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Mühsame Wissensvermehrung

Neue Detail-Fortschritte im "Human Genome Project"
Von Peter Markl

Manchmal stößt man selbt bei Themen, von denen man gedacht hätte, dass darüber eigentlich alles schon gesagt wäre, auf überraschende Neuigkeiten. Vor kurzem war das in der englischen "Nature", dem renommierten Flaggschiff der englischen Wissenschaftszeitschriften, der Fall: "Abschluss der Arbeiten an der euchromatischen Sequenz des menschlichen Genoms" lautete der Titel eines der dort an prominenter Stelle wiedergegebenen Artikels. In der Erinnerung tauchten Bruchstücke all jener Artikel, Kommentare und vollmundigen Sprüche auf, die man gelesen hatte, nachdem "Nature" - und parallel dazu dessen amerikanisches Pendant "Science" - schon im Jahr 2001 die Resultate zweier konkurrierender Versuche zum Durchbuchstabieren der Basensequenz im menschlichen Genom veröffentlicht hatten.

Diese damaligen Veröffentlichungen hatten eine äußerst turbulente Vorgeschichte. Bereits am 26. Juni 2000 hatten Präsident Clinton und der via Satellit zugeschaltete britische Premierminister Blair in einer Pressekonferenz im Weißen Haus den Abschluss des "Human Genome Project" verkündet, was viele Kommentatoren schon zu euphorschen Superlativen animierte, die nicht mehr steigerungsfähig waren, als das Angekündigte dann - nach neuen internen Turbulenzen zwischen den konkurrierenden Forschungsteams - erstmals im Detail gedruckt vorlag: Im Februar 2001 veröffentlichte das von der öffentlichen Hand finanzierte "International Human Genome Sequencing Consortium" seine Forschungsergebnisse in zwei repräsentativen Heften von "Nature", während die private amerikanische Firma Celera, welche die Information an Interessierte verkaufen wollte, "Science" als Publikationsort wählte.

Jubel ohne Ende

Kritiker hatten sich nach der Pressekonferenz im Weißen Haus gefragt, warum man gerade jetzt das Ende des Projekts verkündete, wo doch offensichtlich war, dass Wesentliches noch fehlte - sollte es in Analogie dazu etwa auch gestattet sein, Schuberts "Unvollendete" einfach für vollendet zu erklären?

Überraschten Laien mag sich vielleicht auch jetzt, nach der jüngsten "Nature"-Veröffentlichung, eine musikalische Analogie aufdrängen: Sind die Public-Relations-Leute derart außer Kontrolle geraten, dass das Ende des Genom-Projekts dem Ende schlechter Symphonien ähnelt, bei denen ein triumphaler Schluss voll Jubel von immer weiteren Schlüssen mit noch mehr Jubel überboten wird?

Nein, so ist es nicht. Der neueste Artikel des "International Human Genome Sequencing Project" ist ein Meilenstein in der Geschichte der Genetik. Er beweist, dass die Sequenz, die in dieser Vollständigkeit und Fehlerfreiheit vorher nicht vorlag, die biologische Grundlagenforschung und die darauf aufbauende Suche nach medizinischen Anwendungen auf eine völlig neue Grundlage stellt.

Der falsche Glaube, dass dies ohnehin schon im Jahr 2001 erreicht worden wäre, hatte zwei Gründe: Selbst diejenigen Journalisten und Wissenschaftler, die damals ernsthaft versuchten, den Triumph auch für Nichtfachleute nacherlebbar zu machen, konzentrierten sich auf das Erreichte und verzichteten darauf, dessen Grenzen abzustecken. Dabei blieben einschränkende Details auf der Strecke. So ging etwa im Dröhnen der Superlative unter, dass man nicht mehr versprochen hatte als eine erste Rohfassung der menschlichen Genomsequenz, und auch das nur für einen Teil des menschlichen Genoms.

