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Seit 300 Jahren prägt der Canal du Midi die Landschaft

Südfrankreichs

Die gezähmte Wasserstraße

Von Thomas Veser

Umgeben von den Wäldern der südwestfranzösischen Montagne Noire, zählt Naurouze zu den einsamsten Plätzen im Département Aude. Dass dort exakt auf 194 m die
Wasserscheide zwischen Atlantik und Mittelmeer verläuft, wissen bestenfalls Frankreichs Geographen; gäbe es nicht in der Nähe der Passhöhe von Naurouze einen alten Stausee auf fast achteckigem
Grundriss und einen rätselhaften Obelisken inmitten eines geometrisch angelegten Platanenhains, dann würde sich ein Besuch wohl kaum lohnen.

Sollten sich die natürlichen Risse in dieser Steinsäule jemals schließen, so erzählen die Bewohner der benachbarten Ortschaften, werde die Gesellschaft dem Laster verfallen und untergehen. Wer diese
Legende in die Welt gesetzt hat, kann heute niemand beantworten; mit Gewissheit hatten die Stifter des Obelisken 1825 eine andere Absicht verfolgt: Als Nachkommen des berühmten Pierre-Paul Riquet
(1604 bis 1680), der im Auftrag des Sonnenkönigs in nur 15 Jahren den „Canal du Midi" geschaffen hatte, wollten sie damals an das kühnste und größte Bauprojekt des „Grand Siècle" erinnern.

Mit Vorbedacht hatten die Nachfahren Riquets, der später von Ludwig XIV. geadelt wurde, für ihr Monument die Schwelle von Naurouze gewählt. Denn diese natürliche Trennlinie hatte alle früheren
Anläufe, den Atlantik über einen Kanal mit dem Mittelmeer zu verbinden und damit den langen und gefährlichen Seeweg vorbei an der Straße von Gibraltar zu vermeiden, seit der Antike zum Scheitern
verurteilt.

Ricquet untersuchte den Verlauf der Wasserströme im Gebiet der Montagne Noire und fand schließlich die Lösung. Er ließ das Wasser der Bäche an der Südseite des Gebirges über 54 km lange gemauerte
Rinnen bis nach Naurouze fließen. Das so herbeigeführte und im Rückhaltebecken gesammelte Wasser konnte · je nach Bedarf · in die bereits angelegten Abschnitte des „Canal du Midi" auf beiden
Gebirgsseiten weitergeleitet werden. Schon damals wollte Ricquet, der den 240 km langen Kanal von Toulouse bis zur Mittelmeerlagune bei Thau nahe der Stadt Sète überwiegend eigenhändig geplant hatte,
seine Meisterleistung gebührend in Szene setzen. Im Zentrum des Beckens sah er das Abbild des Königs in einem von Pferden gezogenen Wagen vor. Ein königlicher Fuß sollte auf einem Globus ruhen,
„um die Macht Seiner Majestät über die Erde und die Wellen darzustellen und so zu zeigen, dass durch die Verbindung beider Meere alle Völker zu seinen Untertanen geworden sind".

Ricquets ehrgeiziges Seemonument blieb allerdings ein Traum und auch seine geplante Neustadt aus identischen Arkadenhäusern auf regelmäßigem Grundriss sollte nie zustande kommen.

Die Wasserrinnen transportierten fortwährend große Mengen an Geröll in das Rückhaltebecken, das bald mehr Schlamm als Wasser enthielt. Riquet blieb keine andere Wahl, als die fehlerhaft konstruierten
Zuleitungskanäle neu verlegen zu lassen.

Technische Pannen konnten Riquet, der sich aus eher bescheidenen Verhältnissen zum obersten Salzsteuereintreiber des Königs im Languedoc empor gedient hatte, nicht aus der Bahn werfen. Als
selbsternannter „Moses des Languedoc" sollte der Kanal sein Lebenswerk werden. Dafür war er bereit, sein Vermögen und sogar die Mitgift der beiden Töchter einzusetzen.

Als er den französischen Finanzintendanten Colbert für sein ehrgeiziges Projekt gewinnen wollte, stellte sich zunächst die Frage, wer die enormen Kosten in Höhe von 20 Mill. Livres tragen sollte.
Fasziniert von der Vorstellung, auf diese Weise seinen Ruhm noch zu mehren, willigte der Sonnenkönig ein und stellte mehr als 8 Mill. Livres bereit. Dann überzeugte der unermüdliche Riquet die Stände
der Provinz Languedoc, in etwa die gleiche Summe hinzuzufügen. Den Rest steuerte er aus seinem Privatvermögen bei.

