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Sokals Falle und die Folgen

Von Peter Markl

Im April 1996 erschien in "Social Text", einer der - wie man hört, aber kaum glauben
mag - führenden amerikanischen Zeitschriften auf dem Gebiet der "cultural studies", ein
viele Seiten langer Artikel, dessen Thesen durch nicht weniger als 240 Literaturzitate,
auf deren vollständigen Abdruck der Autor bestanden hatte, gestützt schien:
"Grenzüberschreitungen - für eine transformative Hermeneutik der
Quantengravitation".

Wer nicht weiß, was das heißen soll, ist nicht allein. Die Herausgeber der Zeitschrift
haben den Artikel auch nicht verstanden. Und da war eigentlich auch nichts zu
verstehen, denn Alan Sokal, theoretischer Physiker an der New York Universität, sah
ihn als eine Art Test: Er schrieb diese Satire, weil er herausfinden wollte, "ob eine der
führenden amerikanischen Zeitschriften auf dem Gebiet der ,cultural studies`
einen Artikel veröffentlichen würde, in den großzügig eine Menge Unsinn
eingestreut war, wenn er nur a) gut klang und b) die ideologischen Vorurteile der
Herausgeber schmeichelte. Die Antwort ist leider: ja".

Nach dem Erscheinen des Artikels hat Alan Sokal in der Zeitschrift "Lingua Franca"
das Rezept preisgegeben, nach dem er den Artikel angefertigt hatte. "Mein Artikel",
so schrieb er, "ist eine Melange aus Wahrheiten, Halbwahrheiten,
Viertelwahrheiten, falschen Behauptungen, Trugschlüssen und Sätzen, die zwar
syntaktisch richtig sind, aber überhaupt keinen Sinn ergeben. (Leider gibt es von
den letzteren in dem Artikel nur etwa eine Handvoll: Ich habe mich wirklich
angestrengt, so etwas zustande zu bringen, aber abgesehen von seltenen
inspirierten Augenblicken kriege ich das einfach nicht hin.) Darüber hinaus habe
ich auch einige andere Strategien verfolgt, die in diesem Genre - wenn auch
gelegentlich unabsichtlich - gut etabliert sind: Berufung auf Autoritäten, statt auf
Logik; spekulative Theorien, die man als etablierte Wissenschaft hinstellt,
überzogene oder sogar absurde Analogien, eine Rhetorik, die zwar gut klingt,
aber mehrdeutig ist und die verwirrende Vermischung der alltäglichen Bedeutung
von Wörtern mit ihrer technischen Bedeutung in der Fachsprache."

Ideologie statt Qualitätsstandard? Man wird den Eindruck nicht los, daß die
Herausgeber eine ernsthafte kritische Lektüre bereits einstellten, nachdem sie den
delikaten Köder geschluckt hatten, den Sokal für sie ausgelegte: "Es gibt viele
Naturwissenschafter, besonders Physiker, welche immer noch den Gedanken
ablehnen, daß Fächer, die sich mit Sozialkritik und Kulturkritik befassen, für ihre
Forschungsarbeit jenseits einiger Randglossen etwas beitragen können. Noch
weniger akzeptieren sie die Idee, daß die Grundlagen ihres Weltbildes revidiert
oder im Licht solcher Kritik neu gelegt werden müssen. Sie ziehen es vor, sich an
das alte Dogma zu klammern, das dem intellektuellen Weltbild des Westens durch
die nachaufklärerische Hegemonie auferlegt wurde. Nämlich, daß es eine
Außenwelt gibt, deren Eigenschaften von Menschen unabhängig ist; daß diese
Eigenschaften in durch die ,ewigen` Gesetze der Physik beschrieben werden und
daß Menschen von diesen Gesetzen ein verläßliches, wenngleich unvollkommenes
und vorläufiges Wissen erlangen können, wenn sie sich nur an die ,objektiven`
Verfahren und erkenntnistheoretisch einengenden Vorschriften halten, wie sie die
sogenannte wissenschaftliche Methode vorschreibt."

Diese "Cartesianisch-Newtonsche Metaphysik" sei aber durch die Physik des 20.
Jahrhunderts längst überholt; revisionistische Untersuchungen auf dem Gebiet der
Geschichte und Wissenschaftsphilosophie hätten ihre Glaubwürdigkeit ausgehöhlt; die
jüngste feministische und poststrukturalistische Kritik habe den Kern der westlichen
Wissenschaftspraxis demystifiziert und gezeigt, daß sich hinter der Fassade der
"Objektivität" eine Herrschaftsideologie verbirgt. Es sei immer offensichtlicher
geworden, daß die physikalische "Realität" im Grunde ebenso ein soziales und
linguistisches Konstrukt ist wie die soziale Realität: Was Wissenschafter sagen, kann
daher - trotz aller nicht zu leugnenden Meriten - keinen Sonderstatus beanspruchen: Es
steht erkenntnistheoretisch auf derselben Stufe wie die narrativen Beschreibungen, die
nun von alternativen oder sozialen Randgruppen kommen."

