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Poetische Kopfwäsche

Von Hermann Schlösser

Das Haarshampoo namens Timotei gibt sich naturverbunden. Lindgrüne Farben zieren eine schneeweiße Plastikflasche, und eine Zeichnung stellt die „Wildkräuter" vor, deren Extrakte selbst im
„normalen Haar" den „Glanz" erwecken sollen, den das Etikett verspricht. Und damit auch der Unaufmerksamste die Naturbelassenheit des Produkts bemerkt, wird sie auf der Rückseite der Flasche noch
einmal in Worte gefaßt: „Schönheit und Poesie der Natur" steht da, als ob man durch den einfachen Kauf eines Drogerieprodukts einen ganzen Wald voll wilder Kräuter miterwerben könnte.

Prosaischer als dieser Slogan kommt das gesetzlich vorgeschriebene Verzeichnis aller Zutaten („Ingredients") daher. Möglicherweise haben TEA-Dodecylbenzenesulfonate, Guar Hydroxypropyltrimonium-
Chloride oder Ethoxydiglycol am Glanz des frisch gewaschenen Haares gerade so- viel Anteil wie die Extrakte von Kamille, Melisse und Rosmarin. Doch läßt sich mit Ingredienzen, deren Herkunft aus dem
Labor schon an ihren Namen abzulesen ist, derzeit keine effiziente Reklame für Toilettenartikel machen. Denn für den eigenen Körper ist bekanntlich nur das Natürliche gut genug.

Wahrscheinlich sind die chemischen Bestandteile auch deshalb nur in einem äußerst kleinen Schriftgrad aufgelistet. Auch sind sie am unteren Rand der Flasche plaziert, während die werbeträchtige
Verheißung von Schönheit, Poesie und Natur ganz oben, an der Spitze aller Mitteilungen, steht.

Was aber füllt die Lücke zwischen Natur und Chemie? Die Kunst, oder genauer gesagt, ein Gedicht. Es trägt den Titel „Windgeschenke" und beginnt mit den Worten: „Die Luft ein Archipel / von
Duftinseln. / Schwaden von Lindenblüten/ und sonnigem Heu, / süß vertraut, / stehen und warten auf mich / als umhüllten mich Tücher, / von lange her..."

Die Verfasserin dieser duftigen Zeilen ist keine PR-Spezialistin, sondern eine Lyrikerin mit anerkannt hochkulturellem Anspruch: Hilde Domin, geboren 1912. Knaurs „Lexikon der Weltliteratur"
weiß über sie zu berichten: „Ihre sehr persönl. Lyrik ist von zarter Empfindsamkeit, von Schwermut und Skepsis überschattet und doch offen für das Schöne und Heitere, das sich ihr darbietet."
Domins Gesammelte Gedichte sind 1987 bei S. Fischer in Frankfurt erschienen, und ebendort haben die Shampooflaschen-Designer auch die „Windgeschenke" entnommen. Ein Copyright-Vermerk unter dem Text
weist bibliographisch gewissenhaft auf die Quelle hin.

Was aber geschieht mit Hilde Domins sehr persönl. Lyrik, wenn sie sich plötzlich auf dem Rücken einer Plastikflasche wiederfindet? Und was versprechen sich die Shampoohersteller davon? Kann ein
Gedicht einem Kopfwaschmittel höhere kulturelle Weihen verleihen? Oder handelt es sich um Kultursponsoring? Dient das Shampoo als Flaschenpost, die das Gedicht zwar nicht in aller Munde, aber doch in
aller Badezimmer und Duschecken transportiert?

All das kann sein, und noch manches mehr. In jedem Fall aber bietet die Flasche mit den Versen Stoff zu kulturkritischen Gedanken. Denn daß sie ein zeitgemäßes Aroma verströmt, werden selbst
diejenigen zugeben müssen, die über das lyrisch-chemische Arrangement die Nase rümpfen möchten.

Freitag, 16. Oktober 1998

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