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Denken, Wachen, Träumen

Warum es gut ist, ein Problem zu überschlafen
Von Peter Markl

Wer sich einen Eindruck vom Fortgang der Naturwissenschaften verschaffen will, kann das leicht mit einem amüsanten Versuch tun: Er muss dazu nur eines der Bücher zur Hand nehmen, in denen waghalsige Autoren gelegentlich den Versuch unternehmen, einen resümierenden Blick auf den Stand der Naturwissenschaften zu werfen. John Horgan, lange Jahre wissenschaftlicher Redakteur beim "Scientific American" und damit sicher ein kompetenter Zeitzeuge, hat 1996 in den USA ein Buch veröffentlicht, in dem er nichts Geringeres ankündigte als das "Ende des wissenschaftlichen Zeitalters".

Unter den Wissenschaften, deren Ende er ganz entschieden kommen sah, waren auch die Neurowissenschaften. Heute, acht Jahre später, ist nur zu offensichtlich, dass die Neurowissenschaften mitten in einem ungeheuren Aufbruch sind, der neues Licht auch auf Gebiete wirft, welche allein der Philosophie vorbehalten zu sein schienen. Wie verwirrend die heute sogar in den Feuilletons von Qualitätszeitungen geführten Diskussionen um die "Neurophysiologie der Willensfreiheit" auch immer sein mögen - sie sind die Geburtswehen der Veränderungen im Menschenbild, die bereits unterwegs sind und in den nächsten zwei Jahrzehnten zu einem neuen Bild vom Menschen führen werden.

Theorie und Experiment

Manchmal sind es Fortschritte in der Theorie, welche eine neue Dynamik in den Wissenschaften auslösen. Doch die faszinierendsten Theorien bleiben pures Gedankenspiel, wenn man sie nicht in Experimenten an der Realität prüfen kann. Dann kann eine längere Periode eintreten, in der es mehrere konkurrierende Theorien zur Problemlösung gibt, die alle - zumindest nach dem aktuellen Stand der Möglichkeiten - experimentell nicht prüfbar sind, sodass es nicht möglich ist, unter ihnen diejenigen aufzuspüren, die falsch sind.

(In der Physik ist die Proliferation der verschiedenen "String"-Theorien zur Erklärung der grundlegenden Eigenschaften aller Materie ein nicht besonders gewinnendes Beispiel dafür: Solange es keine überzeugenden Möglichkeiten gibt, sie experimentell zu prüfen, bleiben sie Metaphysik, die durch schwierige Mathematik schwer zugänglich gemacht wird.)

In den Neurowissenschaften hat sich die Problemsituation im letzten Jahrzehnt jedoch dramatisch geändert - vor allem aufgrund der neuen Techniken zur experimentellen Prüfung neurophysiologischer Theorien mit Hilfe der funktionellen Kernresonanz-Tomographie und Positronen-Emissions-Tomographie, die die älteren und zum Teil mittlerweile perfektionierten Untersuchungstechniken ergänzen.

Jetzt sind es zunehmend benachbarte naturwissenschaftliche Wissensgebiete, in denen es die neuen Untersuchungstechniken möglich machen, bisher experimentell unzugängliches Terrain zu erobern. Der Sog der neuen Neurophysiologie geht aber auch darüber hinaus - bis hin zu einer neuen Diskussion über psychoanalytische Theorien bezüglich mentaler Prozesse.

In dem oben erwähnten Sinn dominiert "Metaphysisches" schließlich heute noch in vielen Vorstellungen über den Zusammenhang zwischen dem, was man direkt erlebt, und den neurophysiologischen Prozessen, die diesem mentalen Erleben zugrunde liegen.

Es gehört zu den verblüffenden Tatsachen der heutigen Wissenschafts-Situation, dass man selbst auf so einfache Fragen wie "Warum schläft man überhaupt? Warum träumen wir? Wie hat sich der Schlaf im Lauf der Evolution entwickelt?" zwar mehrere konkurrierende Vermutungen hat, die alle plausibel sind, die sich aber bisher nur ungenügend experimentell prüfen ließen.

