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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Vom "wilden Denken" zum "verwilderten Assoziieren" - Der
Niedergang der Analogien bei den Trendforschern

Konjunktur entlang des Knies

Von Holger Rust

Wer nicht mehr weiter weiß, greift zu Gleichnissen. Die Wirtschaft, so liest sich
zuweilen z. B., sei wie ein Flug, gerate hier und da in Turbulenzen, dann wieder gebe es
Sink- und Steigflüge, Starts und Landungen, diese wiederum hart und weich. Wer auch
nur diese wenigen airotechnischen Details beherrscht, kann damit ganze
Wirtschaftsseiten füllen.

Aber die beliebteste Analogie ist die, die ich hier unter dem Begriff des
"Rocklängen-Konjunktur-Koeffizienten" (RoKoKo) zusammenfassen möchte. Er hat
eine gewisse Aktualität, weil er wieder einmal angestrengt wurde, diesmal in einem
quasi-methodologischen Werk der professionellen Zukunftsdeuter Matthias Horx und
Peter Wippermann: "Was ist Trendforschung?" Die Frage ist gut gestellt, und sie ist
auch das einzige, was am Ende bleibt, weil sie nämlich nicht beantwortet wird. Statt
dessen ergeht sich das Autorenduo in seltsamen Beschwörungsformeln und deklariert
die eigene Arbeit denn auch als "Magie".

Die Magier der Benennung. Um diese Benennungen nun mit allerlei seltsamen Begriffen
zu illustrieren, greift man hin und wieder zu Metaphern und wüsten Analogien. Das soll
den Geist für neue Ideen lockern. Zu diesen Lockerungsübungen gehört auch die
Mutter aller Wirtschaftsmetaphern, wie gesagt, der RoKoKo:

· Fielen die Röcke weit übers Knie hinab, gab es eine Rezession.

· Rutschten sie (bildlich gesprochen natürlich nur) das Bein hinauf, gab es eine
Hochkonjunktur.

Die Erklärung war schon unter semantischen Gesichtspunkten recht einfach:

· Hausse heißt, es geht nach oben;

· Baisse heißt, es geht nach unten.

Die psychologisierenden Begründungen sind ebenso simpel: Bei mehr Lebensfreude
gebe es gesteigerte Erotik, man gehe mehr aus, feiere häufiger und sei überhaupt
lebenslustiger. Umgekehrt verdecke man die Lebensfreude mit langen Röcken, wenn es
einem schlechter gehe. Rückzug, Cocooning , keine Öffentlichkeit.

Man müßte diesen Ansatz prüfen. Es ist ja eines der hübschen Vermächtnisse der
Wiener Mentalität an die Welt, daß man alles hinterfragen muß. Der 1905 in dieser
Stadt geborene Karl Popper hat diesen Grundzug des Wienerischen, das Raunzen, in
seiner Philosophie des kritischen Rationalismus als "Falsifikationstheorem" geadelt. Es
geht dabei schlicht um das Gegenteil dessen, was die trendigen Deuter weltlicher Sterne
tun: um die Suche nach Gegenbeweisen.

Wenn das mit den Rocklängen stimmt, das heißt, wenn es stimmt, daß modische
Attitüden eine Aussage über die Konjunktur beinhalten, müßte sich das doch, einer
gewissen Logik zufolge, auch auf andere modische Accessoires niederschlagen. Bleiben
wir der Einfachheit halber bei der weiblichen Mode. Zum Beispiel bei der Entwicklung
des Dekolletés. Oder gleich bei der des BH, der ja für die Prägung der Dekolletés nicht
unerheblich ist, wenn ich das richtig verstanden habe. Hier wiederum vor allem der
Wonderbra.

Da tun sich dann plötzlich unerwartete analytische Einsichten auf, von ebenso simpler
Plausibilität, zumal das hier verwendete Vokabular der wirtschaftlichen Terminologie
noch näher liegt. Je tiefer die Dekolletés also, desto höher die Konjunktur, rasanter
Aufschwung usw. Je höher die Linie der Blenden, desto niedriger die wirtschaftlichen
Erwartungen. Anderseits hat nicht nur die Offenheit mit der wirtschaftlichen Entwicklung
zu tun, sondern überhaupt die ostentative Betonung der Konjunkturkurven: Klar - je
mehr Einlagen, desto höher die Zinsen.

