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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Wie viel verstand Charles Darwin von Genetik?

Krude und vage Spekulationen

Von Peter Markl

Wenn es um Wissenschaft geht, ist Cambridge noch immer die Weltmetropole des Understatement. In einer Zeit, in der es immer mehr zur Notwendigkeit wird, lauthals auszuposaunen, was man in der Wissenschaft zustande gebracht hat, gilt es in Cambridge noch als unentschuldbar vulgär, für sich Propaganda zu machen.

Kein Außenseiter, der Fred Sanger trifft, käme auf die Idee, gerade mit dem einzigen Mann zu sprechen, der auf seinem Gebiet bereits zweimal den Nobelpreis bekommen hat. Als eine englische Zeitung letztes Jahr ein Profil von John Sulston veröffentlichen wollte, weil seine Arbeit mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war, wollte Sulston persönlich dazu nichts beitragen, weil er fürchtete, dass das aufdringlich wirken könnte. Natürlich sehen die Jüngeren diese Haltung nicht ohne Amüsement, aber es gibt wahrscheinlich auf der ganzen Welt kein anderes Laboratorium, in dem man sich in einer Kaffeepause damit unterhalten hätte, selbst einen Satz von überwältigendem Understatement zusammenzubasteln.

Schüler und ihr Lehrer

Eines der legendären Bespiele hat gerade den 50. Geburtstag. Es findet sich in der nur eine Seite langen Arbeit, mit der James Watson und Francis Crick am 25. April 1953 in der "Nature" ihre Vorstellungen über den räumlichen Bau der Desoxyribonukleinsäure veröffentlichten. (Auf der "Wissenschaft"-Seite des "EXTRA" wurde darüber schon berichtetet.) Sie waren auf damals noch etwas unorthodoxe Art - durch informiertes, fantasiereiches Erraten von Strukturprinzipien und deren Ausprobieren in selbstgebastelten Molekülmodellen - auf die Struktur gekommen. Die direkteren experimentellen Belege dafür waren allerdings so spärlich, dass Zweifel blieben. Der Schwerpunkt des ersten Entwurfs der Arbeit lag ganz bei der Diskussion kristallographischer Details.

Mehr als "Diese Struktur hat neue charakteristische Eigenschaften, die von beträchtlichem biologischen Interesse sind" wollten Watson und Crick anfangs nicht sagen. Dabei waren es vor allem die biologischen Implikationen, welche sie faszinierten. Am Ende kam es zu einer Art Kompromiss. Weil vor allem Watson nicht so sicher war, dass die Struktur fundierte Kritik überstehen würde, fügten sie den Satz ein: "So weit wir das jetzt sagen können, stimmt die Struktur annähernd mit den vorliegenden experimentellen Daten überein, sie muss aber als nicht bewiesen gelten, so lange sie nicht an Hand exakterer Resultate geprüft wurde." Crick dagegen drängte darauf, wenigstens anzudeuten, dass sich die Autoren der enormen biologischen Bedeutung der Struktur bewusst waren. Und so kam ein Satz zustande, der als Weltspitzenleistung in Understatement seither Bewunderung erregt: "Es ist uns nicht entgangen, dass der spezifische Mechanismus der Basen-Paarung, den wir vorgeschlagen haben, unmittelbar einen möglichen Mechanismus zur Kopie des genetischen Materials nahe legt."

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Watson und Crick dabei ein anderer berühmter Satz als Modell vorschwebte. Er findet sich in Charles Darwins 1859 veröffentlichtem, großem und revolutionärem Buch über den "Ursprung der Arten".

In diesem Buch, das doch den Ursprung aller Arten klären sollte, war eine Art ausgespart: der Mensch. Erst nachdem Darwin in der Zusammenfassung auf der vorletzten Seite des Textes davon geschrieben hatte, dass seine Theorie in der fernen Zukunft noch viel wichtigere Forschungsgebiete eröffnen werde, schrieb er den berühmten lapidaren Satz: "Licht wird geworfen werden auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte."

