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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Ein Gespräch mit Oliviero Toscani, dem Gestalter der umstrittenen Benetton-Werbung

„Was geht mich Claudia Schiffer an?"

Von Karl Weidinger

„Wiener Zeitung": Tragen Sie nur Kleider von Benetton?

Oliviero Toscani: Nein, überhaupt nicht! Wofür soll das gut sein? Ist das wichtig, was jemand trägt?

„W. Z.": Sie sagten einmal, Sie bräuchten sich nur die Werbeplakate eines Landes anzuschauen, um alles über Bildungsgrad, Erziehung, Moral und Ethik eines Landes herauszufinden. Was haben Sie hier
bei uns gesehen?

Toscani: Ihr seid amerikanisiert, wie jedes andere Land auch!

„W. Z.": Aber Werbung ist nicht nur da um zu verkaufen?

Toscani: Jeder muß etwas verkaufen! Auch Sie müssen dieses Interview verkaufen! Wenn sich etwas nicht verkauft, ist es nicht gut · oder Sie sind nicht gut! Ich bin kein Werbemensch, ich bin nur
neugierig. Ich bin Reporter, wie mein Vater auch, er war Fotoreporter. Und die Renaissancekünstler malten für den Papst, um religiöse Inhalte zu pushen. Werbung soll · unbewußt · auch Bewußtsein
stiften; mehr als es unsere Schulen tun.

Was man in der Schule lernt, interessiert niemanden. Meine Schule „Fabrica" ist keine Schule, es ist ein Laboratorium, eine „bodega dell`arte" · eine Gaststätte der Kunst.

„W. Z.": In der „Fabrica" entsteht das Magazin „Color Review"?

Toscani: Jede Ausgabe hat ein spezielles übergeordnetes Thema, eine z. B. über Rassen. Was wäre, wenn die Queen oder Arnold Schwarzenegger schwarz wären? Oder Spike Lee weiß? Es kommt in zehn
Sprachen raus; immer Englisch mit einer zusätzlichen. Eine halbe Million Auflage. Eine Ausgabe bestand nur aus Fotos, Ausdrucksmöglichkeiten ohne Worte. Wir machen kein Marketing. Marketing hat
nichts zu tun mit der Realität. Man schaut, was Marketing will und macht dann das Gegenteil: ein guter Weg, um gute Dinge zu machen!

„W. Z.": „Fabrica", das hört sich so nach Produktion an?

Toscani: Die größte und wichtigste Aktivität in der Menschheitsgeschichte ist zu produzieren und zu konsumieren. Da gehört die Werbung auch dazu; sie ist das Sprachorgan von Produktion und
Konsumation und macht immer nur blablabla und wird nie zensuriert. Was geht mich Claudia Schiffer an? Warum fühlt sich niemand durch sie beleidigt? Sie ist nichts anderes als ein Söldner, den man für
Stunden mieten kann · es spiegelt unsere Zeit wider: Jeder will akzeptiert werden. Wir haben Angst vor Zurückweisung. Jeder zieht sich ähnlich an, kauft den letzten Schrei, jeder macht das gleiche.
Alle wollen schön sein. Jeder will eine gerade Nase. Denn die Werbung sagt uns, daß es nicht gut ist, eine krumme Nase zu haben. Deswegen sollten wir auf der Hut sein. Ich sage nicht, daß Werbung
schlecht ist, sondern daß sie viel wichtiger ist, als wir denken. Wir halten sie uns als kommerzielle Kunst. Ich mache da lieber etwas anderes. Das Bild ist nicht da, um nur konsumiert zu werden.
Nein! Es ist da, um einen Anreiz für ein besseres Leben zu schaffen!

„W. Z.": Gibt es Grenzen, die Sie nicht überschreiten würden?

Toscani: Grenzen, welche Grenzen?

„W. Z.": Grenzen im Kopf!

Toscani: Leider gibt es die! Unsere Limits sind uns durch unsere Unvollkommenheit gegeben. Wir sind das unfertigste Geschöpf in der Genesis. Am ersten Tag erschuf Er Licht, dann Wasser, Blumen
usw. Und Er sah: alles war perfekt. Fünfter Tag: Tiere, Engel! Unglaublich diese Harmonie, Balance in Perfektion, Ausgeglichenheit · außer wenn der Mensch darin herumfuhrwerkt und Probleme
verursacht. Tiere sind perfekt gelungen. Am sechsten Tag erschuf er Mann und Weib! Am Abend des sechsten Tages hörte Er auf, und am siebten Tag ruhte Er! Was für ein großer Fehler! Er hätte
weiterarbeiten sollen! Denn wir sind viel komplexer, als Er dachte. Er machte uns nicht vollständig, deswegen gab er uns die Möglichkeit, selbst kreativ zu sein. Und das ist das Riesenproblem: Ein
Elefant hat dieses Problem nicht, eine Ameise auch nicht. Oder die Biene · perfekt. Wir sind es nicht! Wir haben Schwierigkeiten mit unserer Schaffenskraft, deswegen schöpfen wir immer weiter. Wir
versuchen selbst alles Unvollendete zu vollenden! Und das ist die Gefahr dabei.

