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Verfluchtes Weihnachten

Von Michael Viewegh

Weihnachten hatte für Oskar sowie für Menschen von seinem Schlag keine religiöse Bedeutung, er betrachtete es aber als ein besonderes und vielleicht das bedeutendste
Familienfest des Jahres. Er war kein solcher Ignorant, als dass er nichts von der Geburt Christi wüsste, und als er die Keramikkrippe auf das oberste Regal seines Bücherschranks stellte, war ihm
bewusst, was er da tat · trotz dieser Tatsache hievte er sie in erster Linie deshalb hinauf, weil er gerade ein traditionelles Familienritual beging. Kurz und gut, der 24. Dezember war Oskars
Auffassung nach ein Tag, an dem jedes Familienmitglied Geburtstag feierte, und das war zeitlebens nach seinem Geschmack gewesen. Da kaufte er einen Karpfen und briet ihn, schmückte den Baum, trieb
Geschenke auf und machte adrette Päckchen daraus, und am Abend warf er sich in Gala. Die üblichen Vorbereitungen eben.

Nach seiner Scheidung vor fünf Jahren hatte Weihnachten für ihn praktisch jede Bedeutung verloren. Ohne Familie kein Fest. Auch dieses Jahr rief ihm das Fest des Friedens und der Besinnung
einzig und allein seine momentane Einsamkeit unangenehm in Erinnerung (er war zwar mit einem gewissen jungen Mädchen zusammen, hatte sie aber schon so oft über sein Bedürfnis nach Unabhängigkeit
und Alleinsein unterrichtet, dass es ihr nicht mal in den Sinn kam, Weihnachten mit ihm zu verbringen, und sie so für zwei Wochen zu ihren Eltern nach Mähren reiste).

Könnte er nur, er würde auf dieses großartige Weihnachtsfest pfeifen · sagte er in seiner leeren Wohnung manchmal halblaut vor sich hin · aber er hatte keine Wahl: Er konnte das seinen Eltern nicht
antun, seinen Verwandten nicht und schon gar nicht seinem Sohn. Er war es, der ihn dazu trieb, Jahr für Jahr Mitte Dezember die alten, etwas verstaubten weihnachtlichen Familientraditionen zu neuem
Leben zu erwecken: Dann putzte Oskar die Wohnung, kaufte ein paar Fichtenzweige, steckte sie in eine Vase, kramte zwei oder drei brauchbare Kerzen aus versteckten Winkeln, und zu guter Letzt besorgte
er an einem Nachmittag die paar Geschenke, und damit hatte sich die Sache.

Den Sohn (er war im November acht geworden) brachte ihm seine Ex-Frau schon am 18. Dezember in der Früh. Am Tag darauf würde sie ihn zur Mittagszeit wieder mitnehmen, verkündete sie ihm. „In
Ordnung", meinte Oskar und versuchte, die Ruhe zu bewahren. Zu einem späteren Zeitpunkt sei es nicht möglich, sie würden in die Berge fahren, lautete ihre Erklärung. Oskar nickte. Was ihn
anging, so konnte sie ihre beschissenen Weihnachten auch im Juli feiern, ihm war es schnuppe, dachte er sich.

„Schöne Weihnachten", flötete die Ex-Frau, knallte die Wagentür zu und brauste davon.

Oskar ging mit seinem Sohn ins Kino, führte ihn zum Essen aus und nahm ihn mit zu sich nach Hause, um den Karpfen zu holen. Er fischte ihn aus der Badewanne, schlug ihn in ein nasses Geschirrtuch ein
und legte ihn in eine Plastiktüte. Sie machten sich zu Fuß zur Moldau auf, um ihn im Wasser auszusetzen · eine sentimentale, unsinnige Aktion, und Oskar gab sich nur sehr ungern dafür her, nahm sich
aber jedes Mal zusammen und machte dem Sohn die Freude. Am Weg bewarfen sie einander mit Schneebällen, sahen sich die hell erleuchteten Schaufenster an, und Oskar half seinem Sohn, ein Geschenk für
Mama auszusuchen.