Sein erstes Bauwerk, das 1667 begonnen wurde, sollte bereits alle Rekorde in den Schatten stellen. Das 67 ha große Staubecken von Saint-Ferréol fasste über sechs Millionen Liter Gebirgswasser, das
zur Regulierung der Wassermenge in den Kanalabschnitten vorgesehen war.

Selbst Frankreichs berühmtester Architekt, der Festungsbauer Vauban, würdigte anerkennend und nicht ohne Neid Riquets Leistung, die von den über 300 technischen Bauwerken des Canal du Midi als
herausragendste betrachtet wird. Immerhin war Vauban später vergönnt, Riquets Beckenumfassungen, die sich als zu schwach erwiesen, durch eine dem Wasserdruck besser gewachsene und höher angelegte
Rundmauer zu ersetzen.

Das hydraulische

Meisterwerk

30 m unter dem Bassin befinden sich mit Hydraulik ausgestatteten Wasserkammern, über die wohldosiert die benötigten Mengen in die Zuleitungskanäle eingespeist wurden. Neben diesem frühen
Meisterwerk der Hydraulik erlaubt eine Ausstellung in einem renovierten Gebäude aus dem 17. Jahrhundert Einblicke in Wohnkultur und Arbeitstechnik jener Taglöhner, die der Unternehmer für seine
Großbaustelle anwerben ließ.

Riquet hatte es eilig und deshalb sorgte er dafür, dass die Zahl von 2.000 Arbeitskräften bald versechsfacht wurde. „Gens de l'eau" (Wasserleute) genannt, wurden sie in zwölf Gruppen unter
Leitung eines Generalinspekteurs eingeteilt. Diese wiederum gliederte Riquet in Trupps zu 50 Mann mit jeweils einem Vorarbeiter.

Waren männliche Arbeitskräfte knapp, wurden auch Frauen angeworben. Durch Vergünstigungen, die für damalige Verhältnisse ungewöhnlich waren, versicherte sich der Flussschifffahrts-Pionier der Treue
seiner Arbeitskräfte: Sie erhielten ihren Lohn auch an Feiertagen, Sonntagen, bei Regenwetter und selbst im Krankheitsfall.

Ihre Nachfahren leben bei Saint-Ferréol mit ihren Familien in den historischen Gebäuden des Großen Zeitalters. Als Staatsangestellte warten sie Schleusen oder halten Wasserkanäle von Algenbewuchs
frei. Sie nennen sich bis heute „Gens de l'eau" und zeigen sich im Gespräch mit Riquets außergewöhnlichem Sozialmodell bestens vertraut. Denn sein Lebenswerk symbolisiert nicht nur den
technischen Fortschritt, der später in die Industrielle Revolution einmünden sollte; der „Canal du Midi", der in weiten Abschnitten authentisch erhalten ist, konnte wohl nicht zuletzt deshalb so
zügig entstehen, weil die sozialen Beziehungen innerhalb der Arbeitswelt vorbildlich geregelt waren.

Je weiter Riquet in Richtung Mittelmeer vordrang, desto kühner wurden seine Projekte: Bei Fonserannes galt es, einen Höhenunterschied von 21 m zu bewältigen. Dort ließ er in treppenartiger Abfolge
sieben Einzelschleusen anlegen. Und bei Laredort (Aude) schuf Riquet ein Überlaufbecken, um bei starken Regenfällen mit Hochwassergefahr auch diesen Kanalabschnitt stets schiffbar zu halten.

Wenn der Geländeverlauf keine andere Wahl ließ, schuf er Aquädukte, so bei Repudre. Weil bei Malpas ein Riesenfels den Weg versperrte, ließ Riquet in nur wenigen Tagen einen 700 m langen Tunnel durch
das Gestein treiben.

Auf der Höhe der Festungsstadt Carcassonne angekommen, musste er sein Projekt kurzzeitig unterbrechen, da die Bürger überraschend ablehnten, sich angemessen an den Kosten zu beteiligen. Riquet rächte
sich, indem er den Kanal in 2 km Entfernung von der Stadt weiterbaute. Jahrzehnte später ließen die reumütigen Einwohner einen Zugangskanal anlegen.

Seine Wasserstraße erlaubte nicht nur, Waren wesentlich schneller und preisgünstiger vom Südwesten in den Süden zu transportieren; mit ihrer Fertigstellung gehörten auch die früheren
Flussüberschwemmungen, die der Landwirtschaft schwere Schäden zufügten, der Vergangenheit an. Gleichzeitig modellierte Riquet die Landschaft, indem Zehntausende von Bäumen, vor allem Platanen,
entlang der Uferabschnitte gepflanzt wurden: Die technische Meisterleistung trat in eine harmonische Wechselwirkung mit einer ebenfalls von Menschenhand gestalteten Natur. „Man sieht die Gegend
ebenso gut, ja sogar besser, als von der Kutsche aus. Ich weiß nicht, warum ich mir das Gegenteil vorgestellt habe", wunderte sich 1838 Honoré de Balzac bei einem Schiffsausflug nach Carcassonne.

