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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Steven Jay Goulds wissenschaftliches Vermächtnis

Plädoyer für eine neue Sicht

Von Peter Markl

Als die Experten sich im Juli 1982 darüber klar geworden waren, worunter ihr berühmter Patient litt, versuchte seine Ärztin ihn darüber möglichst schonend zu informieren: es war ein Bauchhöhlen-Mesotheliom, eine aggressive Art von Krebs, die meist durch Asbest ausgelöst wird. Auf Steven Jay Gould's Frage nach den Heilungschancen und der ihm noch verbleibenden Zeit, blieb die Ärztin vage: man hätte jetzt eine aussichtsreiche neue Therapie; und was die Literatur beträfe, existiere einfach nichts, das zu lesen sich lohnen würde.

Sie hatte natürlich wenig Chancen, damit den Harvard-Professor für Paläontologie davon abzuhalten, sich selbst kundig zu machen. Sobald ihm die eingesetzte aggressive Krebstherapie genügend Kraft ließ, ging er in die medizinische Bücherei der Universität und tippte "Mesotheliom" in das Suchprogramm eines Computers. Eine Stunde später wusste er, wie ernst die Situation war: unheilbar, die meisten überleben die Diagnose nur um acht Monate.

Nachdem sein Hirn wieder zu arbeiten begonnen hatte, sah er sich die Häufigkeitsverteilung der Überlebenszeit an und die machte ihm Mut: es gab wesentlich mehr Leute, die erheblich viel länger lebten, als Patienten, die der Krankheit schon früher zum Opfer gefallen waren. Und es gab gute Gründe, warum er zu den weit länger Überlebenden gehören könnte: nicht nur weil er als berühmter Patient von einigen der besten Ärzte der Welt mit einer neuen Therapie behandelt wurde, sondern auch weil er mit 40 Jahren relativ jung war und man die Krankheit in einem relativ frühen Stadium aufgespürt hatte. Dazu kam ein Zufall: er war der Persönlichkeitstyp, von dem man vermutet, dass er den Verlauf der Krankheit positiv beeinflussen kann - jemand mit einer klaren Aufgabe vor sich, zuversichtlich und selbstsicher.

Es blieb also wahrscheinlich Zeit, zu kämpfen. Steven Jay Gould hat darüber später in einem berühmten Essay geschrieben: "Es ist meiner Ansicht nach ein bisschen zu sehr in Mode gekommen, im akzeptierenden Auf-sich-nehmen des Todes etwas von innerer Würde zu sehen. Natürlich stimme ich dem Prediger Salomo zu, wenn er sagt, dass es eine Zeit zu leben gibt und eine Zeit zu sterben. Wenn mein Lebensfaden ans Ende gekommen sein wird, hoffe ich dem Ende ruhig und auf meine Art zu begegnen. Für die meisten anderen Situationen aber ziehe ich die viel kämpferischere Sicht vor, dass der Tod der ultimative Feind ist - und ich finde nichts an denen auszusetzen, die mächtig gegen das Sterben des Lichts ankämpfen."

Am 20. Mai 2002, nach 20 Jahren Kampf, ist Steven Jay Gould in Manhattan an Lungenkrebs gestorben. Nach einem Kampf, den er mit ungeheurer Disziplin und auf seine eigene Art geführt hat: nur wenige Wochen vor seinem Tod erschien bei der "Harvard University Press" das Buch, an dem er 20 Jahre lang gearbeitet hatte: "The Structure auf Evolutionary Theory", Respekt einjagende, nicht weniger als 1.464 Seiten - sein wissenschaftliches Vermächtnis. Daneben hatte er, selbst in den Zeiten, in denen die Nebenwirkungen der Chemotherapie die meisten Anderen arbeitsunfähig gemacht hätten, Monat für Monat, 300 Monate lang, von 1974 bis zum Jänner 2001, einen Essay für das "Natural History Magazine" und mehrere kleinere Bücher geschrieben. Vor allem diese Essays haben ihm zahllose Ehrungen eingetragen und zum heute bekanntesten Wissenschaftler Amerikas gemacht. Richard Lewontin, Harvard-Kollege und selbst einer der führenden Populationsgenetiker der Welt, bewundert, dass diese Essays für alle lesbar waren, kurzweilig, färbig und geprägt von einer geradezu unheimlichen Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte in ihrem kulturellen Kontext: "Steve hat nie versucht etwas zu vereinfachen; er hat die Leser dazu gebracht, die Vielfalt und das ungeordnete Kuddelmuddel des Lebens zu schätzen."

In den letzten Jahren seines Lebens war sein Harvard-Gehalt nur mehr ein Bruchteil dessen, was er durch seine essayistische Tätigkeit bezog. Schon das hat seine Popularität unter den Fachkollegen nicht gerade gefördert. Es war sicher auch nicht leicht, ihn als wissenschaftlichen Gegner zu haben, weil er in seiner überwältigenden Eloquenz auch ätzend und arrogant wirkte, aber seine Studenten bewunderten ihn wegen seiner Großzügigkeit: er bezahlte aus eigener Tasche, was sonst hätte durch Projekte finanziert werden müssen.

Eine schnelle Karriere

Steven Jay Gould war am 10. September 1941 in New York in eine jüdische Familie geboren worden, die vor zwei Generationen aus Osteuropa nach Amerika ausgewandert war. Sein Vater war Gerichtsstenograph, seine Mutter hatte künstlerische Neigungen. Als er fünf geworden war, hatte ihm sein Vater den Tyrannosaurus Rex im "American Museum of Natural History" vorgestellt, was ihn endgültig von seinem Plan abbrachte, zur Müllabfuhr zu gehen. Mit elf hatte er Darwins "Ursprung der Arten" gelesen, der dann neben den Baseball Stars der New York Yankees zu einem seiner Helden wurde und blieb. (Als Joe di Maggio 1982 mit einem signierten Baseball als Geschenk sein Krankenzimmer betrat, war sein Traum wahr geworden.)

Steven Jay Gould hatte eine außerordentlich schnelle Karriere: mit 33 war er bereits Full Professor in Harvard geworden und wurde - unter vielen anderen Ehrungen - 1989 Mitglied der "National Academy of Sciences".

Er war während seiner ganzen Karriere in heftige intellektuelle Auseinandersetzungen verwickelt. Wenn an dem Sprichwort "Viel Feind, viel Ehr" überhaupt etwas ist, dann ist Steven Jay Gould überwältigend ehrenvoll. Er trat auf den Plan, wenn die Evolutionstheorie attackiert wurde - vor allem 1981, als in dem mittlweile berüchtigten Prozess in Arkansas die Kreationisten angetreten waren, um sich das Recht auf Aufnahme ihrer Ansichten in den Lehrplan als gleichwertige Alternativen zum Darwinismus zu erstreiten.

Er kritisierte 1982 in seinem Buch "Der falsch vermessene Mensch" rassistische Anthropologie und die Naivitäten der Intelligenzvermesser. 1989 veröffentlichte er sein Buch "Zufall Mensch", in dem er vor allem an Hand der kambrischen Explosion des Artenreichtums die prominente Rolle des Zufalls in der Evolutionsgeschichte demonstrierte, und dadurch alle Vorstellungen von einem auf die Menschen zulaufenden Plan ziemlich lächerlich erscheinen ließ.

Schon 1972 hatte er jedoch - zusammen mit seinem Kollegen Niles Eldredge - mit einer Arbeit über den zeitlichen Ablauf der Makroevolution eine neue Front innerhalb der Evolutionstheorie eröffnet: während die meisