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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Die Triester Straße · ein Zentrum des halbweltlichen Wien

Biotop aus Beton, Bier und Benzin

Von Michael Hafner

Die Stadt findet ein abruptes Ende. Zu viel Platz, zu viel Straße bedeuten das Ende des Städtischen; Brückengeländer, Straßenbahnstromleitungen, vorüberziehende
Autokolonnen und endlos breite Fahrbahnen behindern das Weiterkommen. Der Matzleinsdorfer Platz gleicht mitten in der Stadt dem Ende der Welt. Frei bleibt nur der Weg nach unten: in eine der
ältesten, größten und zugleich leersten Unterführungen Wiens. Es gibt keine Straßenmusikanten in den in schmutzigem Beige verfliesten Gängen, kaum Obdachlose und nicht einmal Zeitungsverkäufer. Ein
paar lustlose Filzstiftgraffiti und einige Jahrzehnte alte Plakate geben durch Dreck den Weg ans Tageslicht frei.

Dahinter liegt die Triester Straße. Der Gürtel, der Prater und die Felberstraße haben ihre guten Zeiten gehabt und ihre Legenden verbreitet. Nur die Triester Straße liegt gänzlich mythenlos inmitten
des sechsspurigen Verkehrs · und hat sich doch in den vergangenen Jahren zu einem neuen Zentrum des halbweltlichen Wien gemausert. Winzige Lokale reihen sich aneinander, versteckte Bordelle locken
Kunden und sind der letzte Gegenpol zu den im Einfamilienhausstil gehaltenen Großetablissements in Vösendorf und Breitenfurt, gegen Abend häufen sich tiefergelegte Sportautos mit Breitreifen und
Spoiler · doch die Gehsteige bleiben immer leer. Es ist ein Biotop aus Beton, Bier und Benzin, das sich vor den Blicken der abends in Kolonnen vom Shopping nach Hause Ziehenden verbirgt. Passanten
gibt es auf der Triester Straße nicht. Und abgesehen von den wenigen Händlern, die die Stellung zu halten versuchen, ist das den Geschäftsleuten recht.

Biergarten mit S-Bahn-Blick

Das „Wettpunkt-Café" in der Passage bei der Straßenbahnhaltestelle versucht trotzdem, mit einem Biergarten zu punkten. In der Passage selbst leuchten die üblichen Schriftzüge, der Weg nach
draußen bietet rechts den Blick auf eine Müllhalde, in der paradoxerweise Ordnung zu herrschen scheint: Bierdosen, Tafelwein-Tetrapacks, alte Kleidungsstücke und Zeitungspapier wirken wie sauber
zusammengekehrt, und doch wächst der Haufen stetig. Links liegt der Biergarten, dessen zusammengeklappte Holzstühle aussehen, als hätten sie ihren eigentlichen Zweck zuletzt in der Zeit der
Pferdefuhrwerke erfüllt. Kein Wunder: Statt einer lauschigen Laube wird das Fleckchen von den Gleisen der Schnellbahn überdacht, die Aussicht auf Gärten oder zumindest grün bewachsene Mauern wird
durch direkt angrenzende Straßen ersetzt. Die einzige nicht von Verkehrsflächen umgebene Seite öffnet sich zur Müllhalde hin.

Äußerlichkeiten aber sind hier nicht von Belang: Stammgäste starren versunken auf Bildschirme, die Fußballspiele, Pferderennen und Tennismatches übertragen; der Tagesablauf wird von Seideln,
Entscheidungen, leisen Flüchen und schrumpfenden Wetteinsätzen bestimmt. Nacht ist es dann, wenn kein Geld mehr vorhanden ist und wenn draußen vor den Glasscheiben gebückte, zitternde Gestalten
auftauchen, für die ein Job als „Augustin"-Verkäufer ähnlichen beruflichen Erfolg darstellen würde wie für andere die Berufung zum Bundeskanzler. Auch mit ihnen will niemand etwas zu tun haben.
Und nicht einmal sie kämen auf die Idee, einen Fuß auf die Gehsteige der Triester Straße zu setzen. „Hau eam auße, den Giftler", fluchen angespannte Wettfreunde, wenn scheue Junkies den Wirt
dazu überreden wollen, ihre Groschensammlung in Schillingmünzen umzutauschen, um den Zigarettenautomat damit zu füttern.

Hat man einmal die letzte Passage, die in sanfter S-Krümmung und diesmal grünlichen Fliesen unter die Fahrbahnen führt, hinter sich gebracht, sind Schlangen von vor der Waschstraße der Tankstelle
wartenden Männern das letzte Lebenszeichen. Aber auch sie sitzen in Autos. Fußgänger sind so selten wie Cowboys ohne Pferd: Sie erwecken den Eindruck, eine unangenehme Sache hinter sich bringen und
inkognito wieder verschwinden zu wollen.