Schutz der Privatsphäre

„W. Z.": Sie sagten einmal, Sie hassen Vulgarität, aber ist es nicht vulgär, daß angesichts des Todes von irgendjemanden „der Ausverkauf während der Agonie weitergeht", wie Sie es bezeichnen?
Sollte nicht die Privatsphäre eines Sterbenden respektiert bleiben?

Toscani: Nun, Tod hat damit nichts zu tun. Vulgarität und Brutalität sind ein Mangel an Stilsicherheit. Ich glaube nicht, daß die Öffentlichkeit so blöd ist, wie sie von Werbeleuten gehalten wird.
Wenn Leben und Tod in der Werbung nicht erlaubt sind, welche Form der Kommunikation ist sie dann? Ich weiss, worauf Sie anspielen: Ich bekam die blutige Kleidung vom Roten Kreuz, von einem Vater, der
mir auch die Erlaubnis gab, sie zu fotografieren. Sie stammte von seinem in der Nähe von Mostar gefallenen Sohn. Die Anzeige verursachte viel Aufregung, besonders in Deutschland. Jedes Land hat seine
Gespenster der Vergangenheit. Aber einen Monat später bekam ich einen Preis in Japan für die beste Werbekampagne.

Da gibt es Krieg und nichts passiert in der Werbung. Man braucht nur einen Blick in die Zeitung zu werfen. Alles, was nicht den Krieg betrifft, sollte zensuriert werden. Ich weiss, ich bin ein
bißchen extrem! Aber würden in 20 oder 50 Jahren Archäologen unsere jetzigen Zeitungen ausgraben, sie würden sich sehr wundern: Da war ein Krieg im Gange. Sterben! Und die Werbung: da ist Kosovo,
Flüchtlinge, und auf der anderen Seite ein perfektes Foto von Claudia Schiffer im Chanel-Kleid. Ich war aufrichtiger in dieser Zeit und wurde deswegen zensuriert. Aber ich wollte nicht mehr verboten
werden, also machte ich das einzige Bild, das jeder verstehen würde: ein neugeborenes Baby! Falsch, total falsch! Das war das meist zensurierte Bild in der Geschichte der Fotografie. Nach einer
halben Stunde mußte es in London entfernt werden. Nur zwei Länder · Österreich und Irland · ließen das Foto zu. Ein richtiger Geschäftsmann hätte spätestens jetzt alles gestoppt, weil Werbung
verkaufen muß. Wir machten anscheinend die falsche, die nichts verkaufte, aber wir beeinflußten die richtigen Leute, die wir auf unserer Seite haben wollten. Deswegen wollte ich keine inszenierten
Bilder mehr machen und nahm Material aus Zeitungen. Ich wählte Bilder aus, die man überblätterte. Diese sollten richtig angesehen, überdacht und beredet werden. Auch wenn wir das Bild wegblenden ·
das Problem bleibt trotzdem. Es ist nicht das Bild, das das Sterben verursacht. Es macht uns nur nachdenklich.

„W. Z.": Man sollte niemand aus Italien nach der Religion fragen, aber . . .?

Toscani: Ich bin gläubiger Atheist! Ich glaube nicht an den Atheismus und schon gar nicht an all den anderen religiösen Müll. Jede Religion ist darauf ausgerichtet, Rechte zu haben, um dafür
kämpfen zu können. In einigen asiatischen Ländern ist es verboten, interne Körperteile zu zeigen. So wurde ich zensuriert, wegen der rausgestreckten Zunge.

„W. Z.": In Chile wurde das Sujet „Pinocchio" verboten.

Toscani: Ja, Diktator Pinochet fühlte sich persönlich betroffen.

„W. Z.": Haben Sie überhaupt noch einen Überblick über die Chronique scandaleuse?

Kondome und Genitalien

Toscani: Das 700-m²-Plakat am Mailänder Hauptplatz vor dem Dom könnte den Erzbischof, der dort leben muß, beleidigen. Also wurde es abgenommen. Ich will keine Leute, die mir sagen, was ich mir
anschauen darf. Das Inserat mit dem Kondom wurde in den USA verboten, weil man pornographische Dinge nicht in Magazinen, die in Supermärkten verkauft werden, abbilden dürfe. Das Foto mit dem
Neugeborenen wurde zensiert vom Vatikan, aber nicht in Österreich und Irland. Das Inserat mit den Genitalien akzeptierte nur ein Blatt: „Liberation" in Frankreich verkaufte dadurch um 30.000
Exemplare mehr als üblich.

Küssende Nonne und Priester sind doch Models und keine religiösen Persönlichkeiten, warum die ganze Aufregung · und das Verbot in Italien? Sie sind, was man sieht: Nonne und Priester auf dem Bild
sehen sich als Models. Jeder ist so, wie er auf einem Foto ist.

