit nichts wissen wollten.

Das Buch geht aber auch auf die Zeit nach dem Krieg ein, und auf das vielleicht erste Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung. Denn 1946 befahl der französische Lagerkommandant Jean Le Pan de
Ligny den Bau einer Kapelle für den Gebrauch der deutschen Gefangenen. Sie sollte auf einem Bunker stehen und die Treppe vom Kirchenschiff herunter führt mitten in die Erinnerung an Bombenangriffe.
Ein Jahr später wurde die Theresienkapelle auf jenem Boden, der von den Tränen der Zwangsarbeiter getränkt wurde, als Symbol einer neuen Ordnung in Europa eingeweiht. Die einstigen Feinde fanden
sich in Singen auf Boden, der in Schweizer Besitz ist, zum ersten gemeinsamen Werk zusammen. Das Messgeschirr wurde von Schweizer Pfarreien gespendet.

Ein ungeliebtes Kind

Im Herbst 1948 wurde das Lager aufgelöst. Die Gefangenen gingen nach Hause. Zurück blieb die Theresienkapelle, die langsam zerfiel. „Sie war über die ersten Jahrzehnte
hinweg ein erstes, ungeliebtes Kind der deutsch-französischen Beziehung", sagt heute Wilhelm Waibel über das Kirchlein. Allen voran kümmerte er sich mit Unterstützung des katholischen
Pfarrers Gebhard Reichert um dieses Waisenkind und erreichte, dass die Theresienkapelle heute als Denkmal geschützt, vor dem Abbruch sicher scheint. Ein Problem stellt sie dennoch dar. Sie ist
renovationsbedürftig, aber keiner fühlt sich für sie richtig verantwortlich. Die Georg Fischer AG nicht, die den Boden zur Verfügung stellte und Singens Katholiken nicht, weil die Kirche zu keiner
Kirchgemeinde gehört. 1997, anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Kirche schenkte sie die Georg Fischer AG der Stadt Singen. Aber die Verträge sind bis heute nicht unterzeichnet. Die Stadtväter
haben dem „geschenkten Gaul ins Maul geschaut" und gemerkt, dass einiges an Renovationskosten ansteht. Dazu gehört die Restauration der Bilder, der Einbau einer Heizung, die Stromversorgung und die
Kirchenbänke. Das 200 Gläubige fassende Gotteshaus wird heute von der „Missione Cattolica italiana" in Singen genutzt. Und wieder ist das Schicksal der Nutzer dieser Kirche untrennbar mit den
Schweizer Firmen in Singen verknüpft. Es sind ihre Arbeiter aus Süditalien, die hier fern der Heimat ein Stück Zuhause geschaffen haben. Sie pflegen ihre Prozessionen und halten die Messen auf
italienisch. Pfarrer Antonio Bottoni ist sich des Bedeutung seiner Kapelle bewusst. „Wir Italiener beteiligen uns jährlich an einem Friedensmarsch. Dabei erinnern wir uns an die Erbauer
der Theresienkapelle und an das Schicksal der Menschen, die davor auf dieser Erde gelebt haben." Die italienischen Katholiken haben in den vergangenen drei Jahrzehnten tatkräftig zum
Erhalt der Kapelle beigetragen.

An der Kirche sollten viele Länder ein Interesse haben: Russland, Polen, die Ukraine, Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Italien. Sie steht für das Europa wie es ist: Aus Kriegswirren gewachsen
und zu einer Einheit verschmolzen. Gerade deshalb ist die Theresienkapelle erhaltenswürdig.

Buchhinweis: Wilhelm Waibel: Schatten am Hohentwiel. Erschienen im Labhard-Verlag, Konstanz.

Freitag, 24. März 2000

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