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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Eine kleine Kulturgeschichte des Flüssigen

Lebensquelle Wasser

Von Gerburg Treusch-Dieter

Wasser als Leben ist Bewegung, die durch die Finger rinnt. Kein Tropfen, kein Augenblick gleicht dem anderen. Eine Permanenz der Veränderung · fließend, strömend, brausend, plätschernd,
murmelnd, glucksend, siedend, schäumend, kochend, springend, zischend, gischend, wallend, wälzend, wogend, steigend, fallend, stürzend, gurgelnd, brodelnd, spritzend, glitzernd, gleißend, zitternd, ·
eine Permanenz der Veränderung, von der mit Heraklit gesagt werden kann: „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß." Denn dieser Fluß ist nicht zweimal derselbe.

Allerdings ergibt der ununterbrochene Fluß der Dinge noch keineswegs eine Kulturgeschichte. Sie muß offensichtlich gegen ihren eigenen Untergang geschrieben werden, gegen ihren Untergang in einem
Überfluß, der beides ist: Überflüssigkeit im Sinne von Reichtum und Verschwendung, und Überflüssigkeit im Sinne von Abfall, der auch das Weggeschüttete oder Weggeworfene sein kann. Zu dieser immer
gegebenen Ambivalenz des Flüssigen verhalten sich weitere, mit dem Flüssigen verbundene Strukturmomente analog, da das Flüssige nie aus dieser Zweideutigkeit des Überflüssigen, sei es Reichtum oder
Abfall, entlassen wird.

Die Ambivalenz des Flüssigen

Das Flüssige ist das Element des Ambivalenten, eines doppelwertigen Schwankens, was sich nicht vereindeutigen läßt. Nimmt man die Extreme Reichtum und Abfall, ergeben sich synonyme
Signifikantenketten wie beispielsweise Reichtum, fruchtbarer Boden, kanalisiertes Wasser und so fort. Oder Abfall, unfruchtbares Sumpfland, versickernde Kloake und so fort. Am Ende münden beide
Extreme in eine gleichlautende Entgegensetzung, denn Reichtum wird auch als Liquidität, Abfall wird als Liquidierung bezeichnet. Ist jemand liquide, blättert er die Scheine nur so
hin, er demonstriert Überfluß. Wird jemand liquidiert, bleibt von ihm nicht einmal der Schein. Er ist überflüssig und wird spurlos ausgelöscht. Warum aber werden beide Formen der
Überflüssigkeit durch „Verflüssigung" ausgedrückt?

Liquidesein bedeutet, sich in einem flüssigen Seinszustand zu befinden, aber in der Form der Verfestigung in der Form von Geld. Liquidiertwerden bezeichnet ebenfalls einen flüssigen Seinszustand,
doch in der Form der Auflösung, in der Form von Unwert, also weggeworfen, weggeschüttet werden kann. Mit der Redensart „Verpiß dich!" fängt dieses Weggeworfen-, Weggeschüttet- oder Weggekipptwerden
an. Es geht damit weiter, daß jemand „in der Gosse gelandet" oder „den Bach runter" ist. Schließlich schlagen die „Wogen des Schicksals" über jemandem zusammen, als handle es sich bei seinem
„Untergang" um eine „Naturkatastrophe".

Warum führt die Frage nach dem Flüssigen überhaupt dorthin? Weil Flüssiges nie aus der Ambivalenz entlassen, weil auch das „Verflüssigte" in sich doppelwertig, sprich, doppelunwertig ist? Der
Redensart, daß jemand „in seinem Blute liegt", entspricht die umgekehrte Redensart, daß jemand „in seinem Glück badet". Dort fiel ein Verbrechen vor, hier ging ein Wunsch in Erfüllung, der jedoch,
gemessen an einem „festen Vorhaben", ebenfalls Unwert ist. Das „Baden im Glück" verweist darum, wie das Verbrechen, auf die Kloake und nicht auf ein hygienisches Bade, denn weder das Flüssige noch
das „Verflüssigte" wird aus der Ambivalenz entlassen. Ob „Baden im Glück" oder „Blutbad". Beides ist einem Ort des Obszönen zugewiesen, der gemeinhin als „Sumpf" bezeichnet wird.

