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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

In den Gemeindebauten am Wiener Schöpfwerk übernehmen Bewohner zunehmend Eigenverantwortung

Siedlung mit „Stiegenkassa"

Von Gerlinde Hinterhölzl

Am Anfang stand das Modell „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not". Demzufolge sollten jüngere „Schöpfwerker" für ältere Eigenleistungen erbringen, die sie, über
eine Art Zeittauschmodell angespart, im fortgeschrittenen Alter auf dieselbe Weise rückerstattet bekämen. Die Idee, wie gut auch immer, kommt aber nicht an. Was die Bewohner am Schöpfwerk
interessiert, liegt nicht im Irgendwann, sondern im Heute: hohe Mieten bei fehlendem Kundenservice, eine unzureichende lokale Infrastruktur, Anonymität und sonstige Folgen in einem überdimensionalen
Wiener Gemeindebau der achtziger Jahre.

Am Schöpfwerk im 12. Wiener Gemeindebezirk leben 5.000 Menschen, vornehmlich junge Familien, die ihre Wohnungen hier beziehen durften, weil sie als „weniger finanzkräftig" gelten. Die Fluktuation der
Bewohnerschaft hält mit 10 bis 15 Prozent einen Spitzenwert unter den Wiener Gemeindebauten. Schwierigkeiten gründen zu einem Gutteil in der Größe der Siedlung. 1.700 Wohnungen und Stiegen mit bis zu
hundert Parteien verunmöglichen Identität und jegliche Übersicht. Gemeinschaftseinrichtungen wie etwa Hobbyräume bleiben ungenutzt · oder aber werden von einzelnen Bewohnern beschlagnahmt.
Architektonisch-planerische Eingriffe lassen eine Verbesserung der Lebensqualität für die Bewohner kaum erwarten.

Im lokalen Stadtteilzentrum „Bassena" setzt ein Team von „Gemeinwesenarbeitern" und Kommunikationsexperten auf „Empowerment" und somit auf die Schöpfwerker selbst. Empowerment ist keine
Methode, es ist vielmehr eine Haltung, die den Bewohner als Experten seiner Lebens- und Wohnsituation anerkennt. „Zwangsbeglücken" wollen die Mitarbeiter der Bassena niemanden, wohl aber die
Voraussetzungen für eigenbestimmtes Handeln unterstützen, denn dem einzelnen Bewohner steht ein komplexer Verwaltungsapparat gegenüber. Instanzenwege gestalten sich mühsam und langwierig, so manches
Anliegen dringt nicht zur richtigen Stelle vor. Zurück bleiben Frust, Verzweiflung oder Wut. Die Verwaltung ihrerseits sucht wohl den Kontakt zu den Bewohnern, scheitert jedoch häufig an eigenen
Strukturen. Gefordert sind Kommunikations- und Vermittlerkompetenzen.

Die „Bassena" agiert unparteiisch · eine Voraussetzung, um als Vermittlerin akzeptiert zu werden und im weiteren ausgleichend agieren zu könnken. Absicht ist es, dem Schwächeren, also dem Bewohner,
ähnliche Voraussetzungen zukommen zu lassen, wie sie dem Stärkeren, also der Verwaltung, bereits verfügbar sind. Ganz konkret geht es etwa um infrastrukturelle Einrichtungen, Wissen um
verwaltungstechnische Abläufe oder Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern. Die „Bassena" motiviert die Bewohner, Verantwortung in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung zu übernehmen.
„Partizipation ist ein dehnbarer Begriff", resümiert Christoph Stoik aus dem Bassena-Team. „Es genügt nicht, ein paar Zettel aufzuhängen und zu sagen: ,Tuats`. Um das Engagement der Bewohner
zu initiieren, braucht es einen Anlass sowie einen inhaltlichen und einen zeitlichen Rahmen, um nicht zu überfordern oder gar einzunehmen."

Die „Bassena" gibt Rahmenbedingungen vor, vermittelt Fachexperten und Bildungsangebote, die eigentlichen Inhalte werden dann von den Teilnehmern der jeweiligen Projekte definiert. Empowerment
erfordert Zieloffenheit und ein richtiges Maß an Moderation. „Wir ziehen uns zurück, wo Projekte in die Verantwortung der Bewohnergruppen übergewechselt sind. Das ist gut für die Sache, aber auch
für uns, da das Abgrenzen des eigenen Aufgabenbereiches von ganz elementarer Bedeutung ist", reflektiert Stoik.

„Polit-Stammtisch"

In kontinuierlicher Beziehungsarbeit pflegt die „Bassena" erfolgreich Kontakte zu Bezirks- und Stadtpolitik. Vierteljährlich lädt sie Vertreter aller fünf Parteien zu einer Diskussion mit den
Bewohnern. Der „Polit-Stammtisch" ist ein öffentliches Forum, wo Schöpfwerker ihre Anliegen vorbringen und Politiker den Kontakt zur Basis aufnehmen können. Ausgewählte Fachexperten helfen Sachfragen
zum jeweiligen Tagesthema klären.