Die Riesenfäden der DNA kommen in den Chromosomen in verschieden dichten Packungen vor. Ein Teil von ihnen erscheint in einer gelähnlichen, relativ lockeren Anordnung, die man Euchromatin genannt hat. Man weiß, dass Euchromatin reich an Genen ist, deren genetische Information gerade abgelesen wird. Die zweite Packung von DNA-Fäden ist dichter, doch enthält auch sie eine nicht unbeträchtliche Zahl von Genen.

2001 ist nur die Rohfassung der Basensequenz der DNA im Euchromatin veröffentlicht worden, und selbst davon waren damals etwa 10 Prozent noch nicht sequenziert worden. Insgesamt waren 2001 nur etwa 70 Prozent des gesamten Genoms erfasst worden, noch dazu reichlich lückenhaft: Die lineare Aufeinanderfolge der Basenpaare im Euchromatin war an etwa 150.000 Stellen unterbrochen und es gab Regionen, in denen die Aufeinanderfolge und Orientierung vieler Segmente nicht klar war.

Zwei Jahre später begann man die Früchte neuer Entwicklungen in der Sequenziertechnik zu ernten. Das Tempo beim Sequenzieren hatte sich atemberaubend beschleunigt. Die Organisation war optimiert worden, es ging schließlich darum, die Arbeit von etwa 2800 Wissenschaftlern in zwanzig Laboratorien aus sechs Ländern zu koordinieren - und die Sequenziertechnik hatte ein neues Niveau erreicht, nachdem man die Techniken perfektioniert, mechanisiert und automatisiert hatte und daran gegangen war, zur Auswertung der Rohdaten neue Computerprogramme einzusetzen.

Nach der Installation einer neuen Generation von Sequenzierautomaten begann bereits im Juni 1999 die Sequenzierkapazität in nur acht Monaten auf das Achtfache zu steigen. Damals wurden fast sieben Millionen Proben pro Tag analysiert. Im Juni 2000 wurden dann Rohdaten mit so hoher Geschwindigkeit produziert, dass man nur etwas weniger als sechs Wochen brauchte, um einen vollständigen Satz der Rohdaten der mehr als rund drei Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms zu bestimmen. Das entspricht einem kontinuierlichen Durchsatz von über 1.000 Nukleotidbasen pro Sekunde, 24 Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche.

Schon vorher war diskutiert worden, wo die Perfektionierung der Rohdaten enden sollte. Man einigte sich darauf, dass die Fehlerrate bei der Bestimmung einer Basensequenz geringer sein müsse als

1 : 10.000, und dass mindestens

95 Prozent der euchromatischen DNA durchsequenziert werden sollten, wobei man Lücken in der Sequenz nur noch an jenen Stellen hinnehmen wollte, an denen man mit den verfügbaren Sequenziertechniken nicht weiterkam.

Am 14. April 2003 war es dann so weit: 99 Prozent des euchromatischen menschlichen Genoms waren mit der angepeilten Mindestgenauigkeit von 99,99 Prozent

sequenziert worden.

Die fast vollständige Sequenz, die jüngst in "Nature" veröffentlicht wurde, geht aber noch darüber

hinaus: Man kennt jetzt die Größe des menschlichen Genoms präziser als je zuvor: es besteht aus 3,08 Milliarden Basenpaaren, von denen 2,88 Milliarden im genreichen euchromatischen Bereich zu finden sind. Die jüngst veröffentliche Basensequenz (Codename: Build 35) besteht aus der linearen Abfolge von 2.851.330.913 Nukleotid-Basen, die fast zur Gänze im euchromatischen Bereich des Genoms liegen.

Kontinuierliche Sequenzen

Während man 2001 beim Sequenzieren an 150.000 Bruchstellen nicht weitergekommen war, sind es jetzt nur mehr 341 Unterbrechungen der Sequenz. (Aber selbst davon liegen 33 Unterbrechungen nicht im euchromatischen, sondern im heterochromatischen Bereich, so dass man sich für ihre Struktur nicht weiter interessiert hat.)