Ströme und Kreisläufe

Damit wird eine Topologie des Flüssigen erkennbar, denn in jeder Kultur wird Flüssiges bestimmten Orten zugewiesen, die an Strukturmomente gebunden sind. Innerhalb dieser Topologie stehen sich
zwei Extreme gegenüber, die sowohl getrennt als auch verbunden sind, da im Reichtum das Überflüssige ebenso enthalten ist wie im Abfall. In jedem dieser Extreme, die in dem von Reichtum und Armut
ausgehenden Signifikantenketten schon angedeutet wurden, kehrt die Ambivalenz des Flüssigen und des „Verflüssigten" wieder. Für das Verhältnis von Liquidesein und Liquidiertwerden gilt deshalb, daß
im Liquidesein die Liquidierung sowohl verdrängt ist als auch nicht. Es geht um eine Bewegung der Verschiebung und Ersetzung.

Das Flüssige wird durch das Feste ersetzt, dabei kehrt das Flüssige im Festen wieder, indem es seinen Ort verschiebt, der immer an Strukturmomente gebunden ist. Sie schließen in unserer Kultur eine
fundamentale Abwehr des Flüssigen ein. Doch diese Abwehr läßt sich nie perfekt aufrechterhalten, denn Kultur, vor allem die kapitalistische, basiert auf Austausch, auf Zirkulation, deren Inbegriff
das Flüssige ist. Was Liquidesein und Liquidierung aussprechen, das ist allen „Kreisläufen", allen Kapitalströmen, Autoströmen, Datenströmen immanent. Es drückt sich in dieser ganzen inflationären
Metaphorik des Fließens aus, die heute das Verdrängte am Verdrängenden da zur Erscheinung bringt, wo alles stockt, wo nichts mehr fließt, wo sich das „System" selbst blockiert. Den Kapital-, Auto-
und Datenströmen entspricht das „Umkippen" der Meere und Flüsse, während das Surfen im Cyberspace oder das Navigieren im Netz zur neuesten Trockenübung wird.

Das Modell dieser Blockierung ist die anale Verstopfung: Ein Reichtum, der seinen Abfall nicht mehr verdauen, nicht mehr „verflüssigen" kann. Daß Ausscheidung aber nicht gleich Abfall ist, muß
hinzugesagt werden.

Erwachsenwerden als

Verfestigung

Die Liquidierung des Flüssigen ist „grundlegend" für unsere Kultur, die Überflüsse nur in verfestigter Form zuläßt. Dazu Sigmund Freud: Er vergleicht den Prozeß der Ichwerdung, in dessen Verlauf
an die Stelle des Es, mittels Über-Ich, das Ich treten soll, mit der „Trockenlegung der Zuider-See". Doch diese Austrocknung soll die Libido, die wörtlich, das Flüssige ist und Psychodämme, -
deiche und -bollwerke „überschwemmt", beherrschbar werden, als ob die Ich-werdung ein Akte der Landnahme sei, ein Akt der Kolonisierung oder ein Boden-unter-den-Füßen-Gewinnen, das zu einem
unumstößlichen Standpunkt, zu einem unerschütterlichen Sockel schon bei Lebzeiten führt, auf dem nach dem Tod das eherne Monument dessen errichtet wird, der nie schwankte oder wankte, dem nie „das
Wasser bis zum Hals stand" und so fort.

Erwachsenwerden ist demnach ein Prozeß, der als zunehmende Verfestigung aufgefaßt wird, die mit dem Hartwerden der „Fontanelle" beginnt. Eine „gefestigte Persönlickeit" wird niemals „feucht hinter
den Ohren" sein. Auf das Geschlechterverhältnis übertragen, heißt das, hart, fest, trocken, so hat das Männliche zu sein · „ein Junge weint nicht". Weibliches ist weich, wetterwendisch, feucht, als
ob jede Berührung mit einer Frau zur männlichen Selbstauflösung führe.

Unsere Kultur scheint sich, folgt man ihren Metaphern, aus Schiffbruchs-erfahrungen und Akten der Landnahme herzuleiten. Sobald Wasser und Erde, Flüssiges und Festes nicht mehr durch Dämme, Deiche
und Bollwerke geschieden sind, kehrt das Trauma des Bodenverlusts und des Scheiterns in Schicksalsstürmen wieder, das lange genug schon auf das Weibliche projiziert wird, da Frauen immer ein der Erde
analoger Besitz sein sollten, aber nie ganz trocken zu legen waren. Sie konnten dem Sumpf des Obszönen nie ganz entrissen werden. Grund, respektive Ab-Grund: „Sie sind halt nicht ganz dicht". Sie
haben ein Loch und laufen nach unten aus. Blut bei der Menstruation, Fruchtwasser bei der Geburt. Ununterbrochen sich verflüssigend und darum ohne moralische Festigkeit, kommen Frauen als
Kulturträgerinnen nicht in Frage, was von der antiken Metaphysik, über christliche Theologie, bis in die Moderne, beispielsweise von Freud, wiederholt wird und auch in der Postmoderne noch im
Schwange ist.

