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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Ein Kommentar zu Erich Langjahrs Dokumentarfilm „Bauernkrieg"

Vom Untergang bäuerlicher Kultur

Von Bernhard Kathan

In Sergej M. Eisensteins Film „Die Generallinie", fertiggestellt 1929, soll die Technik das Dorf aus der Armut führen. Im Rußland der zwanziger Jahre ist das die Generallinie, die in
die Kollektivierung der Landwirtschaft mündet. Die Welt der Bauern ist stumpf, grob, die Bauern der Generallinie sind Teil des Erdreichs und des Schmutzes. Sie wohnen nicht in Häusern, sie vegetieren
in Erdhölen, in Erdlöchern. Erst die Technik, so das Versprechen, wird sie aus dem Schmutz, aus den Erdlöchern und Schlammpfützen herausführen. Mit Hilfe der Technik lösen sich die Bauern von der
Erde wie den Unberechenbarkeiten der Natur.

Kein Zweifel, der technische Fortschritt hat, unabhängig von politischen Systemen, das Leben der Bauern so sehr verändert, daß man heute zumindest in Europa vom absehbaren Ende kleinbäuerlicher
Landwirtschaft sprechen kann. Ob die Arbeit jener, die in der Landwirtschaft tätig sind, dadurch sauberer geworden ist, ob ihre Gesichter gar schöner geworden sind, muß allerdings bezweifelt werden.

Vor kurzem hat der Schweizer Filmemacher Erich Langjahr seinen neuen Film „Bauernkrieg" vorgestellt. 80 Jahre nach der „Generallinie" treten apokalyptische Bilder an die Stelle des
Versprechens einer besseren Zukunft. „Bauernkrieg" beschäftigt sich mit dem drohenden Untergang der kleinbäuerlichen Kultur. Industriekonzerne, Flugplätze, Straßen und Wohnblocks fressen sich
buchstäblich in die Landschaft. Die Bauern versuchen, sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Wer da nicht mithalten kann, muß seinen Hof aufgeben.

Eine Viehversteigerung. Kühe werden im Kreis herumgeführt, während der Ausrufer in einem Stakkato den Rufpreis und die Angebote in die Menge schreit. Nur wer in einem bäuerlichen Umfeld großgeworden
ist, sieht, daß es sich um eine Zwangsversteigerung handelt. Die Gesichter der Bauern scheinen irritiert, wechseln zwischen Lachen und Bedrükkung. Eine Zwangsversteigerung ist ein Ausverkauf. Mit
unglaublicher Geschwindigkeit wird alles, was sich verkaufen läßt, in Geld verwandelt. Die Menschen, die sich bei solchen Anlässen versammeln, hoffen auf ein Stück Beute, aber tief in ihnen sitzt das
Wissen, daß auch sie dieses Schicksal treffen könnte. Gäbe es nicht die gut eingeübten Pointen des Ausrufers, wer könnte da noch eine Kuh kaufen? Am Ende, nachdem auch die letzten Gegenstände unter
den Hammer gekommen sind, bleibt ein leerer Stall.

John Berger hat einmal jenes Gefühl von Trauer beschrieben, welches kleine Bauern überfallen kann, wenn eine Kuh geschlachtet wird und ihr Platz im Stall leer bleibt. Hier bleibt jedoch ein
vollkommen leerer Stall zurück; es wird keine Kühe mehr geben.

Eine Zwangsversteigerung betrifft unmittelbar zwar nur einen einzelnen Bauern und seine Familie, als Bild gilt es doch für unsere Gesellschaft generell. Die ganze kleinbäuerliche Kultur kommt zu
einem Spottpreis unter den Hammer. Wir können uns zwar um 30 Schilling 1 kg Fleisch kaufen, aber so richtig schmecken will es uns längst nicht mehr. Als ginge es nur um Milch oder Fleisch!
Unwiderbringlich unter den Hammer kommen eine Vielzahl von Ressourcen, und zwar nicht nur Kulturlandschaft, nicht nur die Qualität von Produkten, sondern auch das Erfahrungswissen vieler
Generationen.