Auf manche trifft das tatsächlich zu: auf die Besucher der zahlreichen Bordelle, Studios und Souterrains. Keiner von ihnen verirrt sich zufällig hierher; kein Straßenstrich lockt Vorüberziehende an,
nicht einmal erotische Fotos oder Versprechungen schreien nach Aufmerksamkeit. Schlichte Klebebuchstaben zwischen goldenen Sternen versprechen „Neu! Neu!" und werden nur von zwei dezenten roten
Spots unterstützt; das Etablissement, das sich mit „Superpreise! Neueröffnung!" kaum von der Werbelinie eines Supermarktes unterschied, ist bereits wieder geschlossen, im „Studio Medusa"
geht man noch hinter staubigen schwarz verklebten Fenstern zur Sache und wenige Hausnummern weiter findet sich eine der kuriosesten Geschäftsfassaden Wiens. Das „Haus Phuket" lockt mit
„Thai-Massage" in Goldlettern, das Schaufenster daneben ist gelb verklebt und wirbt für eine „Werbeagentur Sade". Darunter preist ein Plakat geschmackvoll die Vorzüge eines
Altwarenhändlers: „Todesfall in Wien? Wir räumen Wohnungen und Keller", steht neben dem unübersehbaren Bildnis eines in schwarze Kutte gekleideten Sensenmanns.

Der diskrete Eingang

Die Tür gleich daneben trägt nur den dezenten Hinweis: „Eingang Nr. 49a". Dort residiert Domina Manuela. Ihr ist das Fehlen von Laufkundschaft nur recht. Passanten haben sich noch nie in ihr
Lokal verirrt; ihre Sklaven akquiriert sie mit eindrucksvollen Auftritten im Internet: Ein von flammenden Rahmen umgebenes romanisches Portal rät dem Neugierigen „Auf die Knie! Und bitte um
Einlass!", dazu orgelt eine abgespeckte Version von John Carpenters „Halloween"-Titelmelodie. Die reale Eingangspforte ist die Riffelglastür eines Gemeindebaus der siebziger Jahre. Die
Kunden scheinen trotzdem zufrieden zu sein. Und auch sie tauschen ihre Erfahrungen im Internet aus: Wenn im Online-„Sexführer" über Empfehlungen und Warnungen debattiert wird, spielt die Triester
Straße eine große Rolle. Den Vorteilen der unbeobachteterweise möglichen Ankunft und Abfahrt steht der Nachteil gegenüber, unmittelbar nach getaner Arbeit mit einem Schritt in eine triste
Verkehrshölle zu treten · das schadet dem Entspannungseffekt.

Trotzdem schwärmen die Sklaven von ihrer Domina: „Für alle, die SM lieben, sicherlich die beste Adresse Wiens", „Sie ist zwar nicht mehr so hübsch wie auf den Bildern, aber sie ist wahrhaftig sehr
erfinderisch in Fesselungstechniken", „Es ist sehr schwer, einen Termin zu bekommen · unbedingt telefonisch vorreservieren", „Ich spare schon fleißig auf den nächsten Termin bei ihr". Die Herrin
selbst äußert sich nicht: „Über das Geschäft rede ich nur mit meinen Kunden."

Schweigsam sind auch die Kunden des Café „B 17", des „Café Ramada" oder des „Café Snob" · zumindest dann, wenn es um ihre Vergnügungen geht. Bacardi Cola um 21 Schilling löst
zwar Zunge und Stimmung, trotzdem bleibt man lieber unter sich. Das „B 17" gehört, wie viele Lokale entlang der Triester Straße, zu den Treffpunkten der Roadrunner. Man versammelt sich, trinkt
sich Mut an und plant die nächsten Rennen, bevor es wieder auf die Straße geht. „Und wir wissen zwar alles, kommen aber trotzdem immer einen Schritt zu spät", seufzen die gegen die Rennen
ankämpfenden Polizisten der Wiener Verkehrsabteilung.

Uniformierte sorgen zwar für einen ruhigen Abend · aber nur in ihrem unmittelbaren Blickfeld. „Geplante Rennen finden dann halt eine Stunde später einige Straßen weiter statt." Und Zivile
werden von Lokalbesitzern hinausgeworfen. Die Wirte kennen ihre Klientel und deren Konsum- und Trinkfreudigkeit. Sogar Tankstellenpächter haben schon auf der Lauer liegende Streifenwagen aus ihrem
Reich vertrieben: „Das muss man hinnehmen. Ein Recht darauf haben wir nicht, und wer die bessere Kundschaft ist, versteht sich wohl von selbst."