Ich habe ja nichts gegen Kritik, aber woher nehmen Personen das Recht, meine Bilder zu verbieten. Niemand kann im Namen der Öffentlichkeit sprechen. Ich gehöre auch zur Öffentlichkeit. Ich akzeptiere
niemanden in Italien, der für mich entscheidet, was ich sehen soll und was nicht. Ich bin über 18 und entscheide für mich selbst. Das ist keine Frage von Moral oder Ethik, eher von eingeschränktem
Geschmack. Ich will die Bilder sehen, die zu meiner Zeit gehören. Und die Geschichte hat gezeigt, daß alle Einschränkungen und Begrenzungsnormen sich als falsch erwiesen haben.

„W. Z.": Was ist mit denen unter 18?

Toscani: Ich habe 6 Kinder, die alle irgendwann unter 18 waren. Ich bin mir der Verantwortung über meine Bilder voll bewußt. Ich habe sogar vieles für sie gemacht. Mehr als ich es für mich und die
anderen über 40jährigen gemacht habe, die so gerne für die Minderjährigen entscheiden möchten. Ich bin mir sicher, daß sie meine Bilder sehen sollen. Ich wundere mich viel mehr darüber, daß richtige
Werbung nicht zensuriert wird. Werbung, die uns weismachen will, daß wir unsterblich, langbeinig, atemberaubend schön und erfolgreich sind, wenn wir 16 Ventile statt nur 4 haben. Das ist das Problem
und die Art von Werbung, die wirklich diskutiert gehörte.

„W. Z.": Und das Thema Aids?

Toscani: Es war einmal im prüden Mittelwesten der USA, in Wisconsin, und ich schaute damals die Lokalnachrichten. Ich sah wie ein nackter Student, Angehöriger einer Aktionsgruppe, die Stiegen zur
Universität empor lief. Mit einem Tattoo „H.I.V. positiv" auf dem Unterarm. Er setzte diese bewußtseinsbildende Maßnahme lange vor der Anerkennung von Aids als Problem unserer Zeit. Die Aktivisten
organisierten eine spontane Kundgebung um den Nackten. Der Dekan erschien · und was mich wirklich erschütterte: Er versuchte nicht die primären Geschlechtsmerkmale des Tätowierten zu bedecken,
sondern er war nur bestrebt, den Unterarm des Aktivisten mit dem Tattoo zu verdecken. Also machte ich diese Kampagne mit dem Tattoo.

Bist du verrückt?

Dann kam der 1. Dezember, der von der WHO bestimmte „World Aids Day". Ich ließ dieses riesige Kondom anfertigen und stülpte es über die Obelisksäule in Paris. Selbstverständlich ohne vorher die
Pariser Polizei lang und breit um Erlaubnis zu fragen. Ich hatte ein paar Benetton-Manager befragt und deren Antwort hatte nur gelautet: Bist du verrückt? Wenn der Kran umfällt und den Obelisken
beschädigt, muß Luciano dafür ins Gefängnis. Aber ich wollte nicht aufgeben: Also hatte ich Luciano höchstpersönlich gefragt: Wo bist du am 1. Dezember? Und er hatte geantwortet: in Japan. Wunderbar,
hatte ich gesagt, und er war nach Japan gefahren und ich nach Paris . . .

„W. Z.": Sind Sie schon jemals wegen ihrer Arbeiten körperlich attackiert worden?

Toscani: Nein, warum sollte ich?

„W. Z.": Was machen Sie zur Erholung?

Toscani: Ich brauche mich nicht zu erholen. Wovon? Ich kenne keinen Stress, weiss nicht einmal was das ist · wahrscheinlich eine Erfindung der Reichen.

„W. Z.": Fotografieren Sie auch noch für sich selber · privat?

Toscani: Ich habe schon gesagt, das es bei mir kein privates und öffentliches Leben gibt. Mein Leben ist mein Leben! Ja, manchmal fotografiere ich für mich selber, aber ich mache keinen Urlaub.

„W. Z.": Die zwei Pferde auf dem Plakat, das in Israel zensuriert wurde, sind Ihre eigenen?

Toscani: Das ist sozusagen ein Familienfoto. Es sind zwei meiner 50 Pferde, ja!

„W. Z.": Ist es ein Problem für Sie, daß Sie gegen Zerstörung, Umweltverschmutzung und Luftverpestung ankämpfen, während das Benetton Formel-1-Team genau diese Dinge verursacht?

Toscani: Ich glaube nicht, daß die zwei Autos dafür verantwortlich zu machen sind · das wäre wirklich kindisch! Im Vergleich zur Gesamtzahl der Autos.

„W. Z.": Wenn ich Sie wieder in Österreich sehe, drücke ich Ihnen meinen Fotoapparat in die Hand und sage, wo Sie draufdrücken sollen. Habe ich dann ein Originalfoto von Oliviero Toscani?

Toscani: Ja, ist okay!

„W. Z.": Würden Sie das wirklich tun?

Toscani: Natürlich!

Das Interview wurde in englischer Sprache aufgenommen, nach einem Vortrag über die „soziale Kompetenz der Werbung" zum 25jährigen Bestehen des Österreichischen Werberates. Es besteht aus
Originalzitaten und eingefügten Passagen, die nach ausführlichem Telefonat mit Toscani in der „Fabrica" zustande kamen.

Freitag, 30. Juli 1999

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