An die Stelle einer kleinbäuerlichen Landschaft treten große Betriebe, die, technisch bestens ausgestattet, sich auf ein schmales Produktionssegment beschränken. Kleinbäuerliche Vernetzungen und
Abhängigkeiten werden abgelöst durch die weitgehend unsichtbaren und anonymen Vernetzungen des Kapitals.

Wie sehr dabei Tiere wie auch Menschen dem Funktionskreis der Maschinen unterworfen werden, zeigt Langjahr an einer automatisierten Melkanlage.

Milchproduktionsautomaten

Alle Bewegungen sind geplant, gesteuert und kontrolliert, Zeitverzögerungen gilt es ebenso zu vermeiden wie jeden Leistungsabfall. Die Kuh wird zu einem Milchproduktionsautomaten, der Bauer zu
einem Arbeiter, der Hebel und Knöpfe von Maschinen betätigt. Der Lärm der Anlage erinnert an eine Fabrikshalle. Die Pumpfrequenz der Melkanlage wird durch eine Kontrolllampe angezeigt. Ob eine Kuh
dem Leistungssoll entspricht oder nicht, das ist nicht länger eine Frage des Gefühls, keine Frage jahrzehntelanger Erfahrung, sondern statistisch errechnete Durchschnittswerte, die von einem Computer
kontrolliert werden. Eine solchermaßen organisierte Lanwirtschaft bedarf ständiger Ausleseverfahren, erfordert die Kontrolle aller Fortpflanzung. Alle Tiere werden nur noch als Leistungseinheiten
gedacht. Sie unterliegen einem eng definierten Design. Entsprechen ihre Leistungen nicht einer bestimmten Erwartung oder zeigen sie sich zu krankheitsanfällig, so werden sie gnadenlos aussortiert.

Auch die Tiere in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sind Ergebnisse jahrhundertelanger Züchtungsbemühungen. Der wesentliche Unterschied liegt aber in der enormen Beschleunigung solcher Züchtungen.
Durch die Errungenschaften der modernen Medizin können leistungsstarke Kühe zur Produktion von Embryonen verwendet werden. Mit Hilfe von Hormonen wird die Follikelproduktion angeregt. Tierärzte
sprechen von einer Superovulationsphase. Kurze Zeit später wird eine Brunst ausgelöst und die Kuh mehrfach künstlich besamt. Eine Woche später können die Embryonen durch eine Spülung der Gebärmutter
gewonnen werden, um sie dann anderen Kühen einzupflanzen.

Eisenstein läßt in der „Generallinie" Marfa, seine Protagonistin des Fortschritts, träumen: Eine Kuhherde bewegt sich über ein Feld. Ein mächtiger Stier, ein neuer Minotauros, wächst aus dieser
Herde heraus, so groß, daß er die Wolken berührt. In rasch montierten Bildsequenzen ergießen sich Regenströme, Bäche (Sperma), Milchflüsse. Das Ergebnis der Vermählung ist nicht ein Kalb, sondern
eine lange Serie völlig identer Kälber, die in einer langen Reihe in einem Stall stehen. Der Stier bezeichnet die Maschine. Betont werden Serie und Multiplikation.

Tatsächlich werden die Tiere in der Agroindustrie als Maschinen verstanden. Langjahr zeigt einen Angestellten, der Besuchern den Betrieb einer Samenproduktionsstation zeigt. Im Hintergrund sehen wir
Zuchtstiere, die, am Nasenring kurz angebunden, in einer bedenklichen Prozession den Bewegungen eines über ihnen laufenden Bandes folgen. Sie bewegen sich im Kreis. Alle autonomen Bewegungen werden
fast vollkommen unterdrückt. Diese Art der Bewegung wird als Auslauf bezeichnet. Durch die ständige Kontrolle der Milchleistung läßt sich die Qualität der Zuchtstiere überprüfen. Samen, der den
Erwartungen nicht entspricht, wird vernichtet.