Die Länge der kontinuierlich zu lesenden Basensequenzen, die 2001 noch bei durchschnittlich 81.500 Basen lag, ist auf 38,5 Millionen Basen gestiegen. Dieser Wert ist etwa 1.000 Mal so groß wie die durchschnittliche Größe eines typischen menschlichen Gens. Die Genauigkeit der Basenabfolge ist zehnmal größer als noch 2001: jetzt hat man unter 100.000 Basen wahrscheinlich nicht mehr als bloß eine Base falsch identifiziert.

Am dramatischsten aber ist der neue Schätzwert für die Zahl der Gene im menschlichen Genom. Es gab ja vor allem unter Nicht-Naturwissenschaftlern die Ansicht, dass der Mensch als eines der "komplexesten" Lebewesen - eben die "Krone der Schöpfung"! - besonders viele Gene haben müsste. Vor zehn Jahren wurde vermutet, dass es mehr als 120.000 Gene sein könnten. Schon in der Sequenz von 2001 hatte man aber nur mit etwa 30.000 Genen gerechnet, die für die Struktur von Proteinen codieren. Im Licht der neuen Daten hat man auch diese Zahl nochmals nach unten korrigiert: wahrscheinlich sind es nur 20.000 bis 25.000 Protein codierende Gene.

(Für diejenigen, deren Selbstgefühl mit der Zahl der Gene steigt, ein weiterer hart zu schluckender Brocken; umso härter, als im selben Heft von "Nature" die Gensequenz eines japanischen Kugelfisches analysiert wird: auch der hat geschätzte 20.000 bis 25.00 Gene!)

Das alles hatte seinen Preis. Es hat die Laboratorien in England, den USA, Frankreich, Deutschland und Japan etwa 300 Millionen Dollar gekostet, die Rohsequenz von 2001 auszuarbeiten; für die Elimination von Lücken, das vollständige Erfassen der euchromatischen Sequenzen und die Erhöhung der Präzision, wie sie bis 2003 erreicht wurde, waren weitere 320 Millionen Dollar Forschungsgelder nötig.

Jetzt hat sich das Internationale Konsortium aufgelöst. Was in der Sequenzanalyse noch offen ist, wird in Spezialprojekten untersucht werden.

Eine dieser offenen Fragen ist natürlich die Aufklärung der Basensequenz des Heterochromatins, das etwa 20 Prozent des menschlichen Genoms ausmacht. Es ist arm an Genen, reich an sich wiederholenden Basensequenzen und wahrscheinlich doch entscheidend für die Dynamik der Chromosomen, ihre Replikation und die Prozesse, welche die Chromosomen funktionstüchtig erhalten. Dazu müssen jedoch neue Untersuchungstechniken entwickelt werden. Das wird sicherlich noch etliche Jahre dauern. Lincoln Stein vom Cold Spring Harbor Laboratorium in New York, einem Zentrum der molekularen Genetik, merkt dazu in einem "Nature"-Kommentar an: "Sollten Sie 2010 also wieder über eine Arbeit stolpern, in welcher ein weiterer Abschluss der Sequenzanalyse des menschlichen Genoms verkündet wird, seien sie nicht geschockt - die wird dann berichten, wie man das Problem des Heterochromatins knacken konnte."

