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Reengineering für Manager

Ziemlich schlank und geistlos fit

Von Holger Rust

Es war die Metapher der frühen neunziger Jahre. Das schlanke Unternehmen.
Das schlanke Management, oder, um es im modischen Anglizismus mit
künstlicher Bedeutung aufzuputzen: "Lean."

Interessanterweise bezog die Metapher ihre Bilder aus der ebenfalls sich
dramatisch verschlankenden Modellwelt der Hungerkünstlerinnen Campbell,
Moss und Schiffer, bis auch die nicht mehr dünn genug waren und eine
Engländerin namens Tennant von Karl Lagerfeld als beweglicher Kleiderständer
über den Laufsteg geschickt wurde. Da ist nur noch das nötigste dran, um die
Knochen zusammenzuhalten. Vorauseilender Gehorsam einer sich
verselbständigen Idee gegenüber, der ISO-9000-Norm einer zweidimensionalen
Bilderwelt stilisierter Körper, unabhängig von Anlagen, Persönlichkeit, Talenten:
Schlank.

Die hysterische Leitvokabel eines ganzheitlichen Irrsinns. Echte, vor allem aber
selbsternannte Unternehmensberater und -beraterinnen schnappten die Vokabel
begierig auf und strapazierten die Metaphorik weiter, wie die Gott sei Dank nun
ein wenig in Vergessenheit geratene Literaturprofessorin Gertrud Höhler, die
Consulting eine zeitlang mit der Rezitation von Kalendersprüchen verwechselte,
zum Beispiel diesem:

"Das schlanke Unternehmen ist ein Prozeßoptimierer, auch was die
Leistungsfähigkeit der Teams angeht. Topmanagement wird in diesem lebendigen
Strom der kommunikativen Leistungen zur zentralen Dienstleistung. . . . In diesem
schlanken Unternehmen lassen sich, wie beim abgespeckten menschlichen
Organismus, die einzelnen Muskelpartien wieder erkennen."

Dazu also das Training in den Fitneßzentren.

Und so entsteht eine Gesellschaft, in der ein sinnloser Darwinismus herrscht,
einer der körperlichen Normiertheit, die sich bis in die Chefetagen durchsetzte.
Dort findet man heute - auf eine wundersame Auslese zurückzuführen - kaum
noch Manager, und Managerinnen schon gar nicht, die auch nur 15 Deka über
dem Idealgewicht lavieren. Das heißt, daß sehr viel intellektuelle Bemühung
darauf verwendet sein mußte, sich der physischen Einheitsnorm zu unterwerfen.
Die Enge dieser intellektuellen Bemühung zeigte sich daran, daß jeder den Begriff
"Lean" oder "schlank" (je nach Bodenständigkeit auf Englisch oder in
schlichtem Deutsch) nachplapperte.

Plötzlich palaverten sogar die Verwaltungschefs des öffentlichen Dienstes vom
"schlanken Staat". Und zeitkritische Beobachter fragten sich irritiert, warum
denn, wenn das alles so selbstverständlich ist, niemand darauf gekommen war,
bevor eine Unternehmensberatung im Zuge des Reengineering die Parole
ausgegeben hatte - die übrigens in einer MIT-Studie über die japanische
Autoindustrie 1990 zum ersten Male benutzt wurde.

Die Lösung ist ganz einfach: Es war ihnen nichts eingefallen. Und so wartete man
begierig darauf, daß eine Art Mantra des Wirtschaftslebens formuliert wurde, und
wenn auch das nicht funktioniert, wartet man auf weitere Botschaften von Gurus,
und der Worpsweder Trendbeschwörer Gerd Gerken verstieg sich gar zu einem
neuen Schamanismus, in einer seltsam verworrenen Melange aus fernöstlicher
Philosophie, falsch verstandener Chaosforschung und unhaltbaren Praxistips. Es
war ihnen nichts eingefallen, weil im Prozeß der Fettabsaugung die
Notwendigkeit der Verschlankung zum absoluten Wert wurde - im Wortsinne:
zum losgelösten Wert, ohne Rücksicht auf Verluste.

Zwar schrieb Gerken ein Buch, das den "Geist" des Unternehmens beschwor.
Und auch Höhler schwafelt vom "Geist". Das ganze hört sich allerdings eher
gespenstisch an, wenn man genauer nachliest. Der Geist als Ingenium des
Unternehmens . . .! Von Intelligenz ist nirgends die Rede. Und niemandem ist
eingefallen, einen "Corporate IQ" zu entdecken.

