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Unser Bruder Schimpanse

Neue Untersuchungen zeigen, dass wir mit den Affen viel, aber nicht alles gemein haben
Illustration
- Die Schimpansen sind die nächsten Verwandten des Menschen.  Foto: Archiv

Die Schimpansen sind die nächsten Verwandten des Menschen. Foto: Archiv

Von Peter Markl

Wer sich selbst zum Spielball divergierender Gefühle machen will, dem sei ein Besuch im Affenhaus empfohlen. Vor den Käfigen der großen Menschenaffen erlebt man Kinder, denen die "Bambifizierung" der Welt durch Hollywood den Blick völlig verzerrt hat, neben Erwachsenen, welchen die Menschenähnlichkeit dieser Tiere offensichtlich fast peinlich ist.

Charles Darwin war sein Leben lang von den großen Affen fasziniert. Am 28. März 1838 besuchte er ein dreijähriges Orang-Utan-Weibchen, das der Londoner Zoo im November 1837 gekauft hatte. Es war eben – anstandshalber in Frauenkleider gehüllt – der Herzogin von Cambridge vorgestellt worden. Darwin war von der Äffin sehr angetan: sie amüsierte ihn, er bewunderte ihren kindlich scheinenden Spieltrieb und ihre Intelligenz. Er hat nie aufgehört, über den Ursprung ihrer Menschenähnlichkeit nachzudenken. 1871 kommt er in seinem Buch von der "Abstammung des Menschen" darauf zu sprechen, aber er behandelt das Thema mit Vorsicht. Einerseits konstatiert er, dass "der Unterschied zwischen den geistigen Fähigkeiten der höchsten Affen und niedrigsten Wilden immens sei" , andererseits meint er jedoch: "Im Hinblick auf ihre mentalen Fähigkeiten gibt es zwischen dem Menschen und den höheren Säugetieren keinen fundamentalen Unterschied." Darwin sah also nur mehr graduelle Unterschiede.

Biologische Information

Spätestens seit Darwin ist es klar, dass man bei der philosophischen Suche nach der "Natur des Menschen" bestenfalls Teilantworten finden würde, solange man dabei nicht einschließt, was man über die biologische Ähnlichkeit der Menschen zu den anderen großen Primaten herausgefunden hat und wie sich die entscheidenden Unterschiede im Lauf der Evolution entwickelt haben.

Seither hat sich die Problemsituation natürlich stark gewandelt. Man hat gelernt, die biologischen Ähnlichkeiten zwischen den Primaten zu quantifizieren, und das hat dazu geführt, dass man ihren Stammbaum neu zeichnen musste: Es ist klar geworden, dass die Schimpansen die nächsten Verwandten der Menschen sind. Sie sind den Menschen näher verwandt als den Gorillas oder Orang-Utans.

Da bei den Primaten (fast) alle biologische Information, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, im Genom verschlüsselt vorliegt, begann man nach einem genetischen Maß für den Verwandtschaftsgrad von Organismen zu fahnden.

Noch 1955 war man der Ansicht, dass Menschen und Schimpansen gleich viele – nämlich 48 – Chromosomen hätten. Dann aber entdeckte man dank verbesserter Methoden zur Anfärbung der Chromosomen, dass die Schimpansen ein Chromosomenpaar mehr haben. Man weiß mittlerweile auch, warum: Irgendwann in den rund sechs Millionen Jahren, die vergangen sind, seit der letzte gemeinsame Vorfahre zwischen Menschen und Schimpansen lebte, muss in der Evolutionslinie zum Menschen bei der Bildung der Keimzellen eines der gemeinsamen Vorfahren aller Menschen eine Panne passiert sein: zwei mittelgroße Affenchromosomen verschmolzen zu dem einen großen Chromosom, das man nun beim Menschen als Chromosom 2 findet.

Seither ist ein halbes Jahrhundert vergangen und die wahrhaft atemberaubenden Fortschritte in der Genanalytik haben es möglich gemacht, die Struktur des Genoms ganzer Organismen aufzuklären: Man kennt heute die Reihenfolge der Basenpaare, in der die genetische Information verschlüsselt vorliegt, auch für das ganze Genom der Menschen – veröffentlicht 2001 als das Endprodukt des gigantischen "Human Genome"-Projekts.

