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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Ulrich Kattmann erklärt die faszinierende Welt der Insekten

Die kleinen Überlebenskünstler

Von Peter Markl

Eine wirkliche Neuheit war es nicht - in der hochsommerlichen Nachrichtenflaute hatten Insekten immer schon ihren festen Platz. Heuer ist allerdings ein besonderes Jahr: die Trockenheit hat die Brutplätze der Gelsen dermaßen dezimiert, dass die Dämmerung selbst in der Nähe der Auen erträglich geworden ist. Gut getan hat die extreme Trockenheit den anderen Insekten: prachtvolle Heuschrecken gaben Gastspiele in Dachgärten und man sah wieder Schmetterlinge, von denen man gedacht hatte, sie seien aus den Stadtzentren fast ganz verschwunden.

Am wenigsten zu übersehen aber war im August die Dominanz der Wespen. Sie wird im September - dem klassischen Monat der Wespen - nur langsam abklingen. So abträglich eine Wespenplage dem Image der Insekten auch werden kann, so hat sie doch auch ihr Gutes - das so oft leichtfertig beschworene Eingebettetsein der Menschen in das natürliche Netz von wechselwirkenden Organismen wird da lästig und gelegentlich sogar schmerzhaft spürbar.

Nicht zufällig sind es gerade die Wespen, die imstande sind, selbst in den gottesfürchtigsten Menschen ernsthafte Zweifel zu erwecken. Vom Mittelalter bis in die Aufklärung diskutierte man die Frage, ob man angesichts der Grausamkeit der Schlupfwespen wirklich sagen könne, dass die Natur zum Lob des Schöpfers gereiche. Wie sieht ein Schöpfer aus, der einen Organismus geplant hat, der - wie eine Schlupfwespe - ein anderes Lebewesen bei lebendigem Leib von innen auffrisst?

Für Charles Darwin war das ein weiteres Faktum, das seinen Glauben unterminierte: "Ich kann mich nicht dazu bringen, zu glauben, dass ein gütiger und allmächtiger Gott die Ichmonidae so geplant hat, dass sie sich von den lebenden Körpern der Raupen ernähren."

Sind Wespen grausam?

Dieses Gegengift gegen eine sentimentale Glorifizierung der Natur ist auch heute noch wirksam. Richard Dawkins hat dafür in seinem Essay "Gottes Nutzenfunktion" ein weiteres Bespiel angeführt: das Verhalten einer Verwandten der Schlupfwespe, nämlich der Grabwespe. Die weibliche Grabwespe legt ihre Eier nicht nur in eine Raupe (oder einen Schmetterling oder eine Biene), so dass sich die Larve der Grabwespe davon ernähren kann. Wie französische Forscher gezeigt haben, macht sie das sogar auf besonders infame Weise: sie sticht ihren Stachel sehr sorgfältig in jedes einzelne Ganglion des Zentralnervensystems der Beute, als ob sie die Beute zwar lähmen, aber nicht töten wollte. Der Trick hat einen Vorteil: das Fleisch bleibt frisch. Man weiß nicht, ob die Stiche eine allgemeine Lähmung hervorrufen, oder ob damit das Opfer - wie durch Curare - nur bewegungsunfähig gemacht wird. Falls das der Fall ist, könnte die Beute zwar noch der Tatsache gewahr werden, dass sie von innen bei lebendigem Leib aufgefressen wird, dagegen aber nichts tun, weil sie keinen einzigen Muskel bewegen kann.

Richard Dawkins, der als Atheist keinen Glauben mehr zu verlieren hat, merkt dazu trocken an: "Das klingt grausam, aber die Natur ist nicht grausam, nur gnadenlos indifferent. Das zu begreifen ist für Menschen eine der schwersten Lektionen. Wir können nicht zugeben, dass Dinge weder gut noch böse sein können, weder grausam noch gütig, sondern einfach gefühllos - indifferent gegenüber allem Leiden, ohne jeden Sinn."