Mit zunehmender Normierung der äußerlichen Merkmale von Unternehmen stieg
aber die Sehnsucht nach einer Corporate Identity. Aber das, was Identität und
Geist ausmacht, war nicht Gegenstand dieser Suche. Ihr Ziel war, wie bei den
geklonten Models der Modeszene, äußerliche Kosmetik, Corporate Design, ein
schönes Antlitz und neue Kleider.

Natürlich gab und gibt es plausible Argumente für die hektische Schlankheitskur,
vor allem die des internationalen Kostendrucks, der billigeren Arbeitskräfte im
Ausland, schon gleich hinter der Grenze, wie der "Reifen-Krieg" ("Bildzeitung")
bei Semperit zeigte: die Globalisierungspeitsche. Und so mußten und müssen die
Unternehmen (sagen die Berater) solang verschlankt werden, bis sie die
maximale Produktivität erreicht hätten, und die wird erst dann erreicht, wenn
das "Humankapital", altdeutsch auch: "Menschen", effektiv eingesetzt sind.
Möglichst wenige von ihnen im übrigen, mit möglichst großen Tätigkeitsspannen,
dafür vielleicht etwas besser bezahlt als früher, gut gepolstert mit betrieblichen
Versorgungsleistungen und Incentives. Diese Überlastung nennt sich dann
"ganzheitliches Management".

Gleichzeitig mehren sich nun die Klagen, daß das innovative Potential Europas,
insbesondere aber des kleinen Österreich immer stärker ausgedünnt werde, und
daß die wenigen kreativen Geister, die das ebenfalls dramatisch verschlankte
Bildungssystem noch hervorbringt, das Land verlassen, sobald es geht.

Denn sie spüren, daß der wirkliche Geist nichts mehr zählt, daß sie nur noch als
Trainer der Produktivitätsmuskeln eingesetzt werden sollen. In ihrem Bestseller
"Competing for the future" beklagen die amerikanischen Wirtschaftsautoren
Gary Hamel und C. K. Prahalad:

"Nach unseren Erfahrungen wird etwa 40 Prozent der Zeit eines Managers für
die Sicht nach draußen benutzt. Von dieser Zeit wiederum wird 30 Prozent dafür
aufgewendet, drei oder vier Jahre in die Zukunft zu blicken. Und von dieser Zeit
wiederum werden nicht mehr als 20 Prozent aufgewendet, gemeinsam mit
anderen eine interdisziplinäre Sicht auf die Welt von morgen zu entwickeln. Im
Ergebnis widmet das Spitzenmanagement weniger als 3 Prozent seiner Energie
für die Konstruktion einer Unternehmensperspektive für die Zukunft."

Das ist nicht attraktiv für wirtschaftsinteressierte Intellektuelle, die sich an
Zukunftskonstruktionen beteiligen wollen.

Woher sollten aber die Managerinnen und Manager auch bei dem
Trainingsprogramm des sich zunehmend verschlankenden Unternehmens die Zeit
haben? Wo soll sich die Intelligenz noch ansiedeln, wenn am Ende nur noch das
Skelett übrig ist? Wenn die Erfahrung der Älteren (und damit sind bereits
45jährige gemeint) durch Frühpensionierungen und Entlassungen ausgemerzt
ist? Wenn den Jungen ihre Experimentierfreude abgekauft wird und sie als
Vollzugsgehilfen der Inkorporation vom schlanken Unternehmen eingesetzt
werden? Wenn, mit einem altertümelnden Wort, die Muße fehlt, gemeinsam und
systematisch aus verschiedensten Perspektiven über die Zukunft nachzudenken.

Denken braucht Muße, Kontemplation, Versenkung in das Thema, Zuspruch,
Diskurs, Akzeptanz.

Denken braucht Luxus, Zeit, Personal, Geld, Bücher, Gespräche, Erfahrungen,
Reisen, einen verantwortungsfreien Raum, in dem sich die Grenzen systematisch
überschreiten lassen.

Denken braucht einen ganzheitlichen Zugang zu den Dingen, über die
nachgedacht werden soll.

