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Der Fluch der Vögel

Die Vogelgrippe aus historischer, epidemiologischer und zoologischer Sicht
Illustration
- Die Gefährdung – vor allem von Menschen – durch Zugvögel wird bei weitem überschätzt. Foto: dpa

Die Gefährdung – vor allem von Menschen – durch Zugvögel wird bei weitem überschätzt. Foto: dpa

Von Walter Sontag

Die große Pest von 1348 raffte rund ein Viertel, vielleicht sogar ein Drittel der Bevölkerung Europas dahin; nach der peniblen Buchführung von Papst Clemens I. gingen genau 42,836.486 Seelen auf das Konto des Schwarzen Tods. Die Spanische Grippe gegen Ende des Ersten Weltkriegs soll 20 bis 50 Millionen Menschenleben gefordert haben, und die Opferzahlen der "normalen" Wintergrippe liegen nach Auskunft des Chief Medical Officers allein für Großbritannien jährlich bei etwa 12.000 Toten. Gegen diese Statistiken nimmt sich der Seuchenzoll von ungefähr 70 Todesfällen, die von der Vogelgrippe aktueller Prägung bisher bekannt wurden, "erfreulich" mager aus.

70 fatale Infektionsverläufe seit dem Ausbruch der jüngsten Seuche vor zwei Jahren im fernen Asien: dies entspricht etwa einem Zehntel der jährlichen Opferbilanz auf Österreichs Straßen. Doch solche ungleich höheren Ziffern notiert die Öffentlichkeit, so makaber es sein mag, mit Gelassenheit, um nicht zu sagen, mit abgebrühter Gleichgültigkeit: als akzeptierte, quasi unvermeidliche Schattenseiten der modernen Welt.

Hysterie ohne Opfer

Seit 1997 waren bereits vereinzelt kleinere Geflügelpestepidemien unterschiedlicher Couleur aufgetreten, doch sie blieben beherrschbar. Das gewaltige Medieninteresse stand im umgekehrten Verhältnis zu deren tatsächlicher Dimension. Und in der gegenwärtigen Pandemiephase, in der die gefürchteten Viren aus dem Fernen Osten Europa erreicht haben, erkrankten zwar auf dem Kontinent im Donaudelta, in der Ägäis und von Moskau bis Kroatien die ersten geflügelten Haustiere – aber noch kein einziger Mensch.

Immerhin: Minister tagen, Fachleute diskutieren, Ministerien erlassen Eilverordnungen oder geben zumindest Losungen aus. Besorgte Bürger haben sich längst mit Impfstoff eingedeckt, und die Internetpreise für die begehrten Vakzine schnellten im Nu nach oben – für eine antivirale Präparatmischung, auf deren Wirksamkeit man im Ernstfall lediglich spekulieren und hoffen kann. Was ist faul an der allgemeinen Influenza-Panik? Wieso diese Hysterie ohne Opfer?

Bei Seuchen gibt es zunächst immer eine Art von geographischer In-flagranti-Zuweisung – besonders, wenn es sich um exotische Gegenden handelt, wie etwa um den Quinghai-See in China, ein Massengrab für Streifengänse, Möwen und Kormorane. Verstärkend wirkt eine unterschwellige Assoziation mit medialen Horrorvorstellungen. Vollendet traf dies auf den Geflügelpestausbruch vor der Jahrtausendwende in der Megapolis Hongkong mit ihren eingepferchten Menschenmassen zu. Die ersten spontanen Phantasien und Befürchtungen ziehen rasch pauschale Schlussfolgerungen nach sich, wie etwa die vom Elend des Vogelzugs. Dazu passt die ironisch-nüchterne Beobachtung des demnächst aus dem Amt scheidenden deutschen Innenministers Otto Schily, dass sich für Vögel keine Visumpflicht durchsetzen lasse.

In die Hypothesenwerkstatt gehören auch die quantitativen Modell- und Katastrophenszenarien einschließlich der angenommenen ökonomischen Auswirkungen: Verdachtsfallprognosen, Quarantäne- und Opferszenarien, pharmazeutischer Kapazitätsbedarf, das Investitions-, Forschungs- und Gewinnpotential und die meist waghalsigen Kostenschätzungen für die Gesellschaft. Trotz aller unwiderstehlichen Katastrophenarithmetik bedarf der Begriff Vogelgrippe zunächst einmal der Klärung und vor allem Differenzierung.