Heute aber spricht vieles dafür, dass der Einsatz des Arsenals aller neuen Untersuchungstechniken Versprechen erfüllen wird, deren Einlösung man schon einmal nach einem Durchbruch in den experimentellen Möglichkeiten erhofft hatte.

Bereits 1953 hat Eugen Arinsky im Schlaflaboratorium von Nathaniel Kleitman in Chicago entdeckt, dass Schlafen nicht einfach eine Phase verminderter Aktivität der Neuronen in den neuronalen Schaltkreisen das Hirns ist, sondern ein komplexer Prozess, bei dem ruhigere Phasen der Hirnaktivität (im so genannten non-REM-Schlaf) immer wieder von Phasen unterbrochen werden, in denen die Augen heftige Bewegungen ausführen. Die Aktivität der Neuronen im Gehirn während dieses so genannten REM-Schlafs (von rapid eye movement) ist vergleichbar der neuronalen Aktivität von vollbewussten, wachen Menschen. Man glaubte damals, am eigentlichen Beginn der modernen Schlafforschung zu stehen - einer Periode schnellen wissenschaftlichen Fortschritts, wie er in der Genetik nach 1953 auf die Ermittlung der Struktur der DNA folgte.

Als man aber 2003 ein halbes Jahrhundert moderner Schlafforschung resümierte, gab es eine große Ernüchterung. Nach 48 Jahren, welche er der Erforschung des REM-Schlafs gewidmet hatte, konstatierte Michel Jouvet von der Universität Lyon, einem der Zentren der Schlafforschung: "REM-Schlaf hat eine biologische Funktion, aber wir waren nicht imstande, sie zu erklären. Und ich glaube auch nicht, dass es in den nächsten 50 Jahren eine Erklärung geben wird."

Warum schlafen wir?

Vielleicht war Michel Jouvet zu pessimistisch. Eine jüngst in der englischen "Nature" veröffentlichte Arbeit enthält eine kritische Prüfung zweier Vermutungen über die biologische Funktion des Schlafens.

Die erste lautet: Es ist energetisch aufwendig, wach zu sein. Das Hirn kann nur dann funktionieren, wenn bestimmte physiologische Rahmenbedingungen eingehalten werden, die es erlauben, ein konstantes Spektrum von inneren Zuständen aufrecht zu halten. Indiz für die Abweichung von diesen physiologischen Randbedingungen sind die während des non-REM- Schlafs im Elektroenzephalogramm auftretenden langsamen Hirnwellen: sie werden umso intensiver, je größer das Schlafdefizit einer Person ist. Die meisten Experten vermuten daher, dass der Schlaf dazu dient, dem Hirn Zeit zu geben, sich wieder zu erholen. Ohne Störung durch von außen eintreffende Signale, die verarbeitet werden müssten, könnten im non-REM-Schlaf die Material- und Energiespeicher wieder aufgefüllt werden.

In den letzten Jahren ist man jedoch auch einer weiteren, überlebenswichtigen Funktion des Schlafs auf der Spur. Die meisten Experten glauben heute, dass Schlafen auch bei der Informationsverarbeitung eine Funktion hat: Im Gehirn während des Wachens gespeicherte Information wird im Schlaf unter Ausschaltung jedes neuen Inputs aktiv erneuert und reorganisiert. Schlaf spielt dieser Vermutung nach eine Schlüsselrolle bei der Verschaltung der Neuronen zu neuronalen Schaltkreisen: durch Modifikation der Synapsen werden sinnvolle Verschaltungen verstärkt und nur zufällig zustande gekommene synaptische Verbindungen wieder eliminiert.