Der Vulgärpsychologie unserer Sexual- und Erotikberatungsbrigade sind da kaum
Grenzen gesetzt. Wobei ein analytischer Geist allerdings plötzlich einen kleinen
knirschenden Widerspruch feststellen wird, der in den modischen Szenarien unserer
luxuriösen In-Lokale augenscheinlich wird: Rocklänge und Offenheit des Dekolletés
stehen in keinem irgendwie gearteten logischen Verhältnis zueinander.
Hochgeschlossene Oberbekleidungsstücke korrespondieren aufs eleganteste mit kurzen
Röcken. Der tiefe Opernballausschnitt der Sophia Loren war mit einem fußlangen Rock
kombiniert. Man sah und sieht allenthalben auch verschmitzte Bedeckungen gepaart mit
langen Röcken, ebenso wie eine Kombination aus atemberaubenden Offenlegungen
oben und unten. Und manchmal rauben einem auch die verdecktesten
Konjunkturkurven den Atem. Am Ende bleibt nur die Einsicht, daß es derzeit
offensichtlich mit der Wirtschaft auf und ab geht.

Es handelt sich also schlicht um Beliebigkeiten, um die ausschnitthafte Verwendung von
Beobachtungsschnipseln, denen eine vordergründige Plausibilität aufgezwungen wird,
um typische "Konfabulationen". Es gibt eine empirisch haltbare Beobachtung. Und es
gibt eine andere empirische haltbare Beobachtung. Packt man sie zusammen, ergibt sich
etwas Drittes, das mit den beiden Ausgangsbeobachtungen nichts mehr zu tun hat.
Klassisches Beispiel: Im österreichischen Burgenland in Rust (welch schöner Name für
einen Ort) ist ebenso wie im deutschen Schleswig Holstein die Zahl der Störche
gestiegen. Das ist die eine Beobachtung. Die andere ist: Gleichzeitig stieg die Zahl der
neugeborenen Kinder.

Die Schlußfolgerung?

Wir hätten uns die Mühe sparen können.

Also bringen doch die Störche die Kinder!

In der Struktur der oben genannten Beispiele müßte dies die Erklärung sein. Man
ignoriert einfach die sogenannte Drittvariable, auf die beides unabhängig voneinander
zurückzuführen ist. In diesem Fall ist es vermutlich die verbesserte ökologische
Situation. Es gibt mehr saubere Wiesen, mehr Frösche, was sich unter den Störchen
natürlich schnell herumspricht, die kommen dann, was wiederum dazu führt, daß die
Menschen optimistischer werden, denn wenn schon die Störche wieder in Massen
anfliegen, kann das Ende der Welt so nah ja nun doch nicht sein, und was tun
Menschen, die optimistisch sind? Fröhlich sind sie, liebesbereit, und so geht es dann.
Das wäre die analytische Erklärung. Oder besser gesagt: Es wäre eine, die man
überprüfen muß.

Die andere ist ebenso wild wie der RoKoKo. Das heißt, nein: Man müßte dieses
Denken anders benennen, dann der Begriff des "wilden Denkens" ist belegt. So wäre
dieses im Vergleich zum "wilden" Denken eher "verwildertes Denken" zu nennen. Es hat
keine Disziplin. Das "wilde" Denken hat schon Disziplin, und zwar eine eiserne. Das
"wilde Denken" nimmt alle zusammenhängenden Informationen zur Kenntnis und sucht
nach ihrer Bedeutung. Es weist ihr nicht einfach vordergründige Plausibilitäten zu,
sondern forscht nach vielfältigen Vernetzungen, die sich dann auch empirisch überprüfen
lassen. Im Storchenbeispiel ist der Zusammenhang bald gefunden. Es geht aber weiter:
Wir sind in der Lage, die Einflußfaktoren zu "eliminieren", wie der Empiriker sagt, also
im statistischen Sinne haargenau in ihrem Gewicht zu bestimmen. Kulturen, die keine
Statistik, keine wissenschaftliche Naturkunde besitzen, nutzen andere Erklärungen:
mythische. Da schicken die Götter die guten Bedingungen. "Wildes Denken" ist keine
Unlogik. Es sucht nach der verborgenen Logik.