Als sie zum Fluss kamen, dämmerte es schon. „Lieber Karpfen, wir wünschen dir alles Gute und viele neue Freunde!", deklamierte der Sohn mit rührend ernsthafter Stimme. „Dann mach's gut und
dank Gott, dass wir dich nicht aufgefressen haben", setzte Oskar hinzu. Er wickelte den Karpfen aus dem Geschirrtuch, beugte sich über die dunkle Wasserfläche, holte ostentativ aus und warf das
Tier ins Wasser. Der Karpfen ging unter und tauchte gleich wieder auf, anstatt aber munter (wenn schon nicht dankbar) mit der Schwanzflosse zu schlagen und das Weite zu suchen, drehte er sich
langsam, aber unaufhaltsam mit dem hellen Bauch nach oben.

Das Kind blickte fragend zum Vater auf. „Er ist doch nicht tot, oder?", versicherte es sich mit angsterfüllter Stimme. Oskar versuchte seine aufkommende Panik zu verbergen und sah mit
vorgetäuschter Gelassenheit zu, wie der eiskalte schwarze Strom den regungslosen Fischleib auf die Pfeiler der Zugsüberführung zutrieb. „Keine Angst, der wird sich bester Gesundheit erfreuen",
versicherte er, „gleich kommt er wieder zu sich."

„Sicher, Papa?", fragte der Junge, und seine Stimme überschlug sich. „Kommt er sicher wieder zu sich?"

„Aber gewiss doch."

Oskar war nicht imstande, seinen Sohn anzusehen, aber der Junge erzwang sich seinen Blick.„Schwöre!", verlangte er. In seinen Augen standen Tränen. Oskar legte seinen Arm um die Schultern
seines Sohnes. „Ich schwöre, dass er in ein paar Minuten wieder zu sich kommt!", sagte er und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, das verreckte Mistvieh möge endlich aus ihrem Blickfeld
verschwinden.

Auch der Abend sollte kein großer Erfolg werden. Oskar zündete seine vier Kerzen an, die er am Vortag aufgestöbert hatte, klingelte mit dem Glasglöckchen, jeder packte seine Geschenke aus, und dann
saßen sie vor der Glotze und rissen Witze · dabei sah er dem Sohn aber nur zu gut an, dass er dessen trübe Stimmung nicht ganz verscheuchen konnte. Das alles haben wir diesem beschissenen Fisch zu
verdanken, dachte er sich verdrossen.

„Was ist denn los?", lautete die erste Frage der Ex-Frau, als ihr Oskar am nächsten Tag zu Mittag den Sohn übergab, der etwas zu angestrengt lächelte. „Nichts ist los", murmelte Oskar,
„außer Weihnachten. Weihnachten ist los." Seine Ex-Frau musterte ihn misstrauisch. Sie vergewisserte sich, dass sich ihr Sohn angeschnallt hatte, und schaute nochmals zu Oskar herüber. Es
schien, als wollte sie ihm noch etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie beugte sich vor, streckte sich in den Wagen und nahm ein kleines auffällig elegant verpacktes Geschenk aus dem
Handschuhfach. „Schöne Feiertage", wünschte sie Oskar. „Danke, gleichfalls", erwiderte Oskar. Er langte in seine Manteltasche und übergab seiner Ex-Frau sein Päckchen · es schaute um
einiges bescheidener aus. „Danke", sagte seine Ex-Frau, gönnte ihm aber keinen Blick mehr. Schnell stieg sie ins Auto und fuhr los. Der Junge winkte ihm eifrig nach, Oskar war aber nicht der
Hauch von Erleichterung entgangen, der über sein kleines Gesicht gehuscht war.

