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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Dem Schaffen der Sowjetwirtschaft war einst ein gigantisches

Messegelände inmitten Moskaus geweiht - jetzt hat es

der russische Kapitalismus erobert

Lenin mit Luftballons

Von Beppo Beyerl

Hin kommt man leicht. Mit der Moskauer Metro, Linie 6, bis zur Station WDNCH.
Vor dem Ausgangsgebäude erhalte ich schon einen leichten Vorgeschmack auf das
Kommende. Zehn, zwanzig, Hunderte stehen längs des Weges und wollen etwas
verkaufen. Zigaretten, Weintrauben, Hunde. Nicht, daß sie mich aggressiv bedrängen,
lautstark auf sich aufmerksam machen oder mir den Weg abschneiden. Nein, sie
verhalten sich ruhig, eher demütig, fast könnte man meinen, sie stehen Schlange. Aber
es sind so viele, daß ich kaum durchkomme.

In der Annahme, daß ich so am ehesten zum "glawnij wchod", zum Haupteingang
komme, lasse ich mich von der Menge treiben und lerne bald drei Sorten von Händlern
unterscheiden: Da gibt es solche, die stehen einfach nur da, an der Brust halten sie ein
Packerl Zigaretten oder einen kleinen Hund. Andere wiederum - sie haben schon eine
breitere Angebotspalette - hantieren hinter notdürftigen Zelten oder Standeln. Und die
ganz Tollen sitzen in fix installierten Buden, in denen sie die CDs oder die Uhren dem
Käufer durch das kleine Guckloch schieben. Zumeist haben sie auch einen
Uniformierten mit Waffe an ihrer Seite.

Ich bin auf dem Gelände der WDNCH, der vystavka dostizenij narodnogo
chozjajstva CCCP, der Leistungsschau der Volkswirtschaft der UdSSR. In meinem
Führer lese ich, daß eine Runde zu Fuß etwa 30 km ausmacht. Dabei passiere ich über
30 Hallen, die viel eher Palästen, ja sogar Tempeln gleichen, und die von den besten
Architekten der Sowjetunion in den verschiedenen nationalen Stilen errichtet wurden.
Betritt man diese Paläste, kann man die Spitzenergebnisse der "volkswirtschaftlichen
Leistungen der verschiedenen Völker der Sowjetunion" betrachten.

Also gut, denke ich mir, das schaue ich mir an, vorwärts durch das Getümmel bis hin
zum Haupttor. Irgendwo soll die berühmte "Allee der Kosmonauten" sein, die
wiederum einen Vorgeschmack auf die noch berühmtere "Kosmos-Halle" liefern soll.
Jeans werden verkauft und Lederjacken und Pelzmützen. Es gibt kein Durchdringen
durch die fixe Kette der Buden längs des Weges, und die Kosmonauten-Allee wird mir
für immer unbekannt bleiben.

Erst vor dem monumentalen Eingangstor - mir fällt als Vergleich sofort das
Brandenburger Tor ein, doch das Tor hier ist zweifellos breiter - teilen sich die
Menschenmassen und machen so Platz für die "Gestalten des Elends" aus der
Dreigroschenoper: Die Blinde mit Heiligenbild, betend; der Afghanistan-Kämpfer ohne
Beine, auf seinem Holzbrett sitzend; der Mönch mit Ikone, singend.

Man drückt mir Preislisten - die russische Bezeichnung lautet "prajc-list" - für "printery",
"monitory", "kompjutery" und "ofisnoe" (Bürogerät) in die Hand. Unter der Headline
des Preiszetteln lese ich die Devise "nasch dewis - klient wsegda praw!" und ich
stelle mit Genugtuung fest, daß in den Hallen der Volkswirtschaft der "Kunde immer
recht" hat.

Hinter dem Tor öffnet sich ein riesige freie Fläche, die von einem gewaltigen
Springbrunnen beherrscht wird. Mein Führer verrät seinen Namen -
"Völkerfreundschaft" - sowie seine Symbolik: "Bronzene Mädchenfiguren mit Gaben
der Erde repräsentieren die l5 Unionsrepubliken der UdSSR".

Auf beiden Außenseiten der freien Fläche sind die verschiedenen Hallen angeordnet,
die eher Palästen, nein: Altären gleichen. Die erste Halle rechts hinter dem
Brandenburger Tor ist die "Halle der Atomenergie". Ich schlendere an den
Schaschlik-und "Chot-dog"-Verkäufern vorbei, achte nicht auf den Tisch mit den
Pornofotos und betrete die Atomenergie. Links sind Boxhandschuhe und Gartengriller
ausgestellt, rechts die verschiedensten Küchengeräte. Die Geräte befinden sich noch in
der Packung, so erkennt man die Namen der Firmen, etwa BRAUN oder Whirlpool.
Vom Tempel der Atomenergie sind nur die Marmorsäulen übergeblieben. An den
Säulen kleben kleine Zetteln, die auf Sonderpreise - etwa bei Miniwecker - hinweisen.
Ich streune weiter und blicke auf Farbfernseher (unter 300 Dollar) und Handies (unter
100 Dollar). Wem da nicht der Gedanke an Retourschmuggel kommt, der ist selber
schuld.

Der nächste Tempel heißt "Optika". In der Kuppel des Tempels, flankiert von Speeren
und Lanzen, hängt an der Frontseite ein 10 m breites Gemälde: Lenin stürmt mit einer
Horde von Rotarmisten irgendein Palais. Das Pendantbild auf der Gegenseite: Panzer
mit roten Sternen fahren durch das Brandenburger Tor, die umherstehenden Massen
bejubeln die Rotsternpanzer.