Erstaunlicherweise gibt es jedoch auch Atheisten, welche durch das Studium von Wespen zu Gläubigen werden. Diesen Weg findet man jedoch nur über einen schlichten Irrtum: Man muss von der Raffinesse einer komplexen Anpassung derart beeindruckt sein, dass man sich nicht vorstellen kann, sie könnte das Resultat vieler kleiner Schritte in einem Prozess nicht zielgerichteter Mutation und darauf folgender Selektion sein. Man unterstellt, sie müsse als Ganzes geplant sein, weil jede imperfekte Vorstufe sonst völlig nutzlos sei. Richard Dawkins zitiert den Brief eines Geistlichen, der Atheist war, bevor er von der Reproduktionsstrategie einer Grabwespe las.

Viele Millionen Jahre Ko-Evolution von Blütenpflanzen und Insekten haben zu wechselseitigen Anpassungen geführt, die verblüffend sind: Die Blüten von Ragwurzarten - einheimischer Formen von Orchideen - sehen den Weibchen mancher Wespen so ähnlich, dass man sie verwechseln könnte. Die geilen Männchen tun das auch: sie versuchen, die Blüte zu begatten, wobei an ihrer Stirne etwas von den Pollenpaketen der Pflanze hängen bleibt. Besonders raffiniert: Man vermutet sogar, dass bei manchen Arten der Duft der Blüten den Sexuallockstoffen der Wespenweibchen ähnlich ist. Wie übertölpelte Drogenkuriere transportieren die Männchen dann die Pollen zur nächsten Blüte.

An den Insekten kann man das Staunen über die Kreativität der Evolution schneller lernen als an irgendeiner anderen Gruppe. Sie hat hier zu einer Artenvielfalt geführt, deren Umfang erst sehr vage sichtbar wird. Niemand bezweifelt, dass die meisten der heute lebenden Insektenarten noch unbekannt sind. Man hat mit verschiedenen Methoden versucht, die Zahl der Insektenarten abzuschätzen, aber die Unsicherheit ist gewaltig: die Schätzungen streuen je nach Methode weit. Es könnten 5 Millionen sein, oder 10 Millionen oder sogar 30 Millionen. (Die letzte Zahl ist das Resultat einer eher abenteuerlichen Abschätzung: Da man auf einzelnen tropischen Bäumen bis zu 600 Insektenarten gefunden hat, die nur auf dieser einen Baumart leben, es aber andererseits in tropischen Wäldern an die 50.000 Baumarten gibt, könnten darauf hochgerechnet 30 Millionen unbekannte Insektenarten leben.) Bisher hat man etwa 1,5 Millionen Tierarten gezählt, von denen etwa eine Million Insekten sind, wovon nicht weniger als 350.000 Käfer sind, wovon etwa 7.000 auch in Österreich zu finden sein könnten.

(Als eine freundliche alte Dame nach einem Vortrag von dem großen englischen Evolutionstheoretiker J. B. S. Haldane wissen wollte, ob man aus der Evolution nicht doch etwas über den Schöpfer erschließen könnte, wollte sich Haldane auf die Frage zunächst nicht einlassen. Als die Dame insistierte, gestand er ihr zu, die Evolution als Ganzes könnte vielleicht ein Beleg für eine schwer verständliche Vorliebe des Schöpfers für Käfer sein.)

Die ungeheure Vielfalt des Lebendigen ist überwältigend. Das hat jedoch auch Nachteile: Die Vielfalt kann zu einer Art naiven, emotional motivierten Staunens führen, das sich auf Dauer erschöpft. Schon die Fachnomenklatur für die einzelnen Arten kann sich wie eine Barriere auswirken, welche die Freude an weiterem intellektuellen Eindringen vertreibt. Vor einiger Zeit hat man im Biologieunterricht noch versucht, während einer unvermeidlichen Eingangsphase mit einer Art "Vokabel-Lernen" darüber wegzuhelfen. Oft ist es die ästhetische Freude an der manchmal bizarren Schönheit von Insekten, welche das Interesse wach hält. Manchmal aber trifft man sogar auf die Ansicht, dass ein intellektueller Zugang zur Freude an der Natur andere mögliche Zugänge erschwert, aber das ist eine enge Sicht dessen, was die Natur bietet. Das Gegenteil ist richtig - Wissen vertieft das Staunen.