Den Nachmittag verbrachte er zum Teil mit ziellosem Herumstreifen in Läden, wo der vorweihnachtliche Kaufrausch gerade seinen Höhepunkt erreicht hatte, um dann noch einmal ins Kino zu gehen. Als er
nach der Vorstellung auf die Straße trat, war es schon dunkel geworden. An der Ecke zur Spálená-Straße boten zwei Männer mit blutbespritzten Gummischürzen Karpfen feil; das Wasser in den gelben
Trögen schwappte alle Augenblicke über den Rand und floss auf den Gehsteig, wo es rasch festfror. Die Läden schlossen bereits, auf dem Altstädter Ring ertönten aber noch immer Weihnachtslieder. Unter
der hohen erleuchteten Tanne stand eine verhältnismäßig realistisch wirkende Weihnachtskrippe mit richtigen lebenden Tieren, die man streicheln durfte. An einem Stand in der Nähe trank Oskar drei
Tassen Glühwein und machte sich auf den Weg nach Hause.

Als er in seinem Viertel aus der Straßenbahn stieg, fiel ihm sofort eine nicht übermäßig hübsche junge Frau auf, die mitten auf dem nahezu menschenleeren Hauptplatz bei gelblicher Straßenbeleuchtung
Weihnachtsbäume verkaufte · sie wirkte derart durchfroren und alleingelassen in ihrer Umzäunung, dass sie Oskar ans Herz rührte. Während der ganzen fünf Jahre nach seiner Scheidung hatte er sich kein
einziges Mal einen Weihnachtsbaum geleistet, und da bewog ihn eine unbestimmte, flüchtige Empfindung, eine Ausnahme zu machen (er schrieb das dem genossenen Wein zu). „Guten Abend", wandte er
sich an die Frau und schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. „Einen kleinen, bitte."

Das Bewusstsein, eine gute (wenn nicht gar eine christliche) Tat zu begehen, erfüllte ihn mit Zufriedenheit.

„Suchen Sie sich einen aus."

Sie versuchte matt zurückzulächeln, war aber so steif vor Kälte, dass sie kaum sprechen konnte. Sie trug einen grünen Steppmantel, der an den Schultern feucht war von schmelzenden Schneeflocken,
ausgebeulte schwarze Trainingshosen aus Kunstfaser und kleine Bergschuhe an den Füßen; auf dem Kopf hatte sie eine rote Wollhaube mit Bommeln, eine witzige Kopfbedeckung für Skipisten, die aber auf
dem verlassenen Hauptplatz unpassend wirkte. „Eigentlich ist mir egal welchen", schränkte Oskar ein, „nur klein soll er sein."

„Eine Kiefer vielleicht?", brachte das Mädchen mühsam hervor. Ihre Lippen waren vom Frost ganz blau, und Oskar verstand nicht, warum sie nicht den ganzen Kram zusammenpackte und heimging · es
war halb acht, und weit und breit war kein einziger potentieller Kunde zu sehen.

„Oder eine Fichte?", fuhr sie missmutig fort.

„Von mir aus eine Kiefer", lenkte Oskar etwas leidenschaftslos ein; die Verstimmung der Verkäuferin wurde nun offensichtlich. „Suchen Sie sich eine aus", wiederholte sie, steckte ihre
Hände in die Manteltaschen und ließ ihren Blick zur Seite schweifen. Jetzt war der Punkt gekommen, wo Oskar seine Voreiligkeit bereute. Er hatte ihr doch einen Gefallen tun wollen, und sie machte die
Sache nur unnötig kompliziert. Welchen Baum er schließlich nach Hause tragen würde, war ihm vollkommen gleichgültig · er würde ihn sowieso unausgepackt auf den Balkon stellen und ihn nach Weihnachten
vom Balkon direkt in den Container werfen, den er vorher daruntergeschoben haben würde. Er war bereit, einen kleinen Weihnachtsbaum zu kaufen, obwohl er ihn absolut nicht brauchen konnte, nicht aber,
auch noch ernsthafte Versuche zu unternehmen, ihn auszusuchen. Ihm entfuhr ein leiser Seufzer. Also gut. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Mit zwei energischen Schritten war
Oskar bei den Kiefern, die an die Umzäunung aus Holz gelehnt waren, und er bückte sich und ergriff die nächstbeste Kiefer an ihrem dünnen Stamm. Er spürte sofort, wie das Baumharz an seinem
Raulederhandschuh festklebte, wollte sich aber vor der Frau nichts anmerken lassen, so dass er nichts unternahm, um den schlimmsten Schaden noch abzuwenden. Er drehte sogar noch den Baum zweimal um
seine Achse, als wollte er Dichte und Symmetrie der Äste inspizieren.