Moderne Wissenschaft

Die englische Wissenschaftshistorikerin Janet Brown, die unlängst den zweiten Band ihrer wundervollen Biographie Darwins veröffentlicht hat, dokumentiert darin auch, wie sehr Darwin ein Kind der Viktorianischen Zeit war. Nicht nur, weil er ganz bewusst sein großes Buch so geschrieben hat, dass es den methodischen Vorurteilen der damaligen Wissenschaftsphilosophen geradezu optimal zu entsprechen schien: keine Basis in vager Metaphysik, nichts theologisch Getöntes, nur Beobachtungen und Experimente. Naturwissenschaften hatten von Beobachtungen auszugehen. (Heutige, mathematisch orientierte Evolutionstheoretiker finden Darwins induktive Überzeugungsstrategie manchmal ermüdend detailfreudig.)

Darwin selbst war jedoch auch darin seiner Zeit ein Jahrhundert voraus. Er war ein moderner Naturwissenschaftler: in seinem Tagebuch hat er angemerkt, wie seltsam es für ihn sei, dass man immer wieder übersieht, dass Beobachtungen ja nur im Licht einer Vermutung darüber, was beobachtenswert sei, gemacht werden können.

Es sind vor allem manche der Ansichten, auf die man in seinem 1871 veröffentlichten Buch "Die Abstammung des Menschen" stößt, welche heute schwer verdaulich sind. Er war der Ansicht, dass seine Selektionstheorie allein nicht ausreiche, auch die Abstammung der Menschen zu erklären und griff deshalb auf eine Theorie zurück, die er als eine notwendige Ergänzung sah: seine Theorie der sexuellen Selektion.

Er verstand darunter "Vorteile, welche bestimmte Individuen in Bezug auf Fortpflanzungschancen gegenüber anderen Individuen desselben Geschlechts und derselben Art haben" - etwa Männchen, die in den Augen der Weibchen das "gewisse Etwas" haben, das manchmal so sichtbar ist wie das prächtige Gefieder eines Pfauenmännchens. (Heute spricht man selten von sexueller Selektion, sondern verwendet den weiteren Begriff "Selektion für Fortpflanzungserfolg.")

Darwins Theorie von der sexuellen Selektion musste zur Erklärung für Vieles herhalten, dem man heute abseits von Stammtischen nicht mehr zu begegnen hofft - aus heutiger Sicht schlechte Biologie, eingesetzt zur Stützung von zeitgeistinfizierten Vorteilen, welche die Viktorianer teilten. Richard Dawkins hat dazu angemerkt: "Es ist ein Zeichen für historischen Infantilismus, wenn man die Schriften eines Jahrhunderts durch die politisch getönten Gläser eines anderen Jahrhunderts liest."

Darwins Handicap war natürlich, dass er von den Erkenntnissen der heutigen Genetik nichts wissen konnte. Ihm war - wie fast allen anderen Zeitgenossen - nicht einmal bekannt, was sein Zeitgenosse Gregor Mendel in einer obskuren Brünner Zeitschrift darüber bereits veröffentlicht hatte.

Es gibt eine rührende Legende, nach der sich ein Exemplar der Zeitschrift mit Mendels bahnbrechender Veröffentlichung mit unaufgeschnittenen Seiten in Darwins Bibliothek gefunden haben soll - in Cambridge und im Down House wissen die heute besten Kenner von Darwins Bibliothek allerdings nichts davon. (Sie halten das für so falsch wie die andere Legende, die besagt, Darwin habe Karl Marx zurückgewiesen, der ihm "Das Kapital" habe widmen wollen.)