Mit Beginn der Moderne gelten Frauen im „Hexenhammer" aufgrund ihrer „flüssigen Komplexion" als „Einfallstor des Teufels", der es seinerseits auf den Untergang alles Festen, insbesondere aber auf den
des Kirchenschiffs abgesehen hat, den er im Bund mit der „Hexe" bewirkt. Denn ihre flüssige Komplexion wird mit Verführbarkeit, Wechselhaftigkeit und Unfähigkeit zur Wahrheit, also mit Täuschung
gleichgesetzt. Diese Täuschung wird der Einbildungskraft zugeschrieben, als ob sie ein für jedes Gaukelspiel empfängliches Wasser sei, das alle mit seiner Lüge verschaukelt. Die dem Flüssigen
angelastete „Unmoral" der Einbildungskraft ist unerschöpflich. Durch die Verbrennung von Millionen Frauen sollte nicht zuletzt sie mit Beginn der Moderne „ausgetrocknet" werden.

Denn die Moderne bringt den Körper als das feste Ding einer Ratio hervor, der ihn durch ihr Cogito, ihr „Ich denke", kontrolliert. Descartes nennt den Körper einen Leichnam, der
gleichbedeutend mit einer Gliedermaschine ist. Im 17. Jahrhundert wird der Körper als Automat konzipiert, im 19. Jahrhundert als Maschine, heute als Computer. Jedes dieser Organisationsprinzipien
funktioniert als Ersetzung und Verschiebung der Überflüsse des Körpers, ob der Herz-Lungen-Kreislauf als Pumpe, der Stoffwechsel als Verbrennungsmotor oder das Gehirn als elektronischer Schaltzyklus
aufgefaßt wird. Die Konstruktion des Körpers wirkt als Verdrängung, dabei wechseln die Überflüsse des Körpers ihren Ort.

Neueste Diskurse wie die Diskriminierung des Blutes durch Aids, die Verlangsamung der Spermien und die in Abwässer fließenden Pseudo-Östrogene der weiblichen Ausscheidungen, die angeblich mit einer
„Feminisierungs-Seuche" des Mannes drohen, sprechen es deutlich aus, daß die Überflüsse des Körpers heute mit Abfall gleichgesetzt werden.

Dabei sind diese Überflüsse des Körpers mit seinem intensivsten Lebensäußerungen verbunden, beispielsweise wenn der Speichel im Mund zusammenläuft, wenn uns der Schweiß ausbricht, wenn das Blut
aufwallt, die Tränen strömen. Doch die neuesten Diskurse sprechen aus, daß diese Überflüsse am besten vollends austrocknen sollen. Oder wollen sie austrocknen? Was seine kulturelle Bedeutung
verliert, versiegt. Es könnte also sein, daß die

Trockenlegungen der Zuider-See · sprich, der Libido · durch die Umcodierung der Körper zum elektronischen Schaltzyklus doch nicht gelingt. Längst wird Leben als Information aufgefaßt, längst
zirkuliert es als ein DNS-Datenstrom, der in der Genomanalyse auf Festplatten gespeichert wird.

Wasser- und Blutquelle

Das kulturgeschichtliche Gegenstück zu jenem mechanischen, maschinellen und kybernetischen Organisationsprinzipien ist die Kröte, dieses schleimige, warzige, zwischen Erde und Wasser verkehrende,
metamorphotische Tier. In der Antike und im Mittelalter symbolisiert es die Gebärmutter, als ob diese selbst auf niedrigen Beinen zwischen Feuchtem und Trockenem, zwischen Leben und Tod
grenzüberschreitend herumlaufen würde. In ihrer Ambivalenz zwischen Reichtum und Abfall, zwischen reinem Gefäß und unreiner Kloake, zwischen geordnetem und zufälligem Leben, das aus ihr hervorgeht,
ist die Gebärmutter · respektive, die Kröte · sowohl lust- als auch ekelbesetzt. Der Ekel dominiert, Augustinus' Satz, daß wir zwischen „Kot und Urin" geboren sind, ist sprichwörtlich geworden. Doch
die Kloake, die für den reinen Geist der Philosophie, der Theologie und der bürgerlichen Vernunft ein Alptraum ist, kehrt in der Ersetzung des Flüssigen durch das Feste wieder, denn das Geld, das
Marx als Logik des reinen Geistes persifliert, wird weiterhin als „Kröten" bezeichnet.