„Meinetwegen den da", verlautete er schließlich. Die Frau warf zunächst einen Blick auf den Baum und dann auf Oskar.

„Diesen hier? Herrgott, warum den hier?", sagte sie und schüttelte voller Missbilligung den Kopf. „So einen Krüppel?" Oskar fiel erst jetzt auf, dass der Baum tatsächlich unansehnlich
war.

„Er gefällt mir", behauptete er mit einem falschen Lächeln und tastete nach seiner Geldbörse. „Was bin ich schuldig?", erkundigte er sich trotzig. Er konnte es nicht erwarten, endlich zu
verschwinden. Dieses Jahr war Weihnachten völlig in die Hose gegangen. Die Frau schüttelte erneut den Kopf · die roten Bommeln schaukelten dabei traurig hin und her.

„Wie Sie meinen", sagte sie und verzog das Gesicht. Sie streifte ihre Handschuhe ab und machte sich daran, mit ihren zarten roten Fingern den Baum zu verschnüren. Ihre Bewegungen wurden immer
schneller, bis ihr schließlich das Schnurknäuel aus der Hand glitt und über das schneebedeckte Pflaster kullerte, das übersät war mit Nadeln, Reisig und Baumrinde, und hinter dem Holzzaun zu liegen
kam. Gereizt warf sie den Baum weg und sah Oskar geradeheraus an.

„Sie brauchen gar keinen Baum, stimmt's?"

Oskar blickte sie verdutzt an. Er spürte, wie er unwillkürlich rot anlief.

„Stimmt's?", wiederholte sie mit steigender Gewissheit.

„Stimmt", bekannte Oskar, „ich brauche keinen Baum."

Für einen Moment betrachteten sie einander fragend. „Wozu dann das ganze Theater?", rief die Frau schließlich aus. Sie versuchte, den rauen Tonfall erfahrener Verkäuferinnen anzuschlagen, das
Ergebnis klang aber nicht sehr überzeugend, und am Schluss des Satzes versagte ihr merkwürdig die Stimme, und sie drehte ihm den Rücken zu.

„Verzeihen Sie", murmelte Oskar, „ich möchte nicht, dass Sie vielleicht . . ." Er berührte unsicher ihren Ellbogen.

„Seien Sie mir nicht böse", probierte er es erneut, „ich . . ."

„Ach, zum Kuckuck mit Ihnen!", fuhr sie ihn an.

„Seien Sie mir nicht böse", wiederholte Oskar beschämt, „ich hab's doch gut gemeint." Er musste sich räuspern, weil er einen ganz zugeschnürten Hals hatte. Die Frau sah zu ihm auf.

„Wie kommt das eigentlich, dass Sie keinen Baum brauchen?", wollte sie wissen. Ihre Frage klang angriffslustig.

„Das ist eine langweilige Geschichte", sagte Oskar nach einer kurzen Pause. Er lächelte, aber die Frau ließ sich nichts mehr vormachen. Sie betrachtete ihn lange und nickte schließlich.

„Verfluchtes Weihnachten, nicht wahr?", sagte sie voller Mitgefühl.

(Aus dem Tschechischen von Hanna Vintr.)

Freitag, 17. Dezember 1999

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