Das Thema Miete und Betriebskosten aktiviert besonders. Für 90 m² gilt es monatlich an die 8.000 Schilling zu berappen. Im Juni 1995 konstituierte sich eine Initiativgruppe, um die Betriebskosten
unter die Lupe zu nehmen und letztendlich Einsparungspotenziale offen zu legen. Die engagierten Bewohner wurden von Fachexperten, vermittelt durch die „Bassena", zu Profis in Sachen Mietzins und
Betriebskosten geschult. Ihre Analysen beschränkten sich nicht allein auf Abrechnungen, sondern befassten sich darüber hinaus mit dem System verwaltungstechnischer Abläufe am Schöpfwerk an sich.

Unüberschaubarkeit veranschaulicht an einem Beispiel: Ein Mieter meldet dem Hausbesorger, dass das Schloss einer Tür mangelhaft sperrt. Der Hausbesorger meldet dies dem Hausinspektor, der die Gruppe
für Technik benachrichtigt. Der Techniker verständigt eine private Firma. Diese sendet einen Mitarbeiter, der den Schaden besichtigt. Der besorgt einen Schließzylinder und tauscht den alten aus. Bis
zur Reparatur vergehen einige Tage, manchmal Wochen. Die so entstandenen Kosten errechnen sich aus zweimal Wegzeit, Arbeitsstunden und Material. In einzelnen Fällen wird das Schloss einer falschen
Tür gewechselt, weil etwa Stiege mit Hausnummer verwechselt wurde. Dann dauert es noch länger. Eine kleine Gruppe von Bewohnern schlug daher vor, zumutbare Arbeiten in Eigenregie zu erledigen bzw. in
die Verantwortung von Hausbesorgern zu übertragen. Letztere erklärten sich bereit, ihre Arbeiten in einer ersten Phase kostenlos durchzuführen. Nachdem die Rechtslage gemeinsam mit der „Bassena"
durchforstet, Einwände von Seiten der Techniker und des Hausinspektorats geduldig ausgeräumt waren, gelang es, die Hausverwaltung von der Zweckmäßigkeit einer solchen Praxis zu überzeugen.

Es war der Beginn der „Stiegenkassa". Die Initiatoren erstellten eine Liste jener Arbeiten, die sie in Eigenregie als durchführbar erachteten: Montieren und Tauschen von Lampen, Hinweisschildern,
Lichtschaltern oder Papierkübeln usw. Bilanz: In den folgenden drei Quartalen wurden stattliche 39.500 Schilling eingespart. Die ortskundigen Hausbesorger erhielten Gelegenheit, ihre Fertigkeiten in
Schlosser- und Elektrikerhandwerk, aber auch in Rhetorik oder Erster Hilfe zu schulen. Wegzeiten fallen nicht länger an, ebenso wenig Suchaktionen und Irrtümer, Reparaturen erfolgen prompt und in
zufrieden stellender Qualität.

Die Ersparnisse kommen allerdings nicht nur jenen zugute, die sie erwirtschaftet haben, nämlich den Bewohnern der Stiegen 15 bis 20, sondern allen, die der Verrechnungseinheit angehören. Und ganz und
gar nicht zu verstehen: Der Vorschlag, die Hausbesorger über den Instandhaltungsbeitrag zu entlohnen, stößt auf Widerstand der Verwaltung. Sie präferiert gemäß ihrer Interpretation der umstrittenen
Rechtslage eine Verrechnung über die Betriebskosten, was mit dem Ansteigen der Gesamtmiete verbunden wäre. · Erklärtes Ziel aber war es doch, Wohnkosten spürbar zu senken.

Mist unter Kontrolle

Auch Müll kostet. Die Initiativgruppe „Schöpfwerker Mistkäfer" setzte sich das hehre Ziel, „auf ihrer Stiege" den Restmüll in den Griff zu bekommen und auf diese Weise Betriebskosten zu senken.
Die Problematik bestand in zahlreichen, nur halb gefüllten Müllcontainern und horrenden Entleerungskosten von 36.000,- Schilling pro Jahr und Container. Die „Mistkäfer" beobachteten über einige
Monate hinweg die Auslastung der Container und kamen zum Ergebnis, dass fünf Container überflüssig waren. Nur: wie wird man die los? Dem Bericht an die Verwaltung folgen eigene Recherchen der
Magistratsabteilung 48. Der Vorschlag der Bewohnergruppe, Messungen gemeinsam vorzunehmen, wird mit dem Argument abgelehnt, Beeinflussungen vermeiden zu wollen. Die MA 48 erachtet keinen der
Container für überflüssig. Daraufhin wird aber doch noch gemeinsam gemessen. Schließlich einigt man sich auf das Entfernen von zwei Containern. Ähnliche Initiativen und Ergebnisse auf weiteren
Stiegen ergeben letztlich Einsparungen von über einer Million Schilling!