Daß der reine Geist auf eine Kult- und Kulturgeschichte vor der Antike zurückblicken kann, in der er noch nicht das Verdrängte war, geht aus dem Verdrängten hervor, wie es in Märchen erzählt wird.
Denn dort springen „Kröten" aus dem Hals von schwarzen Bräuten, während weiße Bräute „Taler" von sich geben. Dort wie hier wird von Reichtum erzählt, einmal in fester, einmal in flüssiger Form, denn
die „Kröten" verweisen, im Gegensatz zu den „Talern", auf die Gebärmutter. Daß sie aus dem Hals von schwarzen, also verdrängten Bräuten springen, hat kult- und kulturgeschichtlich damit zu tun, daß
die Geburt vor der Antike als Wiedergeburt gefeiert wurde. Dabei gab eine geopferte Braut ihr Blut für ein Leben nach dem Tod, für eine Unsterblichkeit, die noch nicht von der Sterblichkeit
geschieden war. Die Gebärmutter, die aus dem Hals jener Bräute im Märchen springt, symbolisiert die Blutquelle dieses Opfers, seinen Überfluß weiblich gegebenen Lebens, dessen Referenz die mit der
Kröte verbundenen heilige Wasserquelle ist.

Bis ins Mittelalter behalten die Quellheiligtümer, die mit diesem Braut-opfer in Verbindung stehen, ihre von seiner Blutquelle ausgehende Heilkraft. Sie behalten diese Heil-kraft nicht zuletzt
deshalb, weil sich die Kirche diese Quellheiligtümer integrierte, obwohl sie dem reinen Geist verschrieben war. Der Tiroler Ort Stams kann mit seiner Quelle des heiligen Johannes ebenso davon
erzählen, wie das Quellheiligtum des „Höttinger Bilds" in der Nähe von Innsbruck.

Brautopfer im Froschkönig

Daß die Kröte das metamorphotische Organisationsprinzip der Körper symbolisierte, geht nicht nur aus einer Unzahl von Heilriten hervor, sondern auch aus dem Märchen vom „Froschkönig". Die
Froschgestalt des Prinzen in diesem Märchen wird zwar als ekelerregend dargestellt, aber die Prinzessin, die ihm dazu verhilft, daß er sie ablegen kann, ist dennoch von Lust erregt, vor allem beim
Spiel, das beide an einer Quelle treiben. Diese Quelle legt erstens nahe, daß die Prinzessin selbst eine „Kröte" ist; zweitens, daß sie zu den schwarzen, den geschichtlich verdrängten Bräuten der
Märchen zu zählen ist, aus deren Hals „Kröten" springen; drittens, daß sie ihre Gestalt ebenso wechselt wie der „Froschkönig", denn erzählt wird von ihr so, als sei sie eine weiße Braut, deren Hals
„Taler" von sich gibt.

Nur ein letztes Überbleibsel zeugt davon, daß die Prinzessin im „Froschkönig" mit dem Brautopfer identisch ist, das sein Leben im Tod für eine Wiedergeburt und damit für eine Unsterblichkeit gibt,
die im Märchen vom „Froschkönig" der goldene, in die Quelle gefallene Ball der Prinzessin symbolisiert, weil diese Unsterblichkeit in der Kult- und Kulturgeschichte, auf die der reine Geist
zurückblicken kann, nicht von ihm ausgeht, sondern von der weiblichen „Lebensquelle". Daß sie zur „Quelle allen Übels" wird, erzählt auch das Märchen vom „Froschkönig", denn die Prinzessin klatscht
den König in Froschgestalt an die Wand, aber siehe da! Er wird wiedergeboren als Prinz. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Kult- und kulturgeschichtlich ist die Wasserquelle auf Wiedergeburt und Unsterblichkeit bezogen. deshalb ist sie „Wasser des Lebens". Ihre Referenz ist die Blutquelle, die jedoch einer Wunde des
Opfers entspringt, während die Wasserquelle der Erde ohne Verletzung entströmen kann. Darum ist sie imstande, Opferwunden zu heilen, wer immer zu ihr hinpilgert. Sie ist sprudelnde Gabe, Jungbrunnen,
Umkehrung der Opferblutquelle: „Heile, heile Segen, drei Tag Regen, drei Tag Schnee", was immer es gewesen ist, es tut nicht mehr weh . . .