Und jetzt gibt es neue Erkenntnisse bezüglich der Charakterisierung der genetischen Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen: Anfang September 2005 erschienen in einer offensichtlich konzertierten Aktion in der englischen "Nature" und der amerikanischen "Science" Artikelserien über Schimpansen, ausgelöst durch eine erheblich erweiterte und verbesserte Version eines weiteren Rohentwurfes der Basensequenz im Genom der Schimpansen und deren Vergleich mit dem menschlichen Genom.

1,23 Prozent Unterschied

Die Ergebnisse sollten zumindest ein Missverständnis endgültig beseitigen, das in unzähligen Artikeln auftauchte und in "wissenschaftlichen" Diskussionen immer wieder aufgetischt wird – das Märchen von der enormen Aussagekraft der linearen Basensequenz selbst für Fragen nach der "Natur" der Menschen – und ihrer wesentlichen Unterschiede zu Schimpansen.

Das genetische Alphabet besteht aus nur vier Buchstaben, die im Genom, dem genetischen Buch jedes Organismus, linear aneinander gereiht sind. Dieses Buch ist bei Menschen und Schimpansen ungefähr gleich dick. Sein Text besteht aus etwa 3 Milliarden Buchstaben. Die Aufeinanderfolge von 2,7 Milliarden dieser Basenpaare, die 94 Prozent des Genoms der Schimpansen bilden, hat man jetzt durchbuchstabiert. Wenn man die Buchstabenfolge im menschlichen Genom Buchstabe für Buchstabe mit der analogen Buchstabenfolge im Genom der Schimpansen vergleicht und zählt, wie oft sie sich unterscheiden, weil – entweder in der zu den Menschen führenden Abstammungslinie oder der Abstammungslinie zu den Schimpansen – ein Buchstabe durch einen anderen ersetzt wurde, dann kommt man in der Tat auf eine verblüffend kleine Zahl: Denn so etwas hat in den sechs Millionen Jahren seit der Trennung der Entwicklungslinien zwischen Menschen und Schimpansen nur bei 1,23 Prozent der Buchstaben stattgefunden.

Das scheint nicht viel zu sein, aber der Schein trügt: 1 Prozent von 3 Milliarden sind bereits 30 Millionen, und das ist gar nicht wenig.

Und da setzt nun eine weitere Reihe von Missverständnissen ein. Es beginnt damit, dass die Substitution einzelner Nucleotide der einzige Prozess ist, welcher Unterschiede in den Sequenzen hervorruft. Die neuen Daten zeigen, dass die Duplikation einzelner Genabschnitte, das Einfügen von Gensequenzen oder ihre Deletion die Struktur der DNA von Schimpansen mehr geprägt haben als die 1,2-Prozent-Substitution einzelner Nucleotide: die Unterschiede zur menschlichen Basensequenz sind zu weiteren 2,7 Prozent durch Duplikation von Genabschnitten entstanden.

Die besten Daten über die Basensequenzen von Menschen und Schimpansen belegen jedenfalls, dass die Unterschiede durch etwa 40 Millionen evolutionäre Ereignisse verursacht wurden, von denen 35 Millionen im Austausch einzelner Nucleotid-Buchstaben und 5 Millionen im Einfügen oder Verschwinden von Nucleotidsequenzen bestanden.

Nucleotid-Sequenzen

Doch so nützlich diese Zahl auch als Maß für die genetischen Unterschiede zweier Spezies ist, für sich genommen ist sie für Außenseiter äußerst irreführend. Um noch einmal die (begrenzte) Analogie zwischen dem Genom und einem Buch mit der Bauanleitung zum Bau eines Organismus zu strapazieren: Wenn man zwei Kochbücher Buchstabe für Buchstabe vergleicht, findet man nur wenige Hinweise darauf, wie sich das nach diesen Rezepten Gekochte im Geschmack unterscheiden wird. Da kommt es auf die Ausgangsmaterialien an – und vor allem darauf, wie man die Rezepte im Detail anwendet.

Wer kein Genetiker ist, denkt bei Verwandtschaftsgraden freilich nicht in linearen Nucleotid-Sequenzen, sondern in sichtbaren Ähnlichkeiten. Und die sind wegen der großen Variationsmöglichkeiten bei der Ausführung der genetischen Information oft erstaunlich: die Basensequenzen von Hunden sind zu 98,80 Prozent gleich, die Hundezüchter aber haben die Gene, welche die Ausführung der genetischen Information steuern, über viele Generationen hin so manipuliert, dass die Endprodukte einander wahrlich nicht sehr ähnlich sind – hier wolfsähnliche Schäferhunde, dort Pudel und Pekinesen.