Eine weitere Initiativgruppe nimmt die Sperrmüllproblematik in Angriff. Die Rechnungen der mit der Sperrmüllabholung betrauten Firma erscheinen eklatant hoch. Es werden Anbote verschiedener
Unternehmen verglichen. (Die noch beauftragte Firma ermäßigt zwischenzeitlich ihre Preise.) Die Bewohnergruppe entscheidet sich für die „ARGE Nichtsesshaftenhilfe". In harter Überzeugungsarbeit wird
das Einverständnis der zuständigen Magistratsabteilung, damals MA 17, heute „Wiener Wohnen", eingeholt. Bilanz: Die Kosten belaufen sich heute auf ein Siebtel der ursprünglichen Summe. Ein Faktum,
das neben aller Freude aber auch berechtigtes Misstrauen schürt. Recherchen bestärken den Verdacht, dass die alte Firma so gut wie gar nicht kontrolliert wurde, weder in Rechnungslegung noch in
Leistung. Ein zivilrechtliches Verfahren soll nun Klarheit verschaffen.

Das Image der Schöpfwerker ist angeschlagen. Das verdanken sie nicht zuletzt sensationslüsternen Journalisten. Nicht in einer Siedlung in Meidling, austauschbar etwa mit einer Siedlung in Eisenstadt
oder Dornbirn, hat sich das Furchtbare ereignet, nein, „am Schöpfwerk". Und natürlich, wenn einer, dann ja wohl die ganze Siedlung. Es soll vorgekommen sein, dass aufgrund der Wohnadresse
„Schöpfwerk" der neue Job verwehrt blieb. Oder dass Taxilenker sich nach der Zahlungskraft von Schöpfwerkern erkunden, weshalb manche es vorziehen, in unittelbarer Nähe ihres eigentlichen Ziels
auszusteigen. Ein gutes Image ist identitätsstiftend. Die „Bassena" bemüht sich daher auch tatkräftig um eine differenzierte mediale Berichterstattung über das Schöpfwerk. Sie installierte ein so
genanntes „Medienwarnsystem", wobei Informationen über das Erscheinen einseitiger, negativ vereinnahmter Zeitungsberichte an rund dreißig Betroffene weitergeleitet werden · Mietervertreter,
Hausbesorger, soziale Einrichtungen der Siedlung und Vertreter der Bezirkspolitik. Zumindest wehren soll man sich können.

Eigene Medien sorgen für Auseinandersetzung im Gemeinwesen, fördern Stadtteilkultur und ermöglichen nicht zuletzt, Erfolge von Initiativen zu kommunizieren und gesellschaftlich bewusst zu machen. Die
vierteljährlich erscheinende Stadtteilzeitung „Schöpfwerkschimmel" dient zum einen als Kommunikationsmittel der Bewohner, zum anderen als Sprachrohr zur Verwaltung. Das Redaktionsteam besteht
zur einen Hälfte aus Bewohnern, zur anderen aus „Bassena"-Mitarbeitern; der „Schimmel" wird über Inserate finanziert und gratis an alle Schöpfwerker Haushalte verteilt.

„Radio Schöpfwerk" ist ein gemeinsames Projekt von ORF, Polycollege Stöbergasse und „Bassena". An den Reglern des Tonstudios in den Räumlichkeiten der „Bassena" sitzen

Radio-Journalisten und Bewohner. Im halbstündigen Trafikantengespräch führen Persönlichkeiten Diskurse über das Leben in der Siedlung. „Radio Schöpfwerk" sendet wöchentlich eine Stunde auf
Mittelwelle 1476 kHz.

Projekte und Initiativen am Schöpfwerk geben Beispiel von erfolgreichem Bürgerengagement, lassen aber auch Fallstricke und Hürden erkennen: starre bürokratische Strukturen, ein Übergewicht an
Reglementierungen und damit verbunden mangelnde Konfliktkultur. Fortschritte des Empowerment-Prozesses am Schöpfwerk gründen wesentlich im Vertrauen, das der Bassena von Seiten der Bürger und der
Verwaltung entgegengebracht wurde. Soll den Bewohnern weiterhin Verantwortung übertragen werden, liegt es an den Entscheidungsträgern der Verwaltung, in Zusammenarbeit mit „Bassena" und Bewohnern
Strukturen zu adaptieren, aber auch Kompetenzen abzugeben.

Freitag, 03. März 2000

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