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Seit über hundert Jahren sorgt ein Familienbetrieb in Wien für leuchtende Kinderaugen - nun geht sein letzter Besitzer in Pension

Ein guter Stall für Schaukelpferde

Von Helga Häupl-Seitz

Der Brief an das Christkind, von unbeholfener Hand geschrieben und gezeichnet; leuchtende Kinderaugen dann unter dem Christbaum, wenn sich das begehrte Spielzeug auch tatsächlich darunter befand: Über Generationen hinweg war das händisch bemalte und gezäumte Schaukelpferd mit echtem Roßhaarschweif und Mähne das Geschenk, das Kinderträume erfüllte.

Seit massive Fernsehwerbung die Wünsche der Kleinen bestimmt, haben nostalgische Spielsachen keinen Platz mehr im Kinderzimmer. Denn sie laden zu einem Vergnügen ein, zu dem sich immer auch die eigene Fantasie gesellen muß. Verschämt überleben gerade noch der gute alte Teddy im Bett und die elektrische Eisenbahn als meist väterliches Spielzeug und Sammelstück. Den hölzernen Pferden bleibt das Gnadenbrot.

Das kleine Büro im 16. Wiener Gemeindebezirk, ein ungeheizter Raum gleich neben der Werkstätte, birgt die letzten Schätze: 15 Schaukelpferde und vier Karussellpferde, die noch neuer Besitzer harren. Ihr jetziger, Ferdinand Bauer, gibt mit 79 Jahren auf.

Begonnen hatte alles 1893. Auf der Suche nach Arbeit war der Großvater Bauers mit seiner Familie aus dem Waldviertel nach Wien gezogen. Der Hausbesorgertätigkeit bald überdrüssig, richtete sich der gelernte Holzmöbelbauer eine kleine Werkstätte im 19. Bezirk ein. Sein Spezialgebiet: die Herstellung von Schaukelpferden. Die Nachfrage nach den hölzernen Pferden war groß und die Werkstätte wuchs schnell: "In den Spitzenzeiten hatte mein Großvater 30 Beschäftigte im Betrieb - die Hälfte waren Männer, die Hälfte Frauen" , erzählt Ferdinand Bauer stolz aus der Familiengeschichte.

Die Rösser wurden in strenger Arbeitsteilung gefertigt: Die Männer erledigten die knifflige Holzarbeit, die Frauen lackierten, bemalten und schnitten das Geschirr zurecht. Wer genug Kraft hatte, "stopfte" die Pferde. Mit Stroh wurde die Jute über einem Holzrahmen gefüllt, um den Rümpfen der Rösser die nötige Fülle zu verleihen. "Man hat die Fäuste dabei bald nicht mehr gespürt." Erst dann wurde Zeitungs- oder Makulaturpapier zu Pappmaché verarbeitet und der Leim mit dem Mehl vorbereitet, um den Leibern ein gefälliges Aussehen zu verleihen.

Ein überaus aufwendiges Verfahren: "Es wurde immer auf Stoß gearbeitet - erst die Köpfe und Schaukelteile, dann die Rümpfe. Die Stücke sind so lange aufgehängt worden, bis sie trocken waren. Erst danach wurden sie weiterverarbeitet." Ferdinand Bauers Vater ließ sich von der vielen Arbeit nicht abhalten. Ganz im Gegenteil: "Von den fünf Kindern war mein Vater derjenige, der nicht einmal den Schulabschluß abgewartet, sondern mit 13 bereits in der Werkstätte mitgearbeitet hat."

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges beendete das florierende Familienunternehmen zunächst: Der Großvater starb, der Vater kehrte erst nach Kriegsende zurück. Die alte Werkstätte gab es nicht mehr, doch der Vater wagte es aufs neue: Gemeinsam mit seiner Frau pachtete er einen kleinen Kellerraum - diesmal im 18. Bezirk. Gewohnt wurde damals aber schon im Haus über dem zukünftigen Betrieb in Ottakring. Der Sohn erinnert sich: "Weil ich nicht in den Kindergarten gehen wollte, hat mich mein Vater einfach in einen seiner selbstgezimmerten Leiterwagen gepackt und in die Werkstätte mitgenommen. Dort habe ich schon mit drei Jahren mit den Werkzeugen hantieren dürfen."

1933 trat Ferdinand Bauer offiziell in den Betrieb ein. "Da haben wir wieder 15 Beschäftigte gehabt." Als Meistersohn durfte er bereits nach zwei Jahren die Gesellenprüfung ablegen. Doch abermals legten Krieg und Einberufungsbefehle die Werkstätte lahm. Auf Spielzeugmessen schaffte es die Mutter anfangs noch, sich mit ein paar verbliebenen Schaukelpferden ein wenig präsent zu halten. Kurze Zeit später war niemand mehr da, um die hölzernen Tiere zu bauen.

