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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Ist Wasser mystisches Element, Informationsträger oder chemischer Stoff? · Versuch einer Klarstellung

Tröpfchenweise Dünnflüssiges

Von Roland Psenner

Das Wasser ist eine chemische Verbindung, die immer noch und immer wieder für wissenschaftliche Überraschungen sorgt, und zwar auf unterschiedlichsten Ebenen: vom Molekül, das mit anderen
Molekülen Ketten und Ringe bildet, bis hin zu seiner Funktion als Lebenselement in extremen Ökosystemen, z. B. im Eis der Antarktis oder in kochendheißen unterseeischen Vulkanen. Diese Faszination
teilen Wissenschafter mit vielen Menschen, und es ist nicht verwunderlich, daß einige dem Wasser magische Fähigkeiten zusprechen, die man (noch?) nicht beweisen kann. Was die unerforschten
Eigenschaften des Wassers betrifft, so treffen sich wissenschaftliche und magische oder romantische Annäherung ganz einfach deshalb, weil beide von Dingen sprechen, die es noch nicht gibt. Trotzdem
sollten wir die Unterscheidung zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem emotionalen Weg vorerst aufrechterhalten · um Gemeinsamkeiten zu suchen und unterschiedliche Auffassungen nicht zu
verwischen.

Vorausschicken möchte ich einige Überlegungen zur Struktur des Wassers, das auf den ersten Blick unerwartete Eigenschaften besitzt: Als Verbindung (H2O) von zwei Gasen (Wasserstoff H
und Sauerstoff O) ist es flüssig, während eine ganz ähnliche Verbindung von einem Feststoff (Schwefel S) und Wasserstoff ein Gas bildet (Schwefelwaserstoff H2S), ebenso die Verbindung
von Kohlenstoff und Sauerstoff (CO, CO2) oder Kohlenstoff und Wasserstoff (Methan CH4). Warum ist das so? Das Wassermolekül ist ein kleiner Bumerang, der an den Enden
etwas positiv, in der Mitte etwas negativ geladen ist, und sich so mit vielen anderen kleinen Bumerangs zu kurzlebigen Gebilden zusammenfindet (+ und · ziehen sich an). Das Wasser ist also „klebrig"
und flüssig.

Es ist seit Jahrzehnten Lehrbuchweisheit oder Schulwissen, daß das Wasser sogenannte Cluster (Haufen) bildet. Ehrlicherweise muß man zugeben, daß diese Cluster · die niemand je gesehen hat ·
keine bestimmte Form hatten, sondern nur unglaublich schnell entstanden und zerfielen. Seit zwei, drei Jahren weiß man jedoch, daß sich bevorzugt Ringe bilden, und zwar mit drei, vier und fünf
Molekülen, die ebenfalls nur für Bruchteile von Sekunden bestehen und die physikalisch-chemischen Eigenschaften des Wassers mitbestimmen.

Dahinter steht die Vermutung, daß das Wasser mehr Ordnung enthält, als man bisher angenommen hatte, was auch einige thermodynamische Eigenschaften des Wassers erklären würde. Es wird also intensiv
geforscht, und die Wissenschaft diskutiert komplizierte geometrische Gebilde aus Wassermolekülen, die mit den früher angenommenen Clustern nichts mehr zu tun haben. Diese Forschungsergebnisse haben
sich zu vielen selbsternannten Wasserexperten offenbar noch nicht herumgesprochen.

Wasser und Gedächtnis

Von dem Fantasiegebilde „Clusterbildung im Wasser" und von der Anmaßung „wir kennen die wahren Eigenschaften des Wassers" ist es nur ein kleiner Schritt zur Behauptung „wir können diese
Eigenschaften des Wassers verändern" oder · oft als Frage getarnt · „besitzt Wasser ein Gedächtnis?" Vor allem mit der letzten Aussage wird sehr viel Schindluder getrieben, da unter dem Begriff
„Gedächtnis" alles mögliche verstanden wird: So gesehen hat jeder Stein ein „Gedächtnis", aber auch Seesedimente, Moore usw. haben ein „Gedächtnis", auch primitive Organismen ohne Nervensystem, bis
hin zu den Bakterien, haben ein „Gedächtnis". Das Anti-Nobelpreis-Komitee (in dem wirkliche Nobelpreisträger sitzen) hat heuer den Anti-Nobelpreis an Jacques Benveniste aus Frankreich verliehen, und
zwar für seine Entdeckung, daß Wasser ein Gedächtnis hat und die Information über Telefonleitungen oder Internet übermittelt werden kann.