Aber die Ganzheitlichkeit besteht nicht darin, daß einer alles macht und am Ende
von allem nichts mehr versteht, wie es so schön abgedroschen heißt.
Ganzheitlichkeit ist der Austausch von Perspektiven eines Teams, das zeitliche
Ressourcen (metaphorisch ein paar Fettpolster für den kargen Winter) aufgespart
hat, um den Verstand einzusetzen. Oh, da kommen aber die Psychologen und
heben den warnenden Zeigefinger: Emotion ist nun angesagt. Und seit einem
Mister Coleman ein Bestseller über Emotionale Intelligenz gelungen ist, macht
sich neue Unruhe breit. In nuancierter Imitation fällt nun die Schar der
selbsternannten Unternehmensberaterinnen und -berater über das Gefühl her.
Nach den Muskeln das Gefühl, also.

Immer noch kein Wort von Intelligenz und Vernunft.

Diffus spüren vorausdenkende Spitzenmanager dieses Defizit. Und wo ein Defizit
ist, gibt es Lösungen.

Diese Lösungen kommen, wie könnt es anders sein, erneut in Form von
Unternehmensberatungen, die wieder einen neuen Begriff lancieren, den des
lernenden Unternehmens". Der ist zwar auch nur aufgeschnappt (aus Peter
Senges 1990 erschienenem Buch "Die fünfte Disziplin"). Sie sind wie die
Schirmverkäufer an New Yorks Straßen~ecken. Sobald das Ding sich in alle
Bestandteile zerlegt hat, und das ist nach der ersten Böe an der ersten
Straßenecke, und man sich beklagen will, steht da derselbe Händler und verkauft
wasserdichte Plastikarmbanduhren.

So ist es mit dem Angebot des "mentalen Trainings". Es ist eine perfekte
Wirtschaft - sie erzeugt den Mangel, um späte falsche Kompensationen teuer zu
verkaufen. Und auch hier ist die Analogie zur Fit-for-fun-Generation in
bemerkenswerter Weise verwirklicht. Denken wird in Pillenform verabreicht,
Anabolika fürs Hirn, Brain-food, schon fast weltraumtauglich, schnell muß es
gehen, leicht zu konsumieren muß es sein, möglichst in einem halben Tag, ach
was, in wenigen Stunden, am besten in 90 Minuten. Leicht verdaulich muß es
sein, selbstredend mit einigen systematisch eingestreuten Ballaststoffen. Aber wie
die Ernährung bestimmte Muskelgruppen gezielt unterstützen soll (Fisch für den
Trizeps, Erdäpfel für die Waden) muß der Geist, und bitte, wenn möglich der
gesamte Geist des Abendlandes, des Morgenlandes und aller Gefilde, die dahinter
liegen, Zen und Tao speziell, für die Aufgabe zubereitet sein, deren Lösung
ansteht. Geist für Manager.

Die anderen Assoziationen des Geistes interessieren nicht.

Und schon sind sie auf dem Markt - Gebrauchsgeister. Instant-Geister.
Schnellkurse in Philosophie. Es ist tatsächlich keine karikaturistische
Veralberung dieser neuen Welle des "intellectual consulting", sondern ein
Versprechen auf dem Titelblatt eines neuen Philosophiebuches: "Kant in neunzig
Minuten". Hätte er es erlebt, was ihm, der weisen Vorsehung der Vernunft sei
Dank, erspart blieb, sähe er sich zu einem Zitat aus dem Vorwort seines
kritischen Pamphletes über die "Träume eines Geistersehers" veranlaßt.

"Das methodische Geschwätz der hohen Schulen ist oftmals nur ein
Einverständnis, durch veränderliche Wortbedeutungen einer schwer zu lösenden
Frage auszuweichen, weil das bequeme und mehrenteils vernünftige: Ich weiß
nicht, auf Akademien nicht leicht gehöret wird."

Aber offensichtlich ist dies die Mode der neuen Zeit, daß die Vermächtnisse der
Vergangenheit gewissermaßen zur intravenösen Verabreichung zugerüstet
werden - "Seneca für Manager", "Mit Platon zum Profit", "Mit Goethe zum
Gewinn". Es bahnte sich schon vor langer Zeit an. Als sich der ehemalige
IBM-Manager Luciano de Crescenzo, der Terminhetze überdrüssig und
offensichtlich der bloß körperlichen Trainingseinheiten müde, aus dem Geschäft
zurückzog, und zur eigenen geistigen Entschlackung ein Buch über die
"Vorsokratiker" schrieb.

Es wurde ein Welterfolg.

Welterfolge inspirieren Nachahmer, wie jedes Wirtschaftsgut seine nuancierten
Imitationen provoziert.

Der nächste gigantische Erfolg in Sachen Philosophie war dann "Sophies Welt"
von Jostein Gaarder, eine schon weiter verdünnter Aufguß der Philosophie und
mithin naturgemäß noch erfolgreicher.