Mendels Schriften wurden jedenfalls erst um 1900 unabhängig voneinander an verschiedenen Stellen wiederentdeckt, und selbst diese Wiederentdeckung brachte Mendels Vorstellungen von der Weitergabe der Erbanlagen in Form diskreter Einheiten - den heutigen Genen - vorerst nicht in den Umkreis der Diskussionen der Evolutionstheoretiker. Eher im Gegenteil: Viele sahen Mendels Genetik als mit der damaligen Evolutionstheorie unvereinbar. Es war erst der große englische Statistiker und

Populationsgenetiker Sir Ronald Fisher, der in den dreißiger Jahren demonstrierte, dass die Mendelsche Genetik nicht nur nicht im Widerspruch zur Selektionstheorie ist, sondern vielmehr einer ihrer Eckpfeiler ist.

Verschmelzung der Erbanlagen?

Darwin hatte angenommen, dass bei der Vereinigung der Eizelle mit der Samenzelle die Erbanlagen unter Auflösung ihrer Identität "verschmelzen". Das schien dem schottischen Ingenieur Fleeming Jenkins einfach falsch, denn wenn die Selektion an Unterschieden zwischen Individuen ansetzte, dann hätte eine Verschmelzung doch in wenigen Generationen alle Unterschiede zum Verschwinden gebracht und die Selektion als Triebkraft

für den Wandel der Arten matt gesetzt.

Für Darwin war diese vernichtende Kritik jedoch nur ein Treffer auf einer Nebenfront: er konnte entgegnen, dass - was auch immer bei der Vereinigung der Erbanlagen vor sich gehen mochte - es doch nachweislich vererbbare Varietäten gäbe und das sei alles, was die Selektionstheorie erfordern würde.

Darwin hatte die Möglichkeit, dass sich die Erbanlagen unter Erhaltung ihrer Identität mischen, selbst erwogen. Sir Roland zitiert als Beleg einen Brief, den Darwin 1857 an seinen Freund Thomas Huxey schrieb: "Ich habe in der letzten Zeit immer sehr krud und vage darüber spekuliert, dass sich herausstellen könnte, dass es bei Fortpflanzung um irgendeine Art von Mischung gehen könnte, und nicht um eine wirkliche Verschmelzung - eine Mischung zweier Individuen, oder besser noch: unzähliger Individuen, da doch jeder Elternteil wiederum seine Eltern und Vorfahren hat. Ich weiß sonst keine andere Erklärung dafür, dass bei der weiteren Kreuzung bereits gekreuzter Formen so häufig die Formen wieder auftauchen, aus denen die Kreuzung entstand. Aber alles das sind natürlich unendlich krude Vorstellungen."

Doch keine Verschmelzung?

Heute weiß man, dass Darwin damit genau an dem Punkt war, wo damals eben nur Gregor Mendel weiter sah. Diese kruden Vorstellungen hat Darwin nie vergessen.

1866, sieben Jahre nach der Veröffentlichung des "Ursprungs der Arten", schrieb er einen Brief an Alfred Wallace, der unabhängig und zur gleichen Zeit wie Darwin die Selektionstheorie ausgearbeitet hatte. Die Bedeutung dieses Briefs für den genetischen Kontext wurde erst unlängst rein zufällig von Dr. Seymore Garte von der Universität New York erkannt, als er in der British Library die Korrespondenz von Darwin und Wallace durchsah. Darwin kommt darin auf seine eigenen Kreuzungsexperimente mit Erbsen zurück - Experimente, die er unabhängig von Gregor Mendel angestellt hatte: "Mein lieber Wallace", so schrieb er, "ich glaube nicht, dass Sie verstehen, was ich meine, wenn ich vom 'nicht Verschmelzen' bestimmter Varietäten rede. Ich habe zwei Varietäten von Erbsen gekreuzt, 'Painted Lady' und 'Purple', Erbsen, die sehr verschieden gefärbt sind, und dabei - obwohl ich die gekreuzten Erbsen derselben Erbsenschote entnommen habe - die beiden Ausgangsvarietäten in perfekt reiner Form wieder erhalten, und nicht eine Zwischenform."