Elfen, Gaukler, Ritter

Niemand hat das besser demonstriert als Ulrich Kattmann mit seinem schmalen Band "Elfen, Gaukler & Ritter", der alle möglichen Zugänge zur Freude an der Welt der Insekten verbindet und eine einzige Verführung zum Nachdenken über ihre Vielfalt ist.

Dass er Insekten liebt, belegen die oft atemberaubend schönen Farbphotos, die Ulrich Kattmann für sein Buch gemacht hat. Das ist kein Buch zur Bestimmung von Insekten, sondern ein "Kennenlernbuch für Menschen, die kleine Tiere mögen", eine Anleitung dazu, selbst hinauszugehen und Insekten in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten.

Man zögert fast zu erwähnen, dass Kattmann Professor für Didaktik der Biologie an der Universität Oldenburg ist, denn dieses Buch hat nichts trocken Professorales oder verstörend Didaktisches an sich. Und es hat natürlich an keiner Stelle den Ehrgeiz, Vollständigkeit anzustreben oder auch nur möglichst viele Arten zu präsentieren: es geht nur darum, die wichtigeren und häufigen Formen heimischer Insekten unterscheiden zu lernen. Alle die "Elfen" mit ihren dünnhäutigen und durchsichtigen Flügeln, wie sie die eleganten Libellen haben; die "Gaukler" mit ihren undurchsichtigen Flügeln mit manchmal raffiniert arrangierten Schuppen, auf welche die atemberaubende Schönheit der Falter zurückgeht; oder eben die panzerbewehrten "Ritter", deren dicke und undurchsichtige Vorderflügel die Pracht mancher Käfer ausmachen.

Man wird in dem Buch keinen Fachjargon finden - Ausdrücke wie Elfen, Gaukler oder Ritter sind nur anschauliche Namen für große Insektengruppen, die an Hand einiger einfacher, leicht zu sehender Merkmale schon bei der ersten Begegnung unterscheidbar sind. (Fachjargon wird in einer Art Vokabelliste auf zwei Seiten am Ende des Buches nachgeliefert.)

Der Faktor Zeit

Die ungeheure Vielfalt der Insekten hat auch damit zu tun, dass ihre Evolution so viel Zeit hatte. Die ersten Insekten lebten vor etwa 400 Millionen Jahren und damit längst bevor der erste Fisch das Land aufsuchte und zum Vorfahren der Lurche wurde. Als die ersten Lurche noch schwerfällig über den Erdboden krochen, liefen Insekten schon behände über Stock und Stein. Und als die ersten Saurier ihre ersten Schritte versuchten, waren sie bereits von beflügelten Insekten umschwirrt. Insekten waren die Begleiter der ersten Menschen und sie werden diesen Erdball vermutlich auch länger bevölkern als die vermeintliche Krone der Schöpfung.

Kattmann beschreibt in drei großen Abschnitten die Lebensräume der Insekten - wo man mit Aussicht auf Erfolg die Fahndung aufnehmen sollte -, er berichtet über ihr Verhaltensrepertoire, ihre Überlebenstricks, ihre sozialen Strukturen.

Ein Kapitel ist Beispielen aus der Kulturgeschichte des Verhältnisses von Menschen und Insekten gewidmet. Dabei geht er auch auf erhellende Episoden aus der Forschung ein. Vor allem auch - und vielleicht als warnendes Beispiel gegen vorschnelle Erklärungen - auf die mittlerweile legendär gewordene, klassische Untersuchung des "Industriemelanismus" der Birkenspanner in England. Sie galt als klassisches Beispiel für eine gelungene adaptive Erklärung eines evolutionären Wandels, bis man entdeckte, dass die Erklärung doch komplizierter sein musste als die ursprünglich propagierte schlichte adaptive Geschichte. Birkenspanner sind Schmetterlinge, die in England anscheinend immer in zwei Formen vorkamen: eine Form, die so hellgefärbt ist, dass sie auf einer ebenfalls hellen Birkenrinde für die Vögel anscheinend fast unsichtbar ist, und daher sehr viel weniger gefressen wird als die anfangs nur seltene, durch eine Mutation entstandene dunkle Form, die zu auffallend war, um gegen einen hellen Hintergrund gesehen große Überlebenschancen zu haben.