So bleibt der in Mengen hinuntergestürzte Bacardi Cola der einzige Freund der Polizei. Nicht zum Selbertrinken: Ermattete Roadrunner vergessen mitunter ihre Rennen und tödliche Unfälle
Betrunkener sorgen manchmal zumindest für einige Tage erschreckter Ruhe. Im Allgemeinen lassen aber schon die vor einem Lokal geparkten Autos erkennen, ob sich die Hoffnung auf einen ruhigen Abend
erfüllen wird. Honda CRX, Golf GTI und Opel Kadett GSI sind die Typen, die Porsche und Ferrari ersetzen, mit flammenförmigen Klebern oder Airbrushs in giftigen Farben geschmückt sind und meist noch
Spuren früherer Kollisionen aufweisen.

Lichtblicke in der Triester Straße sind selten. Es gibt sie allerdings durchaus, wenn sich, eingekeilt zwischen Industriegebäuden, Bürohäusern und Rohbauten der Blick auf ein in der Dämmerung
liegendes Hügelpanorama eröffnet. Dunstiges Rosa liegt überm Horizont, Baustellen werfen den Verkehrslärm nicht so direkt zurück wie glatte Gemeindebauwände und sorgen für nahezu ruhige Momente, und
Autoscheinwerfer auf der Südautobahn sorgen das ganze Jahr über in der Dämmerung für eine ferne weihnachtliche Lichterkette.

Der „Erholungspark" Wienerberg dagegen ist weniger romantisch. Die Dürre seiner Sträucher und Wiesen ist symbolisch für den 10. Bezirk, seine von Autohäusern beherrschten Seitengassen und die Weiten
der Per-Albin-Hansson-Siedlung; sie erinnert eher an die begangenen Lustmorde als an erholsame Spaziergänge. Und doch sind es nur drei Schritte, die von der stadtimmanenten Verlängerung der Autobahn
in eine burgenländisch-ungarische Steppe führen. Von der vollkommenen Neusiedlersee-Atmosphäre trennen allerdings dennoch einige Details: Der Geruch des McDonalds-Restaurants auf der anderen
Straßenseite verfolgt den Spaziergänger bis tief in den Park hinein, ein Blick zurück zeigt selbst auf mehrere hundert Meter noch die rotleuchtenden Insignien der Coca-Cola-Zentrale und auch das
Philips-Haus weigert sich hartnäckig, aus dem Blickfeld zu verschwinden. Mit seinen überhängenden Seitenflügeln ist es trotz seines Alters · es war einfach immer schon da · leuchtendes Vorbild für
Generationen von Lego-Häuslbauern. Und jenseits seiner gräulichen Fassade sind auf der Triester Straße Autobahn und Erholungspark einander im direkten Duell überlassen.

Das normale Leben

Der Anspruch auf normales Leben wird im Einzugsgebiet der Triester Straße nur selten erhoben. Normales Leben auf Wienerisch bedeutet Heimeligkeit, Musik und Wein. So fernab man hier auch von
Heurigen, sumpfigen Espressos und klassischen Branntweinern ist, so findet sich doch eine Enklave der saufenden Seligkeit. Die „Fuhrmannsschenke" verspricht, mitten in den endlosen Ebenen
Wiens, Hüttenzauber bei Tanz und Musik. Mindestens wöchentlich treffen einander resistente Altwiener Charaktere, um beim gemeinsamen Schunkeln den Widrigkeiten der Betonwüste, der schnellen Jungs
auf ihren breitbereiften Schlitten und der allgegenwärtigen Dominas zu trotzen. Unzeitgemäßer wirkt nur noch die Spinnerin am Kreuz. In all den anderen Lokalen vergnügt man sich unterdessen
ebenfalls, genießt das rege Leben im Geheimen · zumindest bis zum nächsten Stamperl Tequila · und wartet scheinbar darauf, dass der endlose Verkehrsstrom endlich versiegen möge.

Nur die Gäste im Wettpunkt-Café sind immer schon in einer anderen Welt. Ob Bäcker in der Früh ihre Ware transportieren, Prostituierte am Vormittag ihre Lokale aufsperren, Einkaufswütige am Nachmittag
die Rückreise in die Stadt antreten oder Roadrunner nachts einmal mehr um Haaresbreite am Tod vorbeischrammen · es gibt nichts, das es wert wäre, den Blick nach draußen zu richten. Draußen sind
ohnehin nur Gestalten, denen es dreckiger geht als jenen, die das Glück ihres Lebens Tag für Tag von Fußball, Tennisball oder Pferdehufen abhängig machen. Für Fremde ist auf der Triester Straße schon
gar nichts zu holen. Neugier prallt auf Asphalt und wird von Verkehrslawinen überrollt.

Freitag, 03. März 2000

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