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Befunde des Erstaunens und Gruselns

Von Walter Klier

Wie lebt der Mensch? Auf diese Frage suchen wir eine Antwort in der Literatur. Der Mensch, wenn er, zum Beispiel, in den 1930er Jahren in Deutschland lebt, ist ein Anhänger und Sympathisant des Nationalsozialismus, besonders dann, wenn er den gebildeten Ständen angehört, die selber autoritär-monarchistisch erzogen wurden und die Gesellschaft gern in Ordnung sehen, d. h. in dem, was sie für Ordnung halten. Zudem leiden sie auch nach 20 Jahren noch ungebremst unter der großen Niederlage von 1918.

Ist der Mensch allerdings einer, der um 1970 jung ist und zum Beispiel in Stuttgart Germanistik studiert, dann ist die Chance ziemlich groß, dass er in den Dunstkreis einer der zahlreichen linksradikalen Gruppen gerät, die zu dieser Zeit an den Universitäten auf die kurz bevorstehende Weltrevolution hinarbeiten. Der 1952 geborene Stephan Wackwitz ist einer dieser Menschen letzterer Art, und er hat es in bisher zwei Büchern (denen hoffentlich weitere folgen werden) unternommen, der Zeitgeistgetriebenheit auf die Spur zu kommen, der der Einzelne so offenkundig unterliegt. Deswegen muss Vergangenheit stets bewältigt werden (was immer das wirklich bedeutet) – denn der Gegenwart sind wir alle hilflos ausgeliefert, all dem, was wenige Jahrzehnte später nur noch mit der größten Verwunderung als eine besondere Form des kollektiven Wahnsinns erscheint.

Wackwitz hat das Glück, einer Familie zu entstammen, in der schon seit längerem fast manisch geschrieben wird, und so bietet sich ihm für die Aufarbeitung vergangener gesellschaftlicher Wahnsinnszustände ein reiches Material aus erster Hand an, das er auch durch die eigene Kenntnis der näheren Umstände in eine erzählerische Perspektive zu rücken vermag. Nach dem als "Familienroman" bezeichneten Band "Ein unsichtbares Land" (2003) ist nun, wiederum bei S. Fischer, "Neue Menschen" erschienen, vom Autor nun als "Bildungsroman" bezeichnet.

Darin geht es zunächst und vordergründig um die schon erwähnte Zeit um 1970, als der europäische Intellektuelle dem Marxismus anhing und die studierende Jugend in der ihr eigenen Verblendung und Ungeduld glaubte, die Ankunft des irdischen Paradieses in Form der Diktatur des Proletariats sei nur eine Frage der Zeit. Das Wichtige an der Sache, scheint mir, liegt in Wackwitz’ ernsthaftem Versuch, den eigenen Jugendirrsinn nicht isoliert, sondern im Zusammenhang, vor allem in jenem mit Vätern und Großvätern (die Mütter nicht zu vergessen) zu sehen, und er kommt um die Feststellung nicht herum, es sei "zum Erstaunen und Gruseln, wie viele von uns, wie viele unserer Väter und Großväter sich in bestimmte Zeiten ihres Lebens und Meinens überhaupt nicht mehr hineindenken und nur froh sein können, wenn diese oder jene Periode meist sehr hochgemuten Irrsinns nicht zu irgendwelchen dann tatsächlich nicht mehr rückgängig zu machenden Taten und Schäden geführt hat" .

Als einer, der aus der nächsten ideologischen Generation, nämlich jener der Grün-Alternativen, stammt, kann ich, unter wiederum gewechseltem Vorzeichen, diesem Befund des "Erstaunens und Gruselns" nur zustimmen. Das einzige, was wir unseren Altvorderen voraus haben, ist tatsächlich nicht ein moralisches Übergewicht, sondern das Glück, das wir gehabt haben, in friedlicheren Zeiten zu leben, wenigstens hier, im westlichen Teil von Europa. Der nachdenkliche Rundgang, den Wackwitz in diesen zwei Büchern durch das 20. Jahrhundert unternimmt, gehört unter dem, was die deutsche Literatur in letzter Zeit hervorgebracht hat, zum wirklich Lesenswerten.

Walter Klier , geboren 1955, lebt als Schriftsteller in Innsbruck. Zuletzt ist von ihm der Band "Meine konspirative Kindheit" (Haymon-Verlag) erschienen.

Freitag, 18. November 2005

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