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Der Kampf der Menschheit um pünktliches Aufstehen zeigt immer mildere Strenge

Vom Hahn zum Schlummerton

Von Hilde Weiss

Die Geschichte des Weckens wirft ein interessantes Licht auf unsere Kultur: Sie erweist sich als Geschichte zunehmender Milde bei gleichzeitig ansteigendem Zwang, als Geschichte zunehmender Verinnerlichung präzisen Pünktlichkeitsgehorsams, der mit immer sanfteren Signalen auskommt.


Am Anfang war der Hahn: Mit den Hühnern aufzustehen, war den Menschen in den bäuerlichen, aber auch den beginnenden städtischen Gemeinden selbstverständlich. Auch die Soldaten führten bei ihren Kriegstouren Hähne mit sich. Ebenso die Seefahrer, bis ins 15. Jahrhundert. Ein seltsames Detail am Rande: auffallend viele der späteren Uhrmacher trugen den Familiennamen Hahn. Als weitere Vorläufer technischer Weckvorrichtungen sind wohl auch die schnatternden Gänse einzustufen, die das römische Kapitol retteten.


Offenbar erwiesen sich den Menschen die tierischen Weckrufe allein doch als zu unverläßlich. Vor allem waren sie nicht auf unterschiedliche Uhrzeiten und Bedürfnisse einzustellen, und so gab es von jeher zusätzlich menschliche Wecker. Diese rissen, unabhängig vom Sonnenaufgang, durch Rufen, Rütteln, Trommeln, Glockenläuten und ähnliches ihre Auftraggeber zur vereinbarten Stunde verläßlich aus Morpheus Armen.


Der Nachteil war: einer mußte aufbleiben. Das war gerade den Klöstern offenbar unannehmbar, fehlte doch jeweils einer im strikt geregelten gemeinsamen Tagesablauf, und so nahm von hier die technische Weckkultur ihren Ausgang. Nicht mehr der Uhrenbetreuer sollte die Glocke läuten, sondern die Uhr selbst. Die Sache war offenbar so wichtig, daß sie den Klosterbrüdern und -schwestern viel hartnäckige Forschungsarbeit wert war.


Die erste Erwähnung einer Uhr mit automatischem Schlagwerk findet sich in den "Usages" des Ordens von Citeaux bereits 1120. Erst 1314 wurde dann die erste öffentliche Uhr mit einem Stundenläutwerk gebaut und damit unwiderruflich ein völlig neues Zeitbewußtsein eingeläutet. Ein weltliches, das sich von der Fülle kirchlicher Zeitsignale eilig zu emanzipieren trachtete.


Die Menschen richteten sich in allen Fällen bereitwillig danach: ob der Ruf der Natur erschallte, der der Kirche oder der Stadt, ob jenseitige oder diesseitige Termine - die Erziehung zu größerer Pünktlichkeit griff. "Ein Fürst ist des Landes Uhr, jeder richtet sich nach demselben in Werken als wie nach der Uhr in Geschäften", heißt es bereits im 16. Jahrhundert in der Sprichwörtersammlung des Christoph Lehmann.

Im Englischen nennt sich der Wecker bis heute sehr ehrlich "alarm-clock", vom Italienischen "all'arme", zu den Waffen! Nicht weniger deutlich hießen in England die mit Weckdiensten Beauftragten "knockers up".


Tatsächlich zeichnen sich die frühen Weckvorrichtungen im Vergleich mit heutigen Schlummertönen durch auffallende Brutalität aus. Zum Beispiel die Kerzenwecker: In eine Kerze waren Nägel oder Bleikugeln eingelassen. Sobald die Kerze bis zu ihnen abgebrannt war, fielen sie polternd in ein Becken.


Natürlich geht es auch komplizierter, wie die Luntenwecker im alten China beweisen: Ein Räucherstäbchen, in der Länge den geplanten Schlafstunden entsprechend, lag horizontal auf einem Bronzegestell. Darüber hing in komplizierter Konstellation ein Faden, an beiden Enden mit Metallkugeln versehen. Verglimmte das entzündete Stäbchen, brannte der Faden, der es an dieser Stelle berührte, durch, worauf die beiden Kugeln in ein Metallbecken polterten.


Bereits Platon soll, was allerdings nicht ausreichend belegt ist, mit Hilfe einer Wasseruhr den ersten Wecker konstruiert haben: Zur festgelegten Zeit stürzte das Wasser heraus und preßte die Luft in einer angeschlossenen Röhre so zusammen, daß ein schriller Pfeifton entstand.


Auch Leonardo da Vinci hat die Frage beschäftigt, wie seine Zeitgenossen möglichst abrupt aus dem Schlaf zu reißen sind - und ihn auf ziemlich Heimtückisches gebracht: Wenn sich die Waagschale der Wasseruhr zur gewünschten Zeit mit Wasser füllte, löste sie einen Hebel aus, durch den ein Teil des beschlafenen Bettes in heftige Bewegung versetzt wurde.


Der Erfindungsreichtum riß interessanterweise im Laufe der Jahrhunderte niemals ab. Die Aufstehfrage war, sogar ansteigend, offenbar von so immenser Wichtigkeit, daß im Kampf gegen das natürliche Schlafbedürfnis nicht nur technische Verbesserungen gefragt waren, sondern auch immer neue Methoden. Das bescherte dem Menschen zum Beispiel den Armbandwecker, der ihm zur gewünschten Zeit eine Nadel ins Handgelenk stach. Einzig mildernder Tatbestand: der Zustich der Nadel konnte je nach Empfindlichkeit individuell eingestellt werden.