Informationsverarbeitung

Allan Hobson, ein führender Schlafexperte von der Harvard Universität, meint: "Während des Wachzustands gewinnen wir Information und verwerten sie; wir lernen und handeln. Während des REM-Schlafs vertiefen wir das Gelernte, aber wir handeln nicht. Stattdessen rufen wir Erinnerungen ab und setzen sie in unseren Träumen einfallsreich in Szene. Ich glaube, dass diese fiktiven Handlungen für das Gehirn genau so nützlich sein können, wie es für einen Turner oder Turmspringer zur Vorbereitung auf einen Wettkampf hilfreich ist, wenn er sich den perfekten Bewegungsablauf im Geiste vorstellt."

Beide Vermutungen über die Funktion des Schlafens machen eine Vorhersage möglich. Wenn man jemanden vor das Problem stellt, eine kognitive Aufgabe zu erlernen, die er nur mit Hilfe der neuronalen Schaltkreise in einer ganz bestimmten Region des Hirns lösen kann, dann sollten beim nächsten non-REM-Schlaf die langsamen Hirnwellen in dieser Region besonders stark auftreten.

Wenn dabei tatsächlich auch das Muster der Verkabelung der neuronalen Schaltkreise verändert wird, dann ist eine weitere Vorhersage möglich: der Schlaf sollte dazu führen, dass er die Aufgabe beim nächsten Versuch deutlich besser ausführen kann.

Genau das hat ein Team um Giulio Tononi jetzt zeigen können. Sie baten eine Reihe von Versuchspersonen, einen komplexen Bewegungsablauf, zu dem Hand und Augen koordiniert werden mussten, zu erlernen - etwas, das ohne Aktivierung neuronaler Schaltkreise in einer ganz bestimmten Region der Hirnrinde nicht zu schaffen ist. Man bat die Versuchspersonen dann, eine Kappe aufzusetzen, die mit 256 Elektroden die an einem bestimmten Ort auftretenden elektrischen Potentiale abtastet. Überdies mussten sie in einem Magnetresonanz-Scanner schlafen, sodass man ihre Hirnaktivität während des Schlafs auch mit einer zweiten Methode lokalisieren konnte. Was man gemessen hat, entsprach den Erwartungen: Die langsamen Hirnwellen traten während des non-REM-Schlafs nur in den Hirnregionen auf, die in die Lernprozesse verwickelt waren. Und der Schlaf hat den Versuchspersonen durchwegs gut getan: sie schnitten bei der Erfüllung ihrer Aufgabe nach dem Schlaf besser ab als vorher.

So überzeugend dieses Resultat auch demonstriert, dass während des Schlafens das regionale Verkabelungsmuster der Neuronen überholt wird, so bleibt doch die Frage offen, ob es wirklich diese Funktion ist, die zur Evolution des Schlafens geführt hat. Man kann sich schließlich auch vorstellen, dass derartige regionale Neuverkabelungen ausgelöst werden könnten, ohne dass Hirn und Körper zur Gänze in Schlaf eintauchen - ein hilfloser Zustand, in dem jedes Tier schließlich einem lebensgefährlichen Risiko ausgesetzt ist. Ist es vielleicht doch primär die Notwendigkeit, die Energievorräte und den Stoffwechsel im Hirn wieder in den Normalbereich zu bringen, der zur Evolution des Schlafens geführt hat? Ist die Stärkung sinnreicher synaptischer Verbindungen in den ersten Evolutionsphasen vielleicht nur ein Nebeneffekt gewesen, der sich erst später zu einem Überlebensvorteil ausgewachsen hat?