1947, als Ferdinand Bauer aus der Gefangenschaft zurückkam, wurde das Familienunternehmen in Ottakring noch einmal aufgebaut. Seine Mutter hatte zuvor die Maschinen entstaubt, geölt und die einstigen Mitarbeiter, so sie zurückgekehrt waren, wieder zusammengetrommelt. Auch der Vater half trotz schwerer Krankheit noch fünf weitere Jahre mit. Wie für die meisten waren die nächsten Jahre auch für Ferdinand Bauer nicht leicht: "Nach dem Krieg war nichts zu finden, alles war nur mit Bezugsscheinen zu erhalten. Über Bekannte habe ich jemanden aufgetrieben, der in der Umgebung von Wien ein Sägewerk besessen hat. So kam das erste Holz wieder zu uns in die Werkstatt."

Aus den gehüteten Resten wurden wieder Mähnen und Zaumzeug. Als er nach einem schweren Mopedunfall ein Jahr lang seine Werkstätte nicht führen konnte, sprang die Mutter mitsamt ihren ehemaligen südmährischen Dorfnachbarn, die sie in aller Eile nach Wien gebeten hatte, ein. Nach wie vor brauchte es ein halbes Jahr, bis ein Schaukelpferd die Werkstätte verlassen konnte: "Wir haben im Jänner mit der groben Arbeit angefangen, im September haben wir zu lackieren und streichen begonnen."

Doch diesmal wollte sich der so sicher scheinende Aufschwung nicht recht einstellen. Die Produktion der Schaukelpferde dauerte zu lange, Mitarbeiter in diesem speziellen Handwerk waren immer schwerer zu finden: "Vor allem für das Stopfen der Pferde gab es keine Interessenten mehr. Es war eine harte Arbeit, die niemand mehr können und wollen hat." So suchte Ferdinand Bauer nach neuen Lösungen: "Ich mußte einfach etwas anderes als mein Großvater und mein Vater machen - meinen eigenen Weg gehen und etwas finden, was ich auch allein bewältigen konnte."

Bei langen Spaziergängen über den Wilhelminenberg wurde die Idee geboren. Ein kleiner Handwerksbetrieb besorgte den ersten Gipsabdruck, ein weiterer den Stahlguß. Auf einer Messe fand Ferdinand Bauer eine passende Presse. Die Maschinen bedeuteten eine enorme Erleichterung: Zwei vorgeformte Plastikteile wurden ab nun zusammengefügt und über das Holzgestell gestülpt. "Ich habe mir damit das Stopfen und das Verarbeiten des Pappmachés erspart." Auch für die Ohren, den Sattel und selbst für die eigenhändig verzinkten Steigbügel fand er nach und nach passende Stanzen. "Damit ist es mir gelungen, in ein paar Wochen so viele Pferde zu erzeugen, wie wir zuvor zu dritt in sechs Monaten geschafft haben" , ist er heute noch stolz auf seine Idee.

Es war ein Schritt, der nicht zuletzt private Gründe hatte: Nachdem seine Frau völlig überraschend gestorben war, mußte er allein für zwei kleine Töchter sorgen. Geschätzte 150 Schaukelpferde pro Jahr hat er über viele Jahre hinweg noch fast im Alleingang erzeugt. Ein einziges Steckenpferd, ein paar Schaukel- und Karussellpferde sowie Leiterwagen sind ihm nun geblieben - aber es gibt ja noch die Enkelkinder: "Julia, die Zehnjährige, hat das große Karussellpferd, Jakob, er ist jetzt zwei, das Schaukelpferd."

Wie es ihm gehen wird, wenn er tagtäglich an seiner Werkstätte vorübergeht und dieser Raum längst an einen anderen verpachtet ist, weiß er noch nicht. Er wird, wie immer, wenn er auf der Suche nach Lebenslösungen war, sich einen Ausflug vornehmen - sei es zu der ihm verbliebenen Tochter und seinen Enkelkindern, die demnächst nach Niederösterreich übersiedeln werden, sei es, um einfach auszufahren und wieder den Wind im Gesicht zu spüren. Seine zwei Mopeds will er jedenfalls nicht in der Garage verrosten lassen. Für die langen Winterabende hat er ebenfalls vorgesorgt: "Ich habe meine Fotoalben und meine Erinnerungen. Es war viel Arbeit und es wurde nie viel dafür bezahlt. Aber ich habe dieses Handwerk geliebt. Ich habe die Pferde für alle Kinder gemacht, die vor Weihnachten zu mir gekommen sind."

Dienstag, 19. Mai 1998

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