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Brauchen wir eine "Neuroethik"?

Die Möglichkeiten der Gehirnforschung werfen ernste Fragen auf
Von Peter Markl

Wenn heute in der Öffentlichkeit die ethischen und juridischen Fragen diskutiert werden, die von neuen Resultaten der Naturwissenschaften aufgeworfen werden, dann geht es fast ausschließlich um Genetik, Genanalyse, Gendiagnose, gentechnisch modifizierte Organismen, Gentherapie und molekulare Zellbiologie. Die Anwendungen der neuen Biologie haben den Bereich des Machbaren so dramatisch erweitert, dass manche Kritiker die "Würde des Menschen" und damit den Kern dessen gefährdet sehen, was in unserer Kultur als unantastbarer Wert gilt.

Durch diese eingeschränkte Sichtweise verschwindet aus dem Blick, dass es noch ein zweites schnell wachsendes Forschungsgebiet gibt, dessen Resultate in ihrer Anwendung die gleichen ethischen und juridischen Probleme aufwerfen, von denen manche wahrscheinlich früher akut werden als jene in den utopischen Szenarien der Genetiker.

Als die Basensequenz des menschlichen Genoms (fast) vollständig geklärt worden war, geisterte der Slogan von dem nun durchsichtig gewordenen, "gläsernen" Menschen durch die Schlagzeilen - obwohl es offensichtlich war, dass der Weg vom DNA-Molekül zum ganzen Menschen denkbar weit ist, selbst wenn man die Struktur der Moleküle kennt und hoffen darf, die in ihr verschlüsselte Information schnell lesen zu lernen.

Zur selben Zeit aber haben Physiker, Chemiker, Computerspezialisten und Neurologen neue bildgebende Verfahren entwickelt, welche den Slogan vom "gläsernen" Menschen der Verwirklichung viel näher bringen. Ihre neuen Maschinen liefern Abbildungen dessen, was im Kopf eines Menschen vor sich geht.

Die Netzwerke der Neuronen

Die Aktivität des Gehirns geschieht in sich schnell verändernden Netzwerken von Neuronen, die - je nach Funktion - an bestimmten Orten im Hirn lokalisiert sind. Techniken wie die funktionale Kernresonanzspektroskopie (fMRI = engl. "functional Magnetic Resonance Imaging") oder die Positronen-Emissionstomographie (PET) liefern Bilder dieser Neuronen-Netzwerke in Aktion.

Es ist zwar nicht möglich, zu verfolgen, wie sich die Aktivität einzelner Neuronen verändert, die während der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe in immer neue Netzwerke eingebunden werden, aber die jüngsten Diagnosemaschinen erlauben doch die Messung der Aktivität großer Neuronengruppen, die sich mit einer Ortsauflösung von heute meist etwa 5 mm bei PET und etwa 2 mm bei der fMRI lokalisieren lassen. (Ein Kubikmillimeter der Gehirnrinde enthält an die 100.000 Neuronen.) Man sieht, welche Neuronen während der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe aktiviert sind und wo die Neuronengruppen liegen.

Die Interpretation der "Abbildungen" ist allerdings eine schwierige Aufgabe, da das Gehirn ja nie in Ruhe ist, sondern immer seine Grundfunktionen zu erfüllen hat: Man wird daher auf den Bildschirmen all jene Neuronen-Netzwerke aufleuchten sehen, welche zum Beispiel die Augenbewegungen steuern, den Glukosegehalt des Blutes überwachen oder die Muskeln so dirigieren, dass man aufrecht stehen kann. Man muss daher von der Aktivität, die man während der Erfüllung einer Aufgabe beobachtet, die "Hintergrundaktivität" abziehen, welche auch zu beobachten ist, wenn das Gehirn gerade nichts Besonderes vorhat. Aber selbst was dann an Aktivität noch sichtbar ist, bleibt, isoliert von anderen Informationen, schwierig zu deuten. Denn wenn eine Gehirnregion während der Erfüllung einer kognitiven Aufgabe erhöhte Aktivität zeigt, ist zwar sicher, dass diese Region bei der Erfüllung einer Aufgabe eine Rolle hat, nicht aber, dass diese Region auf diese Aufgabe spezialisiert ist. Durch die Korrelation einer aktiven Region mit dem, was man über die Funktion der Neuronen dieser Region aus anderen Quellen weiß - etwa aus den Ausfallerscheinungen, die Patienten zeigen, deren Hirn in dieser Region geschädigt ist -, versteht man jedoch auch die funktionale Organisation des Gehirns immer genauer.