Transkriptionsfaktoren

Die Zahl von 40 Millionen evolutionärer Ereignisse, welche die Unterschiede in der Linearsequenz der Genome von Schimpansen und Menschen verursacht haben, wird oft missverstanden: Die Genetik zeigt, dass die meisten dieser Ereignisse folgenlos bleiben, weil sie entweder den "Sinn" des Textes ohnehin nicht ändern oder aber in Gensequenzen auftreten, die – soweit man heute weiß – entweder nie "Sinn" hatten oder den "Sinn" im Lauf der Evolution verloren haben. Einige wenige aber sind entscheidend.

Es gibt zurzeit nur wenige wissenschaftliche Teams, welche die Zielfahndung nach diesen Genen aufgenommen haben. Eines von ihnen arbeitet am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Verstärkt durch Bioinformatiker von der Universität Düsseldorf haben sie nun in "Science Express" eine faszinierende Arbeit veröffentlicht, in der die Daten nach Indizien auf Auswirkungen der genetischen Veränderungen in der Evolutionslinie zu den Menschen hin untersucht werden. Sind es Gene, welche die Struktur von Proteinen änderten, oder DNA-Abschnitte, welche darauf Einfluss haben, welche Gene in welchen Geweben zu welchem Zeitpunkt aktiviert sind? Es kommt – diesem Erklärungsparadigma nach – dann weniger auf die Struktur der Gene an als auf die Art und zeitliche Abfolge, in der eine relativ kleine Zahl von Regulatorgenen oder "Transkriptionsfaktoren" aktiv werden.

Noch elf funktionale Gene

Das deutsche Team kommt zu dem Schluss, dass die Muster der Expression von Genen, welche die Entwicklung des Neocortex und damit der kognitiven Eigenschaften beeinflussen, bei Menschen und Schimpansen sehr ähnlich sind. Was man eigentlich erwarten sollte: das Gehirn ist bei beiden Spezies ein so überlebenswichtiges Organ, dass die Evolution in dem ausgewogenen Funktionsgefüge nicht viel experimentieren konnte, ohne Katastrophen auszulösen. Aber: " Man findet auf der zu den Menschen führenden Evolutionslinie mehr exprimierte Gene und in ihrer Aminosäuresequenz strukturell veränderte Proteine als in anderen Geweben."

Und das legt die Annahme nahe, dass bei der Evolution von bestimmten Organsystemen – wie bei den Organen, die mit kognitiven Fähigkeiten oder dem männlichen Reproduktionssystem zu tun haben – evolutionäre Veränderungen sowohl auf der Ebene der Proteinsequenzen als auch der Regulation der Genaktivität zusammengespielt haben.

Wenigstens eine klare und – zumindest für uns Männer – frohe Botschaft ist aus den neuen Sequenzdaten jedoch herauszulesen: Die Vermutung, dass das männliche Y-Chromosom auf der Abschussliste der Evolution steht, hat stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Vor etwa 300 Millionen Jahren enthielten sowohl das X-Chromosom als auch das Y-Chromosom etwa 1000 Gene. Heute hat das Y-Chromosom, eine ziemlich mikrige Angelegenheit, nur noch 16 funktionierende Gene, die man auch auf dem X-Chromosom findet.

Jetzt hat sich herausgestellt, dass die Schimpansen in den sechs Millionen Jahren (auf dem Weg vom letzten mit uns gemeinsamen Vorfahren in ihrer Affenzukunft) fünf davon eingebüßt haben. Die Menschen aber haben noch alle elf funktionalen Gene, die man auch bei den Schimpansen findet. In den letzten sechs Millionen Jahren hat sich also das Chromosom, das "Männer erst zu Männern macht", jedenfalls erstaunlich gut gehalten.

Literatur: "Nature" vom 1. September 2005, "Science Express" vom 1. September 2005, "Science" vom 2. September 2005.

Peter Markl ist Professor für Analytische Chemie an der Universität Wien, wo er auch Methodik der Naturwissenschaften lehrte.Er istMitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolution und Kognitionsforschung und de s Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.

Freitag, 16. September 2005

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