Wassermoleküle, die schwache elektrische Ladungen tragen, können durch elektrische Felder beeinflußt werden, und es ist durchaus denkbar, daß man damit das Verhalten von im Wasser gelösten Ionen
beeinflussen kann. Diese Vorstellungen und Experimente bewegen sich im rationalen Bereich, d. h. sie sind einer Überprüfung und Widerlegung prinzipiell zugänglich, sprechen jedoch auch die
irrationale Seite des Menschen an: Elektrizität und Magnetismus haben die Menschheit seit jeher mesmerisiert, magnetisiert, verblüfft, begeistert. Während Mesmer bereits vor 200 Jahren auf
elegante Weise als Schwindler entlarvt wurde, hat sich dieser Glaube an das Unsichtbare weitgehend erhalten.

Absurd scheint mir jedoch die Kombination von Naturglauben und Technik, etwa der Anwendung hochfrequenter elektromagnetischer Felder, Wirbelmaschinen usw., wobei die Technik in solchen Fällen wie ein
goldenes Kalb verehrt und mit wunderbaren Attributen versehen wird. Warum die Eigenschaften des Wassers dadurch „verbessert" werden sollen, ist vor allem deshalb rätselhaft, weil · sollte es
tatsächlich bleibende Veränderungen in der Struktur des so behandelten Wassers geben · diese Veränderung in höchstem Maße unnatürlich wäre: Nie und nirgends wird gutes Quellwasser von der Natur so
behandelt wie in den seltsamen Maschinen der Wasser-„Verbesserer".

Es wird sehr oft übersehen, daß Wasser etwas mehr ist als eine Flüssigkeit, bestehend aus H2O-Molekülen. Wenn Sie ins Wasser hineinschauen, in einen klaren, sauberen See, dann werden
Sie folgendes feststellen: in jedem Liter Wasser sind 1 Milliarde Bakterien, mehrere Millionen Algen, Hunderttausende bis Millionen anderer Einzeller, Dutzende bis Tausende kleiner Tiere, Millionen
von Partikeln, Tausende von chemischen Verbindungen, unzählige „Dinge", die irgendwo zwischen gasförmig, gelöst und fest, organisch und anorganisch, lebend und tot angesiedelt sind. Und zwischen
diesen „Dingen" gibt es Beziehungen, die durch das Wasser vermittelt werden (das immerhin 99,9 Prozent ausmacht), und jedes „Ding" hat ein „Gedächtnis" und eine oder viele Beziehungen zu seiner
Umwelt: fressen und gefressen werden, Konkurrenz um Nährstoffe, Abbau von Giftstoffen, Aufbau und Zerstörung von Biomasse, ein Wechsel vom Festen zum Gelösten, Gasaustausch mit der Atmosphäre usw.

Wasser mit Innenleben

Wer oder was macht nun die Eigenschaften des Wassers aus? Auch nährstoffarmes Grundwasser enthält noch Millionen von Mikroorganismen pro Liter, ja selbst im Schnee auf den höchsten Gipfeln der
Alpen finden Sie in jedem Liter Millionen von Bakterien, die Schadstoffe aufbauen, abbauen, umbauen und noch viele andere Dinge tun, die wissenschaftlich nur zum kleinsten Teil erforscht sind · ein
komplexes und faszinierendes Ensemble. Viele der oben erwähnten Eigenschaften oder Leistungen oder Prozesse kann man in Unkenntnis der wahren Verhältnisse „dem Wasser" zuschreiben, sie beruhen aber
auf den Eigenschaften seiner Bewohner oder seiner Inhaltsstoffe.

Zwar untersuchen einige der selbsternannten Wasserexperten sogar Bakterien im Trinkwasser (und kommen dabei zu hanebüchenen Aussagen), sie ignorieren jedoch fast ausnahmslos nicht nur das sogenannte
Lehrbuchwissen, sondern haben auch von modernen Untersuchungsmethoden keinen blassen Schimmer, was für den Wahrheitsgehalt und den Aktualitätsgrad ihrer Schlußfolgerungen Schlimmes befürchten läßt.