Langsame Maschinen

Die neuen Diagnosegeräte - wie fMRI-Scanner - haben allerdings gravierende Nachteile, auch rein praktischer Natur: Menschen mit einem Hang zur Klaustrophobie, die, mit fixiertem Kopf auf einem Schlitten liegend in die extrem lauten Scanner eingefahren wurden, haben schwer aushaltbare Minuten vor sich. Denn es ist der Hauptnachteil dieser Geräte, dass sie langsam sind und Veränderungen in den neuronalen Schaltkreisen, die in weniger als etwa zwei Sekunden ablaufen, nicht getrennt voneinander sichtbar machen können. Die bei der Aktivität des Gehirns entstehenden Signale, die man bei einer EEG-Messung an der Oberfläche des Schädels mit Elektroden abtastet, zeigen noch Veränderungen der Hirnaktivität, die in Tausendstel Sekunden ablaufen, aber die abgeleiteten Elektroenzephalogramme sind das Resultat der Neuronenaktivität, gemittelt über einer Fläche, die hundert bis tausend Mal größer ist als etwa bei der funktionellen Kernspinresonanz-Tomographie. Die aktiven Neuronen sind daher viel schlechter zu lokalisieren.

Trotz dieser Einschränkungen aber bleibt: In einem gewissen Sinn und noch mit großen Einschränkungen, machen es die komplexen Diagnosegeräte möglich, Gedanken im Kopf anderer Menschen lesen zu lernen. Das hat natürlich zu Spekulationen darüber geführt, ob es nicht schon demnächst möglich werden würde, diese Geräte zu Lügendetektoren weiter zu entwickeln, die endlich das liefern, was die notorisch unverlässlichen Lügendetektoren alter Art nie zu liefern vermochten.

Der erste, der im Zusammenhang mit fMRI-Scannern darüber spekuliert zu haben scheint, war David Jones, der wegen seiner informierten Fantasie höchst respektierte Kolumnist der Zeitschrift "Nature". Er schrieb 1996: "Ein moderner Kernresonanz-Hirnscanner sollte eigentlich einen perfekten Lügendetektor abgeben können: Wenn jemand die Wahrheit erzählt, sollten im Scanner nur die Hirnregionen aufleuchten, in denen die neuronalen Korrelationen der Wahrheit zu finden sind. Lügen dagegen sollten zwei Regionen aktivieren: die Region, in der die kaschierende Lüge deponiert ist und die neuronalen Schaltkreise, welche die verdeckte Wahrheit repräsentieren.

So etwas Ähnliches hat man fünf Jahre später tatsächlich gefunden: Daniel Langleben und seine Kollegen an der Universität von Pennsylvania haben geduldige Versuchspersonen gebeten, an einem Frage-und-Antwort-Spiel teilzunehmen, bei dem sie Fragen in einem ersten Teil der Versuchsserie wahrheitsgetreu beantworteten, während sie in einem zweiten Teil auf Fragen mit Lügen reagierten. Es stellte sich heraus, dass die Hirnregionen, die aufgeleuchtet hatten, als sie bei der Wahrheit blieben, auch aktiv waren, als sie logen. Darüber hinaus aber gab es Areale, die während des Lügens besonders hohe Aktivität zeigten und diese besonders aktiven Areale lagen in Gebieten, von denen man weiß, dass sie immer dann besonders aktiv sind, wenn das Hirn dabei ist, eine von mehreren Reaktionen zu unterdrücken, um zu einer Entscheidung zwischen mehreren möglichen Reaktionen zu kommen. Das alles lässt vermuten, dass das Gehirn ursprünglich auf Wahrheit programmiert ist und die Lüge nur in einem Prozess entsteht, der auf der Wahrheit aufbaut."

Mögliches und Unmögliches

Solche Resultate sind allerdings bisher nur mit extrem kooperationsbereiten Versuchspersonen zu erreichen gewesen. Für die braucht man aber ohnehin keinen Lügendetektor. Deshalb behauptet auch keiner, der bisher solche Experimente angestellt hat, dass vergleichbare Resultate auch mit einem gegnerischen Zeugen erzielbar sein würden. Das bisher Erreichte - so Daniel Langleben - liefert noch nicht einmal den Beweis dafür, dass es im Prinzip gehen könnte. Dazu müsste man die Signale wesentlich schneller erfassen können, als es die heutigen Maschinen können. Dazu wiederum wären um Größenordnungen stärkere Magnetfelder notwendig, und die müssten von Magneten kommen, die groß genug für Menschen wären. Doch selbst wenn es sie gäbe, würde man ihren Einsatz für Menschen aber aus Sicherheitsgründen verbieten.

Noch beruhigender ist das kühle Urteil von Marcus E. Raichle, fMRI-Spezialist von der Washington University: "Ich kann ihnen versichern - es wird mit 20 Tesla-Maschinen keine Studien an Menschen geben. Sie würden das Hirn aufheizen und damit genau die Aktivitätsstrukturen ändern, die man in unveränderter Form studieren will."

Anderes ist aber schon heute möglich. Die neuen bildgebenden Verfahren ermöglichen es, auf nicht invasive Art die kognitive Entwicklung von Menschen in größerem Detail zu verfolgen als je vorher. Sie liefern während der Entwicklung von Psychopharmaka Informationen über deren Wirkungsmechanismus, und sie versprechen, die Differentialdiagnose von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen zu verbessern.

Die möglichen klinischen Anwendungen der durch fMRI zugänglichen Informationen sind außerordentlich groß und manche der Möglichkeiten haben die klinische Praxis auch schon erreicht: die für die Planung möglichst schonender Operationen notwendige genaue Lokalisation von Gehirnschäden oder das Verfolgen von Veränderungen in der Funktionsfähigkeit betroffener Gehirnregionen während einer Tumortherapie und der anschließenden Genesung.