Sokal holt dann zu seiner kühnsten Behauptung aus: Die immer noch spekulative
Theorie der Quantengravitation, welche die Struktur der Raum-Zeit in den allerkleinsten
Dimensionen beschreiben soll, hat tiefe politische Implikationen. Er beschreibt amüsiert,
wie er diese Idiotie zu verkaufen versuchte: "Zuerst zitiere ich einige umstrittene
philosophische Sentenzen von Heisenberg und Bohr. Dann behaupte ich - ohne
irgendein Argument - daß die Quantenphysik in ihren Grundlagen mit der
postmodernistischen Erkenntnistheorie übereinstimme. Was dann folgt, ist ein
Pastiche - Derrida und allgemeine Relativitätstheorie, Lacan und Topologie,
Irigaray und Quantengravitation - alles zusammengehalten von vagen
Anspielungen auf ,Nichtlinearität`, ,Flüsse` und ,ganzheitsstiftende allgemeine
Wechselwirkungen`. Zum Schluß schwinge ich mich - wieder ohne jedes
Argument - zu der Behauptung auf, daß die postmoderne Wissenschaft den
Begriff einer ,objektiven` Realität abgeschafft habe."

Alles das endet in einem wahren Furioso an Schwachsinn: Sokal fordert eine
"befreiende" Wissenschaft, die sich politischen Strategien unterordnet - eine
Wissenschaft, zu der man nicht kommen wird ohne eine tiefgreifende Revision auch der
Mathematik. Was sich abzeichnet, sei eine emanzipatorische Mathematik, eine
multidimensionale und nichtlineare Logik von Fuzzy Systemen, "auch wenn dieses
Herangehen an die Probleme noch stark von ihrem Ursprung in der Krise der
spätkapitalistischen Produktion geprägt ist".

Postmoderner Verzicht auf Sachverstand Eigentlich sollte man annehmen, daß die
Herausgeber das Manuskript lachend abgelegt oder wenigstens an jemanden
weitergereicht hätten, der über elementare naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt.
Nichts dergleichen geschah. Doch das ist nur der Beginn eines weiteren Skandals, denn
auch der Verleger wollte auf die Dienste der beiden offensichtlich inkompetenten
Herausgeber nicht verzichten. Diese erklärten umgehend, daß sie in dem Artikel den
ernsthaften Versuch eines Physikers sahen, in der postmodernen Philosophie eine
Bestätigung für neue Entwicklungen auf seinem Gebiet zu finden.

Gutachten würde die Zeitschrift nie erbitten, schließlich sei sie ein "ohne
Sachverständige arbeitendes Journal der politischen Meinungsbildung und
Kulturanalyse", das sich ebensosehr in der Tradition der "kleinen Zeitschrift der
unabhängigen Linken sehe wie im akademischen Bereich" - anscheinend Gebiete, auf
denen man ohne auch nur den Anschein von Qualitätsstandards auskommt.

Seither gab es über Sokals Falle und ihre Folgen in den USA über 20 öffentliche
Symposien und selbst im Internet findet sich eine ausführliche Dokumentation.
Wahrscheinlich hätte das offensichtliche Fehlen jedes akademischen Standards in
manchen Tümpeln der Postmoderne nicht so katastrophale Folgen gehabt, wenn sie
nicht auch als ein Kapitel in dem vor allen in den USA stattfindenden "Krieg um die
Naturwissenschaften" gesehen würde - ein Krieg, in dem einige der Wortführer der
"cultural studies" den Naturwissenschaftern durch pappige Sprüche so auf die Nerven
gegangen waren, daß sich die "konservativeren" unter ihnen entschieden zu wehren
begannen. Erst jetzt ist eine Art Gegenoffensive angelaufen - initiiert von
Wissenschaftern, die sich politisch eher auf der "rechten" Gegenseite
zusammengefunden hatten. ("Links" und "rechts" sind allerdings gerade in diesem
Zusammenhang noch fragwürdigere Kategorien als sonst - wie freimütig die
Kontrahenten auch immer damit umgehen mögen.)