Anders als viele bekannte ansteckende Krankheiten, wie etwa die Pest, die von eigenständigen, voll intakten Organismen (häufig winzige, einzellige Bakterien) verursacht wird, sind für die Armada der Grippeinfekte eben Viren verantwortlich, das heißt eine umhüllte, leblose Erbsubstanz. Mit solchen Molekülaggregaten vermögen nur lebende, aktive Wirtszellen etwas anzufangen – freilich zu ihrem eigenen Verderben. Denn in den befallenen Zellen wird das Virus gewissermaßen erst selbst zu Leben erweckt. Influenzaviren liegen in mannigfacher Variation vor. Selbst in den modernen Labors mit ihren enormen biotechnischen Möglichkeiten ist die jeweilige Identifizierung schwierig und langwierig. Daher sind auch die Erreger in vielen der jüngsten Fälle vermuteter oder tatsächlicher Vogelgrippe noch nicht ermittelt.

Prinzipiell unterscheidet die Wissenschaft die drei Influenzagruppen A, B und C, wobei der Typus A den für den Menschen mit Abstand gefährlichsten darstellt. Ihm gehörten die Verursacher der drei berüchtigten Grippepandemien des vergangenen Jahrhunderts an: der Spanischen (1918/20), der Asiatischen (1957/58) und der Hongkong-Grippe (1968). Die Vogelgrippe ist derselben Kategorie zuzurechnen, wie sich bei der Analyse des Erregers der Spanischen Grippe zeigte. In den Jahren ihres Wütens waren solch subtile molekulare und genetische Strukturen einer Untersuchung durch die damals verfügbaren Apparaturen und Techniken selbstverständlich noch nicht zugänglich.

Um den buchstäblich mit ins Grab genommenen Geheimnissen nachträglich auf die Spur zu kommen, wurden einigen der seinerzeit verstorbenen Seuchenopfer, zum Beispiel einer im Dauerfrostboden Alaskas begrabenen Frau, sowie konservierten Geweben Proben entnommen. Aus den darin enthaltenen, 80 Jahre alten Viruspartikeln rekonstruierten die Forscher in mühsamer Kleinarbeit das heimtückische Virus von anno dazumal. Und siehe da – die untersuchten Erbgut stücke des viralen Peinigers glichen fast vollkommen den entsprechenden Sequenzen viel jüngerer und moderner Vogelgrippeviren.

Aus heutiger Sicht spricht vieles dafür, dass Vogelviren am Anfang der Influenza unserer Spezies standen. Auffallenderweise scheinen nämlich Grippeviren erst seit relativ kurzer Zeit dem Menschen wirklich etwas anhaben zu können, etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Möglicherweise sprangen damals die ersten infektiösen Partikel von Tieren auf Homo sapiens über, die in den Stoffwechsel des neuen Wirts einzugreifen vermochten und sich in ihm rasant vermehrten. Zugleich waren sie nun – mit abgewandelten Eigenschaften ausgestattet – von Mensch zu Mensch übertragbar.

Gefährlicher Virenmix

Prinzipiell liegt die Gefährlichkeit der Viren in ihrer ausgeprägten Fähigkeit zu rapider genetischer Veränderung. Dazu zählt auch ihre Eigenart, sich unter fremdes Erbmaterial zu mischen, vor allem aber ihre Neigung, mit anderen Viruspartikeln neuartige Virenkomplexe mit vollkommen neuen Qualitäten zu bilden. Nach diesem Muster wurden beispielsweise die Keime der Asiatischen und der Hongkong-Grippe neu zusammengemischt. Ein solches Ereignis, die Verbindung bestehender Humanvirenstämme mit dem derzeit florierenden Vogelvirus, stellt die eigentliche Schreckensvision der Epidemologen dar.

Warum jedoch blieb die Menschheit so lange von dem Grippevirus verschont? Reichte vor der lemminghaften Vermehrung der Menschengattung – aus Virenperspektive – das Wirts- und Überträgerpotential einfach nicht aus? Waren andere, inzwischen eingedämmte Infektionskrankheiten einst so erfolgreich, dass die konkurrierende Virenbrut nicht zum Zug kam? Oder sind die Gründe für die junge Virulenz im Lebensstil oder in Umweltveränderungen zu suchen?