Im Dienste des Fortschritts wurde schließlich der Wecker mit Zündvorrichtung erfunden. Dieser hatte neben dem Läutwerk eine zusätzliche Vorrichtung, durch die zur gewünschten Zeit ein Zündplättchen zur Explosion gebracht wurde. Damit aber noch nicht genug: die Flamme entzündete auch eine Petroleumlampe. Also Wecken durch Klingeln, Knall und Erleuchtung. Sicher ist sicher.


Der harte Kampf der Menschheit um pünktliches Aufstehen war damit aber offenbar noch nicht endgültig gewonnen. Eine weitere Waffe gegen allzuviel Nachtruhe war eine Weckvorrichtung, die vor allem im Winter recht erfolgreich gewesen sein dürfte: Ein mittels einer Weckuhr ausgelöstes Federwerk entzog dem Schläfer die Bettdecke.


Wohl für besonders Uneinsichtige mußte der Repetierwecker erfunden werden, der die Wecksignale, meist mit zunehmender Lautstärke und Dauer, wiederholt. Und zu Beginn unseres Jahrhunderts konnte schließlich der "Sturmglockenwecker" stolz als lautester Wecker der Welt (an)gepriesen werden.


Auch die Namen der anderen gängigen Wecker verhießen für chronische Schlafmützen nichts Gutes: "Furor" etwa, oder "Crescendo".

Das alles ist heute nicht mehr nötig. Die postindustrielle Menschheit hat ihre Lektion gelernt und erhebt sich vergleichsweise fast freiwillig. So konnte es in unserem Jahrhundert bei der Weiterentwicklung und Verbesserung von Weckvorrichtungen erstmals zum expliziten Anliegen werden, immer leisere, sanftere und angenehmere Töne anzuschlagen. Je größer die Verinnerlichung, desto behutsamer kann das Signal sein.


Weit vorweggenommen hat Johann Heinrich Poppe 1811 die entscheidende Entwicklung in seinem Buch mit dem vielversprechenden Titel "Der Wecker für jedermann oder Die Kunst, durch jede Taschenuhr sich stets sicher auf eine viertel Minute genau wecken zu lassen".


Das Weckerzeitalter brach aber erst zur letzten Jahrhundertwende an. Plötzlich sanken die Uhrenpreise drastisch und um 1900 war bereits in jedem Haushalt ein Wecker zu finden.


Fast prophetisch hat das "Allgemeine Journal für Uhrmacherkunst" die Entwicklung 1880 (jubelnd) auf den Punkt gebracht:


"Es gibt wohl nur wenige Artikel, deren Konsum so außerordentlich zugenommen hat, wie der Artikel ,Weckuhren`. Der Grund hierfür ergibt sich sehr einfach daraus, daß der Arbeiter- und der Beamtenstand infolge des großartigen Aufschwunges, den Industrie-, Eisenbahn- und Postverkehr usw. erfahren haben, gezwungen sind, mit größter Pünktlichkeit aufzustehen, und es ist gerade für diese Leute eine gute Weckuhr eins der unentbehrlichsten Haushaltsgegenstände geworden."


Die neue Arbeitsorganisation forderte tatsächlich eine zunehmend präzise Zeitordnung und deren rigorose Einhaltung als wesentliche Voraussetzung für den funktionierenden Ablauf aller gesellschaftlichen Funktionen. Der Wecker wurde somit von einem nützlichen zu einem lebensnotwendigen Gut.


Um so erstaunlicher ist, daß ein derart entscheidender Eckpfeiler unserer Kultur bisher kaum Gegenstand von Untersuchungen war. Karlheinz A. Geißler, Experte in Sachen Zeit und Zeitmessung, entwirft jedenfalls folgendes (Schreckens?)Szenario:


"Es gibt eine unkriegerische, harmlos klingende, aber äußerst effektvolle Methode, unsere Industriegesellschaft radikal zu verändern: Man schaffe alle Wecker ab. Nicht die Dampfmaschine, nicht der Ottomotor und auch nicht das Fernsehen bilden das instrumentelle Rückgrat dieser Gesellschaft - es sind die Wecker."


Die Wecker haben, leise schnurrend oder Musik und Werbung säuselnd, die Menschheit mittlerweile tatsächlich voll im Griff.


Auch tagsüber erinnern sie piepsend an gewichtige Termine, pünktlichst zu absolvierende Telefonate, einzunehmende Medikamente, Teebeutel und gekochte Eier.


Der Kampf zwischen künstlichen Lebensformen und dem natürlichen Lebensrhythmus ist ausgekämpft. Die "objektive" Zeitmessung hat das subjektive Zeitgefühl auf Eis gelegt. Das individuelle und oft aus guten Gründen sehr wechselhafte Schlafbedürfnis hat sein Stimmrecht endgültig verloren.


Gelegentliche Ausschreitungen gegen einzelne Wecker kommen zwar vor, versiegen und verpuffen aber meist mit dem Kauf eines neuen Weckers noch am gleichen Tag . . .

Montag, 31. März 1997

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