„Man muss die Arbeit vollenden oder dabei sterben", lautete der Wahlspruch des Unternehmers, der stets das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden suchte. Für ihn sollte sich der zweite Teil der
Losung erfüllen: Im Oktober 1680 starb Pierre Paul Riquet, 76-jährig, an den Folgen von Erschöpfung und Fieber, sein Sohn führte die Arbeit fort. Nur noch eine Meile hatten ihn damals vom Endpunkt,
der Lagune von Thau, getrennt. Ein halbes Jahr später weihte man den Wasserweg mit großem Pomp ein und ließ sich dabei auch nicht von der Tatsache beirren, dass die tatsächlichen Baukosten fünfmal so
hoch ausfielen wie ursprünglich geschätzt.

Mit dem Bau des Garonne-Seitenkanals zwischen Toulouse und Bordeaux wurde der Canal du Midi 1856 an den Atlantik angeschlossen. Von da an mussten Frachtschiffe nicht mehr die gefährliche Garonne
benützen. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erwarb der Staat die gesamte Wasserstraße.

War dem Canal du Midi bereits durch die Eisenbahn eine ernstzunehmende Konkurrenz erwachsen, verurteilte der Einsatz der neuartigen Freycinet-Transportschiffe Riquets Wasserweg seit 1880 allmählich
zur Bedeutungslosigkeit. Die über 38 m langen Frachter passten nicht durch die alten Schleusen, die nur für 30 m lange Schiffe angelegt waren.

Niedergang und neuer Anfang

Weil sich die Zahl der Warenschiffe ständig verringerte, sahen die Behörden in der Folgezeit keinen Grund, das zerfallende Meisterwerk instand zu halten. Als die Verwaltung von Toulouse, von wo
aus der historische Wasserweg seinen Anfang nimmt, zu Beginn der sechziger Jahre den Bau einer modernen Schnellstraße plante, erwog man zunächst ernsthaft, den nutzlos gewordenen Kanal für den
Verlauf der Trasse zu opfern. Der heftige Protest französischer Historiker veranlasste die Planer, ihr Projekt aufzugeben. Und weil Wochenendbesucher an den Ufern des mit Beton mehr schlecht als
recht ausgebesserten Rückhaltebeckens Saint-Ferréol regelrechte Müllkippen zurückließen, wollten die Behörden Anfang der neunziger Jahre das ganze Gebiet mit einem hohen Metallzaun absperren. Durch
die Gründung der Dienststelle „Voies navigables de France" (VNF) mit Sitz in Toulouse ist die Rettung des Canal du Midi seit 1992 Aufgabe der öffentlichen Hand. Für Verwaltung, Unterhalt und
wirtschaftliche Nutzung der Wasserstraße zuständig, beschäftigt die VNF zwar 370 Angestellte und erhält jährlich ein Budget von über einer Milliarde Francs; es verkehrt heute jedoch kein einziges
Frachtschiff mehr auf dem Canal du Midi.

Dafür ist die Zahl der Touristen, die Frankreichs Südwesten von einem Schiff aus besichtigen wollen, inzwischen jährlich auf über 50.000 angestiegen. Als Riquets Meisterwerk 1996 auf die UNESCO-
Welterbeliste aufgenommen wurde, meldete sich plötzlich auch die sonst zurückhaltende VNF zu Wort: Der Canal du Midi, ließ sie wissen, müsse Herzstück des südfranzösischen Flusstourismus werden.

Seither sollen vom Einsturz bedrohten historische Gebäude gerettet werden. Entlang der Uferzone sind feste Wege für Fahrradfahrer und Reiter vorgesehen. Einige der leerstehenden Wasserhäuser sollen
später als Kulturzentren, Gaststätten und Kunstgalerien dienen. Als die Behörden anlässlich der Weltkulturerbe-Nomination ein Volksfest vorbereiteten, wollten die Verantwortlichen eine majestätische
Kriegs-Galone aus der Zeit des Sonnenkönigs nachbauen und, von einem Feuerwerk begleitet, in den Kanal einfahren lassen. Erst im letzten Moment merkte man, dass Pierre-Paul Riquets Kanal für
Kriegsschiffe einige Meter zu schmal angelegt war.

Freitag, 17. März 2000

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