Neue Probleme

Das internationale Konsortium beendet seine Arbeit ziemlich zurückhaltend mit dem Hinweis darauf, dass das "Human Genome Project" das ungeheure Potential demonstriere, das im Einsatz öffentlicher Gelder für koordinierte Projekte zum Vorantreiben der biomedizinischen Forschung stecke, wobei es vorrangig darum gehe, jene Prozesse zu erhellen, durch welche die im Genom deponierte genetische Information in Funktion umgesetzt wird. Welche Mechanismen wirken bei der Steuerung der Genaktivität: was bewirkt, dass bestimmte Gene - etwa während der Entwicklung eines Organismus - nur an bestimmten Orten und bestimmten Zeiten an- und abgeschaltet werden? Soviel ist jetzt schon fast sicher: Das große Rätsel, wie bei manchen Organismen - Menschen eingeschlossen - verhältnismäßig wenig Gene die Grundlage für den Aufbau komplexer Lebewesen bilden können, findet seine Lösung in der Steuerung der Aktivität der Gene. In einem Organismus erzeugen sich zeitlich und örtlich ständig ändernde Muster der Genaktivität. Es gibt dazu neue und faszinierende Theorien - etwa die Vermutung, dass man bisher, in der fast ausschließlich auf die Funktion von steuernden Proteinen fixierten Sicht, wesentliche Mechanismen übersehen haben könnte. Indizien sprechen dafür, dass ein Regelnetzwerk von RNA-Molekülen der Schlüssel zur Erklärung für die Entwicklung von der befruchteten Eizelle zum ausgewachsenen Organismus und zum Wandel der Arten in der Evolutionsgeschichte sein könnte.

Schlechthin alle Experten sind sich darin einig, dass die Ergebnisse des "Human Genome Projects" bei der Suche nach diesem Schlüssel eine entscheidende Rolle spielen werden, außerdem besteht Einigkeit darüber, dass die Suche danach unvergleichlich schwieriger, langwieriger und teurer sein wird als das bisher Erreichte.

Die Wissenschaftler und Public Relations-Barden der Organisationen, die an Wissenschaft interessiert sind, stehen jetzt vor einer schwierigen Aufgabe: sie müssen versuchen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das "Human Genome Project" ein in seiner Art einmaliger und überwältigender Erfolg war - und dennoch nicht mehr als eine wesentliche Grundlage zur Lösung der nun anstehenden schwierigeren Probleme.

Ein Unbehagen will jedoch nicht weichen. In einer Zeit, in der nichts größere Überzeugungskraft zu haben scheint als "Authentizität", wird man wiederum Scharen von Wissenschaftlern mit Pokerface erleben, die Metaphern in die Welt setzen, von denen sie nur zu genau wissen, dass sie bestenfalls irreführend sind. Man wird uns wieder versichern, dass wir auf dem neuen Weg noch näher an das heran kommen werden, was im "Geist Gottes" vor sich geht, wir werden das "Buch des Lebens" nicht nur buchstabieren, sondern sogar "lesen" lernen. Bill Clinton, 2001, im Originalton: "Wir lernen die Sprache, in der Gott das Leben schuf, und vergrößern dabei die Ehrfurcht vor seiner Komplexität und Schönheit und das Staunen über Gottes göttlichstes und heiligstes Geschenk."

Auch wenn die Kommentatoren jetzt nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass es viel Zeit kosten wird, bis man die Sequenzdaten in medizinisch-klinische Fortschritte verwandelt hat, wird man weiterhin schnelle klinische Fortschritte in Aussicht stellen - und was die nächsten Etappen betrifft, sogar wahrscheinlich mit größerer Berechtigung als bisher.

Philip Ball, renommierter "Nature"- Redakteur mit Unbehagen an grandiosen Metaphern, merkt in einer Würdigung des großen Erfolgs

des "Human Genome Projects" nur sarkastisch an: "Lasst uns nur nicht vergessen, dass die meisten Leute

in der (entwickelten) Welt heute

an Krankheiten sterben, die leicht behandelbar oder vermeidbar sind: Rauchen, Alkohol, schlechte Ernährung und Bewegungsmangel. Um damit fertig zu werden, braucht man 'das Buch des Lebens' nicht."

Literatur:

International Human Genome Sequencing Consortium: Finishing the euchromatic sequence of the human genome.

"Nature" 431 (21. Oktober 2004), 931 - 945.

Freitag, 05. November 2004

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