Und wie in einem galvanischen Prozeß kristallisierten sich um diese Pole bald
ungezählte kleinere Versuche, manche erfolgreich, manche anderen nicht, aber
alle mit einem dramatischen Effekt: Wissen wurde zu einer homöopathischen
Angelegenheit - das heißt: den Notleidenden in hundert-, tausendfacher
Verdünnung gereicht, bis am Ende nur noch Spurenelemente des ursprünglichen
Stoffs nachweisbar waren.

Und wir werden es noch erleben, daß die Kant-Rezeption auf 75 Minuten verkürzt
wird.

Das kommt dann ins Guiness-Buch der Rekorde.

Nun muß aber der durchs körperliche Übertraining ausgemergelte Körper auch
an derlei Dosen erst einmal gewöhnt werden. Das heißt, daß man ihm ohne
Vorbereitung nicht einmal 90 Minuten Kant zumuten konnte. So wurden also, um
eventuelle Schockeffekte der homöopathischen Schluckimpfungen zu vermeiden,
Vorbereitungsprogramme entworfen, in denen sich die vergessenen geistigen
Kapazitäten wieder aktivieren lassen.

Die Benennung ist symptomatisch - und bezieht ihr Vokabular wieder aus dem Trainingslager
der körperlichen Ertüchtigung - sie nennt sich "Brain Jogging". Das hört sich besser an als
Kreuzworträtsel, ist aber nichts anderes: Die Erfüllung vorgegebener Normen,
Buchstabenkombinationen in Kästchen, Zahlen und Assoziationsketten, bei denen - wie man
weiß - immer das herauskommt, was durch die Trainer erst einmal kaschiert wurde. Es ist eine
Art Dressur. Denn bald weiß der mentale Jogger, auf welchen Pfaden er sich der Lösung zu
nähern hat, löst analoge Aufgaben schneller und fühlt sich geistig "fit".

In der nächsten Stufe dann steigt die intellektuelle Rekonstruktion von der
Kreuzworträtselebene auf die von Denksportaufgaben-Niveau. Vorreiter dieser Art von
Streichholzspielen und Labyrinthlösungen ist der weltweit einschlägig berühmte Amerikaner
Edward de Bono, der seine ersten Millionen mit einer Denkschule machte, die auch auf Deutsch
im leicht transportablen Taschenbuch erschienen ist: "In fünfzehn Tagen denken lernen."

De Bono ist dabei nicht stehen geblieben. Heute trainiert er, beziehungsweise trainieren eigens
geschulte Trainer, Unternehmen in strategischer Kommunikation. Er ist von der
Denksportebene, auf der sich die versierten Kreuzworträtsel-Jogger virtuos bewegten, einen
weiteren Schritt nach oben gegangen und bietet nun sein Hütchenspiel an. Damit die Meetings
nicht im Chaos verlaufen, werden "Hütchen" auf den Tisch gestellt. Hütchen.
Verschiedenfarbige Hütchen.

Sie stehen für jeweils eine Strategie - eine Farbe für gemeinsame Planung, eine andere für
Brainstorming, eine dritte für die emotionale Auseinandersetzung usw. Alle müssen sich nach
der Farbe des Hütchens richten, um ihre mentalen Kräfte in einer Art geistigem Tischrücken
auf eine gerade anstehende Aufgabe zu konzentrieren.

Gelingt das, darf man den Hut wieder abnehmen, und man ist reif für Kant.

Nach 90 Minuten ahnt man vage, daß der sein Lebenswerk der Durchsetzung der
Vernunft in dieser Welt gewidmet hat. Nur ahnt man vage auch, daß trotz der
Anwendungsregeln für den Unternehmensalltag immer noch etwas fehlt. Jetzt ist
man zwar körperlich durchtrainiert, geistig auf Zack, hat die Hütchen auf dem
Tisch und jede Menge Kreuzworträtsel gelöst, weiß über Plato, Sokrates, die
Literaturgeschichte und Kant Weisheiten abzuliefern, wie sie am Ende der Kapitel
jeweils handlich abgefaßt sind. Aber da ist noch so ein bohrender Ennui, der
schreckliche Verdacht: Halbbildung?

Gemach: Es werden bald Berater auftauchen, die dieses Unbehagen mit einem
neuen, noch teureren Trainingsprogramm, mildern: "Alles in einem Tag".

Montag, 25. Mai 1998

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