"Wildes Denken" - der Begriff ist französischer Herkunft und stammt aus den Arbeiten
des weltberühmten Ethnologen und Soziologen Claude Lévi-Strauss. "La pensée
sauvage" erschien 1962 in Paris und begründete die "Wissenschaft vom Konkreten".
Dieses Buch setzt sich mit dem Alltag schriftloser Gesellschaften (in der altväterlichen
Diktion Gertrud Höhlers: der "Naturvölker") auseinander, die keine abstrakten
Wissenschaften besitzen, dennoch aber in der Lage sind, auf der Grundlage eines
höchst differenzierten Systems von Analogien, Metaphern, Ritualen und totemistischen
Klassifizierungen der Menschen eine "Schule des Lebens" zu schaffen.

In ihr lernen Kinder der archaischen Gesellschaften den Umgang mit Gesellschaft,
Natur, Kultur und Wirtschaft, so wie in den westlichen Gesellschaften die Kinder in
ihren Schulen den Umgang mit ihrer Gesellschaft, mit ihrer Natur und ihrer Kultur und
Wirtschaft lernen. Der Unterschied besteht darin, daß die "archaischen Wissenschaften
vom Konkreten" keine Abstraktionen benötigen, sondern ein unendliches verästeltes
System von Analogien schaffen. Wenn man es wissenschaftlich ausdrücken wollte: ein
System von "assoziativen und dissoziativen Äquivalenzen", von Dingen und
Begebenheiten, von Tieren und Jahreszeiten, die in einem System miteinander in
Beziehung gesetzt werden können, und anderen, die nicht miteinander in eine positive
Beziehung gesetzt werden können. Gäbe es Rocklängen, müßten sie in Beziehung
gesetzt werden mit dem biographischen Zyklus der Menschen, mit den Jahreszeiten,
der Natur, der Wirtschaft, dem Auf und Ab des gesellschaftlichen Lebens, wären also
ein Element in einem ganzheitlichen System. Auf diese Weise entsteht zwangsläufig eine
sinnvolle Logik, weil jeder Widerspruch ausgeschlossen werden muß. Denn das
System des "wilden Denkens" hat die Bedeutung eines gesellschaftlichen Sinnreservoirs.
Und die Bestückung dieses Reservoirs ist keineswegs beliebig.

Auch wir pflegen solche Analogien: Religiöse, abergläubische - derzeit unterwerfen sich
ungezählte Massen den Mondphasen und suchen nach dem richtigen Zeitpunkt -
alltägliche, wie die Erklärung von Konjunkturzyklen aus geheimnisvollen Quellen. Der
Unterschied ist nur: Diese Systeme sind nicht widerspruchsfrei. Das verwilderte Denken
prüft nicht, ob seine Annahmen ins Gesamtsystem passen. Nie hat jemand den Einfluß
des Mondes auf eine Wanne mit Wasser beobachtet. Es ist auch sinnlos. Man sieht
nichts. Gleichzeitig behauptet man aber im Hinblick auf die Mondkräfte, die Ebbe und
Flut bewegen, es sei klar, daß der Mensch vom Mond beeinflußt werde, immerhin
bestehe er (und sie) zu 90 Prozent aus Wasser. Das verwilderte Denken prüft nicht. Es
folgt gehorsam der ersten halbwegs plausiblen Erklärung. Es ist nicht einmal der
Glaube, sondern die eilfertige Hoffnung auf Erkenntnis und intellektuelle Erlösung.
Lassen wir das mit dem Wasser - es gibt wichtigere empirische Prüfungen. Wenn etwa
von der Kraft des Mondes die Rede ist, die sich auf Geburtenraten und Kriminalität
auswirkt.

Effekte sind nicht nachweisbar.

Nachweisbar ist nur, daß nach dem Erscheinen des Buches Massen von Journalisten
die Gendarmerien aufsuchten, um "Fälle" von Vollmondkriminalität zu finden. Fand man
einen Fall, wurde er zum Beleg hochstilisiert, auch wenn in anderen Nächten ebenso
fürchterliche Dinge passierten. Geburten häufen sich in der Tat am Montag, der ja der
Mond tag ist. Also doch? Also nein: Am Wochenende werden halt weniger Geburten
eingeleitet, weil da die Ärzte Freizeit haben. Ansonsten gibt es auch nicht die geringsten
statistischen Signifikanzen. Was bei vielen Trendforschern aus dieser Eleganz einer
andersartigen Logik des Konkreten wird, ist schlicht unsinniges Denken, zwanghafte
Analogie, die nur noch feuilletonistisch, ansonsten aber sinnlos ist, verwildertes
Assoziieren um des vordergründigen Effektes willen: Was das mit der Wirtschaft zu tun
hat?