Eine Übersicht im "Deutschen Ärzteblatt" vermeldete allein für die Periode zwischen 1973 und 1999 sechsundzwanzig bis dahin unbekannte Krankheitserreger, von Borellien, HIV, Hepatitis C bis zum Ebolavirus. Gerade der letztgenannte Keim darf als Beleg dafür gelten, dass die Ansteckungswege zwischen Tier und Mensch offenbar keine Einbahnstraße sind. Die zu inneren Blutungen führende Seuche, die sich in Zentralafrika mit einer jährlichen Geschwindigkeit von 50 km ausbreitet, hinterließ in der einheimischen Bevölkerung hunderte Todesopfer, unter Schimpansen und Gorillas eine noch beträchtlich höhere Opferbilanz. Kürzlich wurde im Odzala-Nationalpark die größte wildlebende Population der Flachlandgorillas durch das überaus aggressive Virus komplett ausgelöscht.

Im Fall der Vogelviren greifen die Erreger bisher tatsächlich fast ausschließlich die gefiederten Spezies an. Zwar wurden sie schon in vielen Vogelgruppen gefunden; die mit Abstand meisten Nachweise aus Naturräumen stammen allerdings von Wasservögeln, also Enten, Gänsen, Schwänen, Limikolen und Möwen. Die gefährlichen Virenstämme konzentrieren sich freilich auf Hausgeflügel. Hohe Individuendichte (Massenhaltung), das auf kleine Flecken beschränkte Futter- und Wasserangebot und zudem die vielfach schlechte Hygiene fördern die eruptive Vermehrung pathogener Keime. Schätzungsweise 120 Millionen Hühner- und Entenvögel mussten bisher ihr Leben lassen, sei es als tatsächlich infizierte Tiere oder als Opfer seuchenhygienischer Vorsorgemaßnahmen.

Alle von Vögeln bekannten Influenzaerreger werden dem Typus A zugeordnet. Der erste Fall von Vogelgrippe wurde bereits 1878 in Italien beschrieben. Auch auf das fliegende Getier trifft zu, was für uns Menschen gilt: neben den schweren Erkrankungsformen gibt es auch milde Infekte. Vermutlich zeigen die Virenträger der Ornis meistens überhaupt keine Symptome. Außerdem scheinen Wildvögel mit harmlosen Viren häufig gegen hochpathogene Virusvertreter gefeit. Freilich sagt die serologische Zuschreibung – sozusagen die Sortenangabe – nicht zwingend etwas über Auftreten und Ausbleiben oder die Gefährlichkeit eines Virentyps aus.

Grundsätzlich unterteilt man die "Bird flu"-Keime nach der Kombination der bekannten 15 Hämagglutinin-Antigen-Varianten (H) und neun Neuraminidase-Antigen-Varianten (N). Daher die Bezeichnungen H5N1, H7N7, H9N2, die in den letzten Jahren Epidemien auslösten. Dabei hilft das Hämagglutinin dem Virus, sich an eine Zelle zu heften und mit ihr zu verschmelzen; die Neuraminidase dagegen bringt die Freisetzung der nächsten Virusgeneration voran.

Epidemie in Tigerzoo

Der Kontakt mit dem Federvieh muss schon sehr intensive Formen annehmen, bis das Virus auch auf Säugetiere und den Menschen übergreift. So brach in einem kommerziell geführten Tigerzoo in Thailand eine Epidemie unter den Großkatzen aus, denen Geflügel als Futter in großem Stil gereicht wurde. Völlig überschätzt, vor allem in unseren Breiten, wird dagegen die mögliche Gesundheitsgefährdung von Menschen durch Zugvögel. Freilebende Vögel halten fast ausnahmslos von sich aus eine gro-ße Distanz zum Menschen ein.

Nach einer Studie australischer Forscher wurde bis zu diesem Jahr unter Wildvögeln weltweit lediglich ein einziges Mal eine Epidemie der schweren Vogelgrippe (HPAI) festgestellt. Daher spricht sich auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dagegen aus, Vogelschwärme durch Bejagung systematisch zu dezimieren. Die Störung des ökologischen Gleichgewichts durch eine solche Strategie würde wesentlich gravierendere Nachteile haben. Der genannten Studie zufolge formierten sich die gefährlichen HPAI-Varianten häufig in Geflügelfarmen und richteten beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden an.

Geflügelhöfe und vor allem die asiatische Spezialität der Geflügel- und Vogelmärkte müssen als hervorragende Infektionsquellen gelten. Auf einem einzigen solcher traditionellen Märkte auf Java stehen jährlich rund 0,5 bis 1,5 Millionen Vögel zum Verkauf, zusammengepfercht und in engstem Kontakt mit Händlern und Kunden. Die epidemische H5N1-Hysterie in unseren Zonen lässt sich damit allerdings kaum erklären.

Walter Sontag, geboren 1951, ist promovierter Zoologe mit dem Fachgebiet Ornithologie.

Freitag, 04. November 2005

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