Dazu nur ein raffinierteres Beispiel aus der jüngsten Zeit: Minod Menon und seine Kollegen von der Stanford Universität haben untersucht, welche neuronalen Prozesse im Hirn von Versuchspersonen ablaufen, während sie sich einem schon klassisch gewordenen psychologischen Test unterziehen: dem Stroop-Test, bei dem man

die Versuchsperson bittet, die Farbe zu nennen, in welcher der Name einer Farbe gedruckt ist, wobei das Wort manchmal in der Farbe aufscheint, für die es steht, manchmal nicht. Da Lesen eine viel automatisiertere kognitive Tätigkeit ist als das Benennen von Farben, widersprechen die anfänglichen Reaktionen des Gehirns einander, wenn es das Wort "Schwarz" in roter Farbe geschrieben sieht und jetzt erst eine der anfänglichen Reaktionen unterdrücken muss, um mit "Rot" richtig zu reagieren.

Patienten, deren Frontallappen des Gehirns geschädigt sind, irren sich bei dieser kognitiven Aufgabe öfter als gesunde Menschen. Die Treffsicherheit entwickelt sich aber generell erst im Lauf des Lebens: Die während des Stroop-Tests erhaltenen fMRI-Scans von Kindern und Jugendlichen unterscheiden sich von denjenigen der Erwachsenen. Wenn man den normalen Verlauf des Reifungsprozesses kennt, wird man mit fMRI-Tests Verzögerungen in der Entwicklung erkennen können und versuchen, sie durch gezieltes Trainieren der kognitiven Fähigkeiten zu verbessern.

Wie alle neuen Technologien haben jedoch die neuen bildgebenden Verfahren ambivalenten Charakter - sie können missbraucht werden, wie alle anderen Technologien auch. Gregg Siegen von der Universität Pittsburgh hat entdeckt, dass das Hirn eines Depressiven beim Lesen einer Liste mit Worten deprimierender Bedeutung anders reagiert als ein normales Hirn: in beiden Fällen wird die Amygdala aktiviert, eine Hirnregion, von der bekannt ist, dass sie mit der Erzeugung von Emotionen zu tun hat. Bei Personen, die keine depressiven Phasen durchgemacht haben, klingt die Aktivität der Amygdala nach etwa 10 Sekunden wieder ab. Bei Depressiven dauert sie bis zu 25 Sekunden lang - vielleicht, weil sie von Deprimierendem schwerer loskommen und immer wieder daran denken.

Grenzen des Erlaubten

Wer Depressionen hat und sie, etwa bei einer Stellenbewerbung, verschweigen will, hat wenig Chancen, sie zu verleugnen, wenn man ihn zwingen kann, sich einem solchen fMRI-Test zu unterwerfen.

Die Problemsituation ist daher ganz analog der Situation bei der Gendiagnostik: Die neuen Verfahren werden es bald möglich machen, das Hirn von Menschen nach Indizien für mentale Erkrankungen zu untersuchen. Wie bei den gendiagnostischen Verfahren ist es eine brisante Frage, wer gezwungen werden darf, sich einer solchen Untersuchung zu unterziehen und wie mit der verfügbar gemachten Information umzugehen ist: soll sie Arbeitgebern oder Versicherern zugänglich gemacht werden?

Am unmittelbarsten relevant sind viele der neuen diagnostischen Resultate aber vielleicht für die Frage nach der juridischen Verantwortungsfähigkeit von straffällig gewordenen Menschen, bei denen man mit den neuen, viel objektiveren Diagnosemethoden kognitive Defekte diagnostiziert hat - etwa von Menschen, die nicht in der Lage sind, die Folgen ihrer Handlungen abzuschätzen oder Menschen, deren Handlungen aus hirnphysiologischen Gründen nicht von Gefühlen begleitet werden.

Solche Defekte können von ganz spezifischer Art sein: Antonio Damasio und seine Kollegen haben etwa gezeigt, dass eine ganz bestimmte Schädigung in einer Region des Frontallappens die Fähigkeit zu Emotionen einschränkt, wenn der emotional besetzte Reiz sozialer Natur ist und die angemessene Reaktion eine soziale Emotion wäre: Verlegenheit, Schuldgefühl oder Verzweiflung. Solche Personen zeigen in bestimmten Situationen "asoziales" Verhalten, ohne dass es leicht zu entscheiden ist, inwieweit man sie dafür auch juridisch verantwortlich machen darf.

Es wird sicher bald notwendig sein, die Liste der zu berücksichtigenden neurologischen Diagnosen weiter zu fassen als bisher. Wer sich die Diskussion um die Definition des menschlichen Lebensbeginns oder jene um den Zeitpunkts des Todes in Erinnerung ruft, wird dafür plädieren, auch diese interdisziplinären Themen wesentlich eingehender zu diskutieren als bisher. Ob man dafür eine eigene akademische Disziplin - etwa ein Fach "Neuroethik" - institutionalisieren muss, ist eine andere (und sekundäre) Frage.

Freitag, 07. November 2003

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