Der religiöse Zugang zum Wasser ist · neben dem wissenschaflichen und magischen · ein dritter Weg. Weihwasser jedoch wirkt nicht deshalb, weil der Priester die physikalisch-chemische Struktur des
Wasser verändert hat (jedenfalls habe ich diese Behauptung noch nie gehört), sondern weil eine weitere Dimension der Dinge angesprochen wird, die eine andere Wirklichkeit berührt. Niemand käme auf
die Idee, die „Veränderungen" des Wassers durch die Weihe zu untersuchen (über die durch den Gebrauch verursachten hygienischen Veränderungen ist allerdings einiges bekannt). Wenn jemand jedoch
behauptet, durch geheimnisvolle Manipulationen und Maschinen dem Wasser neue Eigenschaften zu verleihen, muß er sich der Untersuchung stellen.

Unbeweisbare Behauptungen

Die Wissenschaft hütet sich in der Regel davor, Behauptungen aufzustellen, die nicht bewiesen oder widerlegt werden können. In der Regel sollte eine Hypothese überprüfbar sein, und Wissenschafter
legen Versuche so an, daß eine Hypothese widerlegt werden kann. Wird sie es nicht, gilt sie weiterhin als Hypothese, aber nicht als Wahrheit. Wissenschafter schlagen in der Regel kein Geld aus
unbewiesenen oder unbeweisbaren Behauptungen. Wenn jemand das tut, verliert er seinen wissenschaftlichen Status und wird wohl besser als Scharlatan bezeichnet. Auch die Wissenschaft braucht neue
Ideen, Hypothesen, Revolutionen, die altes Denken über den Haufen werfen, sie braucht Intuition und Fantasie genauso wie Experimente und Tests. Wenn man aber etwas Neues behauptet, ist der Anspruch
doppelt hoch, das Neue zu belegen oder wenigstens auf den Prüfstand zu stellen.

Die Frage „Was ist · und was ist nicht?" läßt sich am Beispiel der elektromagnetischen Felder beantworten: Es gibt einige Leute, die behaupten, sie fühlen sich durch Hochspannungsleitungen beeinflußt
· bis zur Erkrankung. Interessanterweise ist der Prozentsatz am höchsten in Schweden und geht in Richtung Süden über Deutschland und Österreich bis nach Italien und Griechenland auf praktisch Null
zurück: Es sieht also ganz nach einer nordischen Hysterie aus. Grazer Wissenschafter haben das Phänomen untersucht und festgestellt, daß es tatsächlich Personen gibt, die elektrische Felder
wahrnehmen können; die allermeisten können es aber nicht und bilden sich alles nur ein · leiden aber trotzdem darunter. Faktum ist, daß sie leiden, und das zählt.

Faktum ist auch, daß einige Menschen sich besser fühlen, wenn sie ihr Trinkwasser mit einem magischen oder technischen Gegenstand in Kontakt bringen, und das zählt. Was ich nicht akzeptiere, ist die
pseudowissenschaftliche Verbrämung der Magie: Ist sie sich ihrer Sache so wenig sicher, daß sie die Wissenschaft als Krücke benötigt, der sie gleichzeitig vorwirft, nicht auf dem Laufenden zu sein?
Dabei ist es gerade umgekehrt: Viele der selbsternannten Wasserexperten operieren mit dem Wissensstand des letzen Jahrhunderts und fühlen sich durch neue wissenschaftliche Erkenntnis höchstens
gestört. Ich habe den Eindruck, viele wollen gar nicht wissen, sondern glauben.

Die Wissenschaft wird (wahrscheinlich) noch einige faszinierende Eigenschaften des Wassers herausfinden und erklären, aber sie wird darob die Leute weder glücklich noch unglücklich machen. Glück oder
Unglück sind menschliche Erfahrungen und haben viele Dimensionen. Deshalb bitte ich darum, die Magie Magie sein zu lassen, die Religion Religion und die Wissenschaft Wissenschaft.

Dr. Roland Psenner ist Professor für Limnologie an der Universität Innsbruck. Auch sein Text ist einem Vortrag bei den Stamser Interventionen '98 entnommen.

Freitag, 23. Oktober 1998

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