In den Saal selbst stürmen junge Russen, meist in Lederjacken und Jeans, viele
schleppen zweirädrige Einkaufswagerln mit sich, andere tragen große Jutesackerln, die
sie später mit einer Schnur zusammenbinden. Jubeln wird niemand, nicht einmal die
Verkäufer, die die Staubsauger und Haarföne verscherbeln, die in den Kartons auf der
linken Seite gestapelt sind. Die Verkäuferin zur Rechten feilt sich gelangweit die
Fingernägel, sie wacht über das Sortiment von Weckern und Videokameras. Und
damit niemand auf blöde Gedanken kommt und vielleicht mit einer Horde von
Gleichgesinnten irgendeine Vitrine stürmt, wacht an jeder Ecke ein Uniformierter mit
Funkgerät und schweren Waffen.

Zurück zum offenen Platz. Am hinteren Ende erkenne ich schon den "zentralnij pavilon",
vor diesem Hauptgebäude thront der Schöpfer der Sowjetunion, der eben noch
irgendein Palais stürmte, auf einem Podest und hält eine Zeitung in seiner Rechten. Was
wird er erfahren, wenn er die Zeitung aufschlägt und zu blättern beginnt? Vielleicht die
Preislisten für die elektronischen Geräte, allesamt aus dem Westen geschmuggelt, um
auf dem Gelände der sowjetischen Volkswirtschaft verhökert zu werden? Oder die
Höhe des durchschnittlichen Einkommens eines russischen Lehrers der Gegenwart, der
sich mit seinem Gehalt gerade einen einzigen Besuch eines Restaurants leisten kann, und
das natürlich nur unter der Voraussetzung, daß sein Gehalt auch ausbezahlt wird? Oder
das Einkommen eines der neureichen "bisnismeny"?

Weg mit den trüben Gedanken. Ich mische mich unter die Luftballonverkäufer, die am
Lenin-Sockel Platz genommen haben, kaufe dem Russen neben mir ein paar
"telefon-schetony" ab und erfahre von einem CD-Standler, der mir Raubpressungen
von den "Creedence Clearwater Revival" und den "Doors" um 4 Dollar pro Stück in
die Hand drückt, daß das Gelände längst einen anderen Namen hat: es heißt
vserossicky vystavotschny zentr, kurz "WWZ", auf deutsch das "ganzrussische
Ausstellungszentum".

Mit der unvermeidlichen Schaschlik in der Hand - meine russischen Freunde hatten
mich vor dem Verzehr gewarnt, da die Herkunft des Fleisches nicht geklärt sei, manche
behaupten, es käme von den vielen streunenden Hunden in Moskau, andere wiederum
hielten dies für typisch westliche Propaganda - also mit einem Stück Hundefleisch in der
Hand überblicke ich ein letztes mal den riesigen Platz. Auf der einen Seite ladet "Maggi"
zu einem kostenlosen Testtrinken von Maggisuppen ein - "bezplatno", also umsonst.
Auf der anderen Seite stolzierten zwei Kamele, auf jedem Kamel sitzt ein Affe in einem
bunten Trikot, Kameltreiber halten die Viecher an den Zügeln, ein Kollege macht mit
einem Hut die Kollekte. Ich drehe mich um und blicke auf den "Zentralpavillon". Er
ähnelt einem überbreiten neoklassizistischen Tempel, auf dem ein zweiter, etwas
schlankerer Tempel steht, auf dem zweiten Tempel steht ein hoher Turm, der eher
altrussischen Formen entspricht, und der hohe Turm setzt sich fort in einer schlanken
und langen Turmspitze.

Also hinein in den Zentralpavillon des Messegeländes. Die Vitrinen sind gefüllt mit
Kopiergeräten, Faxgeräten, CD-Rom-Laufwerken. Die Gänge sind eng und verwinkelt
und dementsprechend gefüllt mit staunenden, vergleichenden, rechnenden russischen
Messebesuchern. Schnell husche ich wieder ins Freie und blättere in meinem Führer.

"Inzwischen wissen wir, wie diese Ausstellung Ende des Jahrhunderts aussehen
wird. In absehbarer Zeit werden viele Besucher ihre Bekanntschaft mit der
Leistungsschau der UdSSR mit einer Einschienenbahn vor dem Haupteingang
beginnen . . . auf dem Gelände ist unser ganzes Land sozusagen im Kleinformat
vertreten ist . . . besten Leistungen in verschiedenen Bereichen der Industrie und
Landwirtschaft."

Ich setzte den Weg hinter dem Pavillon fort. Vor mir zwei Exemplare der einst größten
und stolzesten Luftflotte der Welt, eine TU 154 und eine JAK 42. Wie diese beiden
Flugzeuge hergekommen sind, ist mir abslolut unerklärlich; mit der gewaltigen
Spannweite ihrer Flügel können sie nicht durch die engen Wege zwischen den Hallen
rollen. Vielleicht hat man sie durch unterirdische Tunnel hergekarrt, oder sie sind genau
an dieser Stelle - wie dereinst das Flugzeug von Jurij Gagarin - abgestürzt, und man hat
sie Stück für Stück wieder zusammengeflickt.

Ich betrete über die Gangway die Tupolev. Die Einrichtung des Flugzeugs ist
ausgeräumt, an den beiden

Montag, 25. Mai 1998

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