Ausschuß und Abfall

Überhaupt produziert diese Landwirtschaft enorme Mengen an Ausschuß und Abfall. Beides gab es in der kleinbäuerlichen Kultur nicht. Zwar versucht auch die Industrie seit langem, ihre Abfälle als
Rohstoffe zu sehen und wieder in Produktionsprozesse einzuführen, entscheidend ist allerdings, daß in Kategorien des Minderwärtigen oder des Abfalls gedacht wird. In der kleinbäuerlichen Kultur gab
es bis vor kurzem keine Vorstellung von Abfall.

In der Tierkörperverwertungsanlage zeigt sich eine unendliche Anhäufung von Abfall. Kein Konsument ist in der Lage, sich diesen Abfall auch nur vorzustellen. Es sind wahre Bilder des Grauens. Die
angelieferten Kadaver und Fleischabfälle, in der Sprache der Fabrik als Rohwaren bezeichnet, ergießen sich aus einem riesigen Lkw auf den Boden. Neben solchen Bildern nehmen sich die Arbeiten
von Hermann Nitsch ziemlich manieriert aus, fast neigt man dazu, an Kitsch zu denken. Wenn es einen Sarkophag gibt, dann diese Tierkörperverwertungsanlage. Sie frißt Fleisch, und das in enormen
Mengen.

Die Rohwaren gelangen durch einen Einwurfschacht in eine Zerkleinerungsanlage, durchlaufen eine so bezeichnete Knochenbrechmaschine und werden dort in einen Brei verwandelt. Unter Druck wird
die Masse erhitzt und sterilisiert, werden feste von flüssigen Teilen getrennt; was übrig bleibt, wird getrocknet und schließlich als sauberes und neues Produkt in Säcke abgefüllt. Die mehlige Masse
in der Hand des Arbeiters erinnert an getrockneten Spinat.

Geschlachtet in Österreich

Kurze Unterbrechung beim Schreiben. Ich gehe in den nahegelegenen Supermarkt, um mir dort eine Wurstsemmel zu kaufen. Ich suche die Fleischabteilung. In langen Kühlregalen finden sich unzählige
verpackte Fleischportionen. Unter „geboren-geschlachtet in Österreich" lese ich auf den Packungen die Namen von Bauern: Kerschbacher Alois, Krenbacher Hans, Überbacher Klaus und so weiter. Das läßt
an Friedhofsbesuche denken, wenn man von Grab zu Grab schreitet und die Namen der Verstorbenen oder Gefallenen liest.

Selbst dann, wenn man von der Echtheit dieser Namen überzeugt ist, läßt bereits ein einziger Blick in ein solches Kühlregal keinen Zweifel daran, daß es müßig ist, diese Bauernhöfe aufzusuchen. Es
kann sich nur um sehr große Betriebe handeln, die mit unserer Vorstellung von Bauernhöfen nur noch wenig gemein haben. Übrigens fehlen auf vielen Packungen die versprochenen Herkunftsangaben. So ist
etwa bei Innereien statt dessen zu lesen: „Qualität aus Österreich". Neben dem Bauernhof wird also ein zweites Bild für Überschaubarkeit eingeführt. Österreich ist uns vertraut, und je weniger es
dieses Österreich noch geben kann, um so mehr muß es zitiert werden. Geld kennt keine Grenzen.

Die Landwirtschaft der Zukunft kennt keine Tiere mehr. Es gibt nur Material, Rohstoffe, Verwertbares. Sinn ergibt nur, was sich unmittelbar rechnet. Es stimmt, Fleisch war noch nie so billig,
übersehen werden allerdings die Kosten, die mit dieser Form der Lebensmittelproduktion verbunden sind. Und so wenig es denkbar ist, daß ein Arbeiter, der nur damit beschäftigt ist, Tierkadaver in
einen Abwurfschacht einzuführen, auf Dauer unbeschadet mit solchen Bildern leben kann, so wenig können wir Fleisch essen, ohne daß die Art seiner Produktion auf uns abfärben würde. Letztlich droht,
daß auch die Menschen einzig nach den Kriterien des Profits beurteilt und ausgemustert werden.