Für viele Wissenschafter war das Hineintappen in Sokals Falle jedenfalls ein
gefundenes Fressen. Sokal selbst gehört übrigens nicht zu ihnen: In ihm schlägt das
Herz eines alten Linken, der darüber entsetzt ist, daß die Diskussion wichtiger Themen
in bestimmten akademischen Kreisen der USA seiner Ansicht nach immer häufiger von
den Windbeuteleien akademischer Scharlatane beherrscht wird.

Wie etabliert man institutionalisierte Kritik In Europa ist die Situation fraglos
besser, obwohl die europäischen Bezeichnungen für derartige Untersuchungen dazu
einladen, in ihnen eine Qualität zu suchen, welche im Allgemeinen nur die
institutionalisierte kritische Diskussion unter Naturwissenschaftern hervorbringt.
Arbeiten, die in den USA unter dem angenehm bescheidenen Titel "cultural studies"
firmieren, zählt man in Europa zu den Kulturwissenschaften oder
Wissenschaftswissenschaften, zur Wissenschaftssoziologie oder Wissenschaftstheorie.
Das kann nur zu Mißverständnissen führen: Gerade die interessantesten unter den
Arbeiten zählen eher zu den "Geisteswissenschaften" und dort fehlt der unpersönliche
Mechanismus, der in den Naturwissenschaften zur Elimination von Fehlern führt - es ist
ausgeschlossen, daß in einer der führenden Zeitschriften aus dem Gebiet der
Naturwissenschaften sich massive Inkompetenz so breit machen kann wie in der
Zeitschrift, die Sokal als Ziel wählte.

Das liegt nicht so sehr an den Naturwissenschaftern, sondern an institutionalisierter
wechselseitiger Kritik und der Forderung, daß naturwissenschaftliche Theorien
empirisch prüfbar sein müssen. Nur was strenge Widerlegungsversuche überlebt, kann
sich auf Zeit halten.

Carl Friedrich von Weizsäcker - den man geradezu als einen Veteranen der "Science
Wars" um den Anspruch der Naturwissenschaften ansehen kann, auch wenn er sich
damit lange vor diesem "Kriegsausbruch" beschäftigt hat - schrieb einmal: "Wer selbst
in der naturwissenschaftlichen Forschung gearbeitet hat, kann jemandem, der
das nicht getan hat, meist die Unausweichlichkeit gar nicht begreiflich machen,
mit der in dieser Forschung der Erfolg uns den Unterschied zwischen Wissen und
Nichtwissen vor Augen führt. Ich wünschte, Sozialwissenschafter ahnten etwas
von der Tiefe dieses Unterschieds. Wenn man über fast 400 Mill. km ein
Instrument auf den Mars weich landen lassen, seine Bewegungen über diese
Entfernung steuern und die von ihm aufgenommenen Fotografien empfangen
kann - ist das anders erklärlich als weil man die Bewegungsgesetze der Körper
und Lichtwellen wirklich kennt?"

Wenn dann ein Kulturwissenschafter begeistert von der Entdeckung redet, daß die
Begriffe, mit denen auch physikalische Theorien arbeiten, von Physikern erfunden und
daher als Menschenwerk ein "soziales Konstrukt" sind, empfinden das
Naturwissenschafter als trivial. Und spätestens nachdem ihnen jemand versichert hat,
daß die Methoden, mit denen sie diese Gesetze gefunden haben, keinen anderen
epistemologischen Status haben als etwa die narrativen Erzählungen der Hopi-Indianer,
wechseln sie das Thema.

Suche nach akademischen Nischen So erfrischend eine kühle Sicht auf das seltsame
Treiben in einigen Sektoren der "Kulturwissenschaften" auch sein mag, so ist sie doch
nicht ungefährlich, weil alle diese Gebiete ja nicht nur von ideologievernagelten Damen
und Herren bearbeitet werden. Wer darin erstklassige oder auch nur wissenschaftlich
solide Arbeit leistet, ist heute - nicht zuletzt infolge der Publizität durch Sokal - dem
Verdacht ausgesetzt, in einem trüben Brackwasser zu tümpeln. Auch
Naturwissenschafter erleben zur Zeit häufiger als vorher, daß es schwierig werden
kann, unter für die Forschungsfinanzierung geänderten Rahmenbedingungen
wissenschaftliche Moden im Zaum zu halten und Qualitätsstandards in Kommissionen
durchzusetzen, in denen die einzelnen Mitglieder aufeinander wechselseitig angewiesen
sind.

In Abwesenheit von institutionalisierten akademischen Nischen - und die fehlen für
derartige Untersuchungen noch in vielen Ländern - ist das noch viel schwieriger. Daß
Sokals Falle ihre Opfer fand, hat jedenfalls gezeigt, daß Qualitätsstandards in Zeiten
der Dürre für alle Fächer bitter notwendig werden.

Montag, 25. Mai 1998

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