Als dann die Industrialisierung in England die hellen Flechten absterben ließ und die Birken mit Ruß überzog, waren es die hellen Formen, welche den Vögeln bevorzugt zum Opfer fielen. Die Birkenspanner dunkelten nach. In manchen Gegenden Englands treten sie jetzt, nach dem Rückgang der industriellen Luftverschmutzung, wieder bevorzugt in der hellen Form auf. Das alles ist denkbar plausibel und galt auch lange als eine modellhaft befriedigende Erklärung für den Wandel des Phänotyps als Reaktion auf eine Umweltänderung. Dann aber hat man entdeckt, dass Schutz vor Fressfeinden nicht die ganze Erklärung sein kann, denn die dunklen Birkenspanner begannen schon heller zu werden, als die dunkle Form noch besser geschützt gewesen wäre. Vielleicht, so vermutet man jetzt, trat der Farbwechsel auch schon früher als Folge der sinkenden Luftverunreinigung durch Kohlendioxid auf.

Genetische Erklärungen

Es ist der Reichtum an solchen Einschüben, welcher das Buch zu einer unaufdringlichen Verführung zum Nachdenken über Probleme der modernen Biologie macht. Berichtet wird von Partnerschafts- und Sexualproblemen bei Insektenpaaren, von der sozialen Organisation der Hummeln, Bienen und Faltenwespen und - sehr überraschend - davon, dass die gefeierte Erklärung der Bienenstöcke durch die genetische Struktur der Bienen vielleicht doch nur zum Teil zutrifft, denn: "die Mehrzahl aller Hautflügler lebt einzeln, obwohl auch für sie dieselben genetischen Verwandtschaftsverhältnisse bestehen". Sind manche Gene weniger "egoistisch" als andere?

Manches im Verhalten der Insekten ist vollkommen genetisch verkabelt und läuft gespenstisch stur ab. Das Brutpflegeverhalten der Dreiphasensandwespe, die ihre Eier in durch ihren Stich gelähmte Raupen legt, ist dafür ein Beispiel. Es läuft ab wie ein programmiertes Ritual mit (für die Raupen) grausamen und mörderischen Teilschritten. Jede Unterbrechung führt dazu, dass die Wespe stereotyp wieder mit Schritt 1 beginnt. Erfahrung und Lernen zählen da nichts.

Wenn übrigens Vögel die Wespen meiden, dann ist es nicht die Furcht vor Wespenstichen, wie man lange Zeit vermutet hat. Das zeigte sich bei der Wespentäuschung, einer Form von Mimikry, bei der andere Insekten gelbschwarz gestreift, sozusagen im Wespenkostüm, auftraten. Man hat lange Zeit gedacht, dass Wespen von Vögeln deshalb gemieden werden, weil Wespenstiche unangenehm sein können, wovor das grelle Gelb der Wespen die Vögel warnt. Dann aber haben lange Versuchsreihen gezeigt, dass es der scheußliche Geschmack der Wespen ist, an welchen die Vögel durch die grelle Zeichnung erinnert werden. Eine unerfahrene Grasmücke wird gelegentlich sogar eine kleine Wespe fressen. Erfahrene Grasmücken meiden später alles, was schwarzgelb gestreift ist.

Das Buch hat sich sogar schon im Feldversuch bewährt: Als Sophie, 7, gehört hatte, was darin über einen von ihr eben bestaunten großen Käfer zu lesen war, hatte sie dafür nur ein Wort höchsten Lobes: Cool!

Ulrich Kattmann: Elfen, Gaukler & Ritter. Insekten zum Kennenlernen. Seelze/Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, 144 Seiten.

Freitag, 29. August 2003

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