Die Ambivalenz des Flüssigen ist dabei jedoch nicht aufgehoben, da Blut- und Wasserquelle ebenso wie die Gebärmutter und Kröte stets auf beides bezogen sind: auf Wunde und Heilung, auf Tod und Leben,
auf Tabuisierung und Enttabuisierung.

Kloake und Gefäß

Die Moderne beginnt mit einer schrankenlosen Enttabuisierung aller „Ressourcen", die kein Tabu mehr kennt und die nicht zuletzt im Zuge der Hexenprozesse durchgesetzt wird. Deshalb ist heute mit
Geschichten von Kröten und Nixen nix mehr zu machen. Und doch will ich noch eine kleine, aus den zerfallenen Quellheiligtümern übriggebliebene Geschichte erwähnen, die nur mehr einen Satz lang ist:
„Immer, wenn ein Kind seine Milchbröckchen aß, kam eine Unke und aß mit, aber die Mutter sah eines Tages die Unke und verbot dem Kind, daß es ihr von seinem Milchbröckchen gab, worauf das Kind
starb."

Die Unke oder Kröte hatte das Kind mit seinem Lebenselement, mit dem Flüssigen, verbunden, von dem es durch seine Mutter selbst abgeschnitten wird, die das Gegenstück zur Unke ist. Wurden dieser
Mutter zu viele Märchen von schwarzen und weißen Bräuten erzählt, wie sie nach den Hexenprozessen üblich waren? Jedenfalls verhält sie sich so, wie es sich für die bürgerliche Moderne gehört. Sie
repräsentiert die Mutter als reines Gefäß, das mit der unreinen Kloake der Unke nichts zu tun haben will.

Die Mutter selbst ist die Liquidierung des Flüssigen, obwohl sie an das Kind Liquides übergibt: Milchbröckchen, die in dieser Geschichte jedoch reproduktive Nahrung sind. Bezogen auf Ersetzung und
Verschiebung schließt dies ein, daß die Milch in diesen Bröckchen zwar noch auf die „Lebensquelle" verweist, aber der „Witz", die sprudelnde „Lebensquelle", die mit der Muttermilch sprichwörtlich
eingesogen wird, ist gestrichen. An ihre Stelle tritt „trockene" Nahrung, die nicht mehr ist als das Gefäß, in der sie aufbewahrt wird.

Die Streichung der weiblichen „Lebensquelle" impliziert seit der Antike eine lange Geschichte der Ersetzung und Verschiebung des Flüssigen. Heute gilt die Technologisierung jener reproduktiven
Milchbröckchen, denn das Gefäß, das die Mutter bisher gewesen ist, erscheint heute als Reagenzglas im Labor der Reproduktionstechnologie, wo es eine „Lebensquelle" simuliert, die es gleichzeitig
liquidiert.

Im „Wörterbuch des Aberglaubens" wird gegen alles, was im Hals stecken bleibt, Bestreichen mit der Kröte vorgeschlagen, deren metamorphotisches Organisationsprinzip des Körpers jedoch vergessen ist.
Wer sich daran erinnert, kann sich an Flüssigem betrinken, ohne etwas zu ertränken oder zu ertrinken. Ein „trunkenes" Schiff ist bisher die gelungenste Konfiguration der Ambivalenz des Flüssigen,
ohne die kein Leben möglich ist. Selbst Platon schlägt bei großem Schmerz im „Timaios" als Therapie eine Schiffsreise vor, weil sie die Erschütterung bei der Geburt wiederhole. Diese Erschütterung
bringt die „Lebensquelle" wieder zum Fließen, die Gefühle wogen, der Haß schäumt, die Wut kocht, der Schmerz strömt, das Lachen gluckst, die Lust brodelt, die Tränen stürzen, oder umgekehrt, das
Wasser hält dem Leben seinen Spiegel entgegen, der nie dasselbe Bild zurückwirft.

„Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß" · und dies ist kein Unkenruf, sondern ein Ruf der Unke, die mittrinken will.

Dieser Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den Frau Prof. Gerburg Treusch-Dieter anfangs Oktober bei den „Interventionen 98" in Stams (Tirol) hielt, die heuer dem Thema
„Wasser" gewidmet waren.

Frau Prof. Treusch-Dieter ist Kulturwissenschaftlerin und lehrt Allgemeine Soziologie an der Freien Universität Berlin und an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Theorie der
Geschlechterdifferenz, Geschichte der Sexualität, Körper und Technologie. Zuletzt von ihr erschienen: „Die Heilige Hochzeit. Studien zur Totenbraut", Pfaffenweiler 1997.

Freitag, 23. Oktober 1998

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