Präzise Modelle

Die neuen Techniken bringen so viel Licht in den Zusammenhang zwischen Denken, Wachen und Träumen, dass Allan Hobson, einer der großen alten Männer der Schlafforschung, so optimistisch ist, wie selten vorher. Er schrieb dazu jüngst in "Nature": "Jetzt, wo wir diese zwar vorläufigen, aber doch präzisen Modelle dafür haben, wie normale und abnormale Veränderungen in Hirnzuständen das Bewusstsein verändern, können wir Vermutungen über den Zusammenhang zwischen Hirn und Geist gezielter prüfen. Wir können zum Beispiel die Aktivierung bestimmter Gehirnregionen bei jenen Tieren studieren, von denen wir so viel Information über die Prozesse auf zellulärem und molekularem Niveau erhalten haben. Wir können den Gehirnzustand bei diesen Tieren durch Pharmaka auch experimentell verändern und dann prüfen, ob man vorhergesagte regionale neuronale Aktivierungsmuster auch wirklich vorhanden sind. Wir können bei Menschen verhaltensmodifizierende Techniken oder Pharmaka dazu einsetzen, Bewusstseinszustände zu verändern und unsere Vorhersagen über die zu erwartende Aktivierung bestimmter Gehirnregionen in Realzeit mit funktionaler Kernresonanzspektroskopie verfolgen."

Neurologie und Psychoanalyse

Das zweite Gebiet, auf dem eine Gegenüberstellung fruchtbar werden könnte, ist die Konfrontation verschiedener psychoanalytischer Theorien mit Theorien der heutigen Neurowissenschaften und kognitiven Wissenschaften. Eric R. Kandel, aus Wien stammender amerikanischer Nobelpreisträger für Medizin, hat vor fünf Jahren ein leidenschaftliches Plädoyer für diese Konfrontation gehalten. Es klang wie ein Echo auf die Meinung, die Freud selbst 1920 in seinem Buch "Jenseits des Lustprinzips" geäußert hatte: er hatte gehofft, alle Mängel der Psychoanalyse würden verschwinden, wenn man in der Lage wäre, die "psychologischen Begriffe durch physiologische oder chemische Begriffe zu ersetzen".

Eric Kandel, spezialisiert auf die Neurophysiologie des Gedächtnisses, und erst Neurophysiologe geworden, nachdem er eine Ausbildung in Psychoanalyse abgeschlossen hatte, hält die Psychoanalyse nach wie vor für die "kohärenteste und intellektuell befriedigendste Theorie des Geistes", aber er konstatiert, dass sich die Psychoanalyse in einer Phase der Stagnation befindet: "Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts revolutionierte die Psychoanalyse unser Verständnis des geistigen Lebens. Sie lieferte eine bemerkenswerte Menge von neuen Einsichten in unbewusste mentale Prozesse, psychischen Determinismus, infantile Sexualität und - vielleicht am wichtigsten - die Irrationalität menschlicher Motive. Im Gegensatz dazu waren die Errungenschaften der Psychoanalyse während der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts weniger eindrucksvoll. Am wichtigsten und am bedeutendsten aber ist, dass sich die Psychoanalyse wissenschaftlich nicht weiterentwickelt hat. Sie hat im Besonderen keine objektiven Methoden dazu entwickelt, die aufregenden Ideen, die sie selbst früher entwickelt hatte, zu testen."

Kandel vermutet, dass die Biologie in diesem Jahrhundert einige Fragen im Zusammenhang von Gedächtnis und Motivation durch die Erhellung der biologischen Basis nicht bewusster mentaler Prozesse klären wird. Damit wird sie auch zum besseren Verständnis der therapeutischen Effekte der Psychoanalyse beitragen. Es wird keine schnellen Erfolge geben, aber Beiträge, die "umso reicher und sinnvoller sein werden, je weiter sie von synergistischen Bemühen von Biologie und Psychoanalyse geprägt sind".

Literatur: Reto Huber et al: Local Sleep and learning. Nature 430, 1. Juli 2004. S. 78 - 81;

Ilana S. Hairstone, Robert T. Knight: Sleep on it. Ebenda, S. 27 - 28.

Alan Hobson: A model for madness? Ebenda, S. 21.

Eric R. Kandel: Biology and the Future of Psychoanalysis: A new Intellectual Framework for Psychiatry Revisited. American Journal of Psychiatry 156 (4) April 1999, Seite 505-524.

Freitag, 16. Juli 2004

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