Es zeigt, daß die vorschnelle Bereitschaft zu mythischen Erklärungen unser gesamtes
Alltagsleben durchzieht.

Das "wilde" Denken hat aber noch eine Eigenart. Man darf nicht wissen, daß man
"wild" denkt. Es ist Kultur. Es ist kein analytisches Instrument. Der Blick auf die eigene
Gesellschaft ist zwangsläufig durch das Heranwachsen in dieser Gesellschaft getrübt.
Ohne eine "Lehranalyse", die es in der Ethnologie für Feldforscher ebenso wie für
Therapeuten in der Psychologie gibt, ohne also die eigene Entfremdung von dieser
Gesellschaft zu inszenieren, kann der Blick nur das zutagefördern, was man vorher
hineinprojiziert. Man muß also die Logik des wilden Denkens der eigenen Gesellschaft
erst einmal studieren, somit also auch das Wirtschaftssystem insgesamt, um sich dann
mit Hilfe des analytischen Geistes in Sphären zu wagen, in die sich nie zuvor eines
Wirtschaftsforschers Fuß gewagt hat. Dazu muß man lernen, die richtigen Fragen zu
stellen.

Eine dieser richtigen, dabei unterhaltsamen und abenteuerlichen Fragen hat Marco
d'Eramo gestellt, Schüler Pierre Bourdieus, des mittlerweile weltbekannten Ethnologen
und Soziologen, dessen feinsinnig statistische Analysen der französischen Alltagskultur
Scharen von Soziologie-Eleven zu begeistertem Nachvollzug inspiriert haben. Marco
d'Eramo indes stellt seine eigenen Fragen und geht den Antworten umfänglich nach, z.
B. in einem überaus lehrreichen, unterhaltsamen Buch: "Das Schwein und der
Wolkenkratzer: Chicago - eine Geschichte unserer Zukunft." D'Eramo beschreibt, wie
aus dem Verkehrsknotenpunkt Chicago die Idee der Warentermingeschäfte entstand.
Allein das ist ein Lehrbeispiel für die kombinierte Anwendung des "wilden Denkens"
und der "analytischen Logik". Wie diese Idee sich aber zwangsläufig in der weiteren
Verknüpfung mit ökologischen Beobachtungen durchflechten, ist genial. Durch
Warentermingeschäfte, sagt D'Eramo, wird das Artensterben begünstigt.

Warentermingeschäfte und Artensterben?

Ganz einfach: "Ohne Standardisierung gibt es keinen Markt für Futures, und
umgekehrt kann der Terminmarkt nur standardisierte Güter verkaufen." Dies
resultiert aus dem Bemühen, das Risiko des Kaufs von Waren (Getreide, Soja, Rinder
usw.) zu mindern, die überhaupt noch nicht gewachsen oder geboren sind. Also werden
klassifikatorische Standards gesetzt, nach denen sich die Bauern richten werden.
Andere als die in die Klassifikationen fallenden Sorten werden nicht mehr angebaut,
weil sie sich nicht verkaufen lassen. Diese anderen Arten werden aussortiert. "Deshalb
wird beispielsweise festgelegt, daß eine Einheit lebender Rinder 40.000 Pounds
(zirka 18 t) wiegen und aus Rindern zu je 1.050 bis 1.200 Pounds (480 bis 540 kg)
Durchschnittsgewicht bestehen muß, mit einer maximalen Abweichung von 100
Pounds."

Und so wäre denn auch eine Tendenz, die sich derzeit machtvoll Bahn bricht, aus dem
Finanzgeschäft zu erklären: das gentechnische Kloning von Pflanzen und Tieren. So
einfach ist das mit dem wilden Denken. Wenn man ihm seine Vernunft beläßt.

Trotzdem ist es natürlich interessant zu beobachten, ob die Röcke wieder kürzer
werden.

Montag, 25. Mai 1998

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