Erich Langjahr läßt seinen Film „Bauernkrieg" mit einer beeindruckenden Demonstration von Bauern gegen die GATT-Verträge beginnen. Diese Bauern besetzen öffentliche Plätze in einer Art und
Weise, wie es früher Arbeiter oder Studenten gemacht haben. Hier fehlen die üblichen Bilder, die wir mit einer Demonstration von Bauern in Verbindung bringen. Keine Auffahrt von Traktoren, keine
verschüttete Milch, kein Mist wird abgeladen. Schließlich gehen gut ausgerüstete Polizisten gegen die wütenden Bauern mit Wasserwerfern und Tränengasgeschossen vor. Diese Demonstration irritiert,
weil sie sich von anderen Demonstrationen deutlich abhebt, so ähnlich sie organisiert sein mag. Hier sind nicht Kühe mit Glocken behängt, hier tragen die Bauern selbst die Glocken und werden von
neugierigen Zuschauern betrachtet. Tatsächlich rükken die Bauern in die Nähe der Tiere. Von der Gesellschaft und der Agroindustrie werden sie gleichermaßen der Resteverwertung zugeführt. Das
einzige, was von der bäuerlichen Kultur noch bleiben wird, sind Artefakte, die als Kitsch multipliziert werden.

Über viele Jahrhunderte haben sich in der kleinbäuerlichen Kultur, abhängig von den jeweils spezifischen Bedingungen, Strukturen herausgebildet, die sich gegen alle Katastrophen, Kriege und Nöte als
sehr widerstandsfähig erwiesen haben. Die Bauern haben aber, so beharrlich sie auch sein mögen, der Umstrukturierung der Landwirtschaft, welche sie den Gesetzmäßigkeiten des Kapitals unterwirft, und
damit dem Ende ihrer Kultur, nichts entgegenzusetzen. Die komplexe Struktur der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ist, was ihre Produktivleistung betrifft, jeder industriellen Landwirtschaft weit
unterlegen. Und dennoch hätte diese Landwirtschaft zu einem Modell werden können. Im Gegensatz zu einer Landwirtschaft, die sich einzig an markt- und betriebswirtschaftlichen Kriterien orientiert,
hätte sie viel vorzuweisen: den schonenden Umgang mit Ressourcen und Wachstumsbegrenzung, vor allem aber die Struktur einer Arbeit, in welcher die Menschen in einem komplizierten Wechselspiel mit der
Natur und den Tieren aufgehoben sind.

Wohltuende Umständlichkeit

Erich Langjahr kommt in seinem Film ohne jeden Kommentar aus. Dadurch verschont er uns auch vor einer entlastenden Moral, die uns helfen könnte, uns auf der richtigen Seite zu wissen. Sein
Kommentar bedarf nicht der Sprache, ist er doch latenter Subtext subtil montierter Sequenzen. Seine Bilder lassen sich Zeit und erinnern dadurch an die Umständlichkeit bäuerlicher Kultur und
Erzählweise. Gleichwertig sind die einzelnen Sequenzen aneinandergereiht, immer richtet sich die Kamera auf scheinbar Banales. Was für ein wohltuender Gegensatz zu den Reportagen des Fernsehens, die
alles, gerade daß es angerissen wurde, mit Hilfe eines Kommentars zusammenkleben müssen. Neben wenigen anderen Dokumentarfilmern zeigt auch Langjahr, daß gut gemachte Dokumentarfilme bestes Kino sein
können; und politisch dazu. Solche Filme benötigen sehr viel Zeit, aber sie ersetzen Tausende anderer Filme.

„Bauernkrieg" ist zwar anläßlich der 150-Jahr-Feier der Schweiz entstanden, tatsächlich trifft er auf jedes Land zu, in dem kleinteilig gewachsene Strukturen der Gefräßigkeit großer Konzerne
geopfert werden. Er handelt zwar von alten und neuen Bauern, tatsächlich jedoch handelt es sich um einen apokalytischen Entwurf unserer neuen Gesellschaften.

Freitag, 30. Oktober 1998

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