Darwin geht dann auf Schmetterlingskreuzungen ein, von denen ihm Wallace geschrieben hatte, und endet mit einem Argument, auf das selbst zu Darwins Zeit jeder hätte kommen können - selbst wenn er keine Kreuzungsversuche angestellt hat. "Obwohl diese Fälle in ihrer prächtigen Erscheinung so wundervoll sind, weiß ich nicht, ob sie wirklich noch wundervoller sind als die Tatsache, dass jede Frau auf der Welt Kinder produziert, die klar unterschieden männlich oder weiblich sind . . ."

Darwin war seiner Zeit in bestimmten Fragen zu weit voraus. Sir Ronald hat dafür noch ein anderes Beispiel gefunden, nämlich die Frage des Zahlenverhältnisses von Männchen und Weibchen in einer Art und wie sich ein bestimmtes Verhältnis im Laufe der Evolution eingestellt haben könnte. Fischer hat dafür eine plausible Erklärung vorgeschlagen. Er erinnerte daran, dass jedes sich sexuell fortpflanzende Lebewesen eine Mutter und einen Vater hat, die beide ihre Gene zu gleichen Teilen der nächsten Generation beisteuern. Die Summe des Beitrags der Weibchen muss also gleich groß sein wie die Summe des Beitrags der Männchen. Wenn das Geschlechterverhältnis von 50:50 abweichen sollte, wird ein Individuum des zahlenmäßig unterlegenen Geschlechts größere Fortpflanzungschancen haben als die Individuen des anderen Geschlechts, von dem die "überschüssigen" Individuen übrigbleiben. Und das wird in den nächsten Generationen dazu führen, dass sich das Zahlenverhältnis wieder auf 50:50 einpendelt. Sollte es auf Dauer davon abweichen, so ist das schon das Resultat irgendeines Selektionsdruckes.

Die modernen Populationsgenetiker haben dieses Argument in vielen Richtungen weiterentwickelt.

Das Erstaunliche aber ist, dass man es schon bei Darwin findet. Allerdings nur in der ersten Auflage seines "Ursprungs der Arten".

Er nahm an, dass - zum Beispiel - in einer Art mehr Männchen zu finden seien und schreibt dann: "Könnte ein (abweichendes) Zahlenverhältnis durch natürliche Selektion wieder ausgeglichen werden? Da alle Merkmale variabel sind, werden bestimmte Paare einen etwas kleineren Überschuss an Männchen produzieren als andere Paare. Wenn nun die wirkliche Zahl der Nachkommen der Individuen konstant bleibt, werden die Paare, die mehr Weibchen produzieren, mehr zur Reproduktion der Art beitragen. Auf Grund der Gesetze des Zufalls werden dann

mehr von den Nachkommen dieses Paares überleben; und die hätten

ja eine Tendenz, weniger Männchen und mehr Weibchen in die Welt zu setzen, geerbt. So entstünde eine Tendenz zum Ausgleich des Zahlenverhältnisses der Geschlechter."

Später hat Darwin an diesen Überlegungen zu zweifeln begonnen. Er strich diesen Absatz in der zweiten Ausgabe des Buches und hielt statt desse nur mehr fest: "Früher habe ich gedacht, dass eine Tendenz dazu, eine gleiche Zahl von Männchen und Weibchen zu produzieren, aus der Theorie der natürlichen Selektion folgen würde, wenn das für eine Art vorteilhaft sei. Jetzt aber sehe ich, dass das ganze Problem so kompliziert ist, dass es besser ist, seine Lösung der Zukunft zu überlassen."

Literatur:

Richard Dawkins: Light will be thrown, Kapitel 2.1 in A Devils Chaplain. Selected Essays by Richard Dawkins. 264 Seiten, Weidenfeld & Nicolson, London, 2003.

Janet Brown: The Power of Place. Charles Darwin. The Origin and after - the years of fame. 591 Seiten; Alfred A. Knopf, New York, 2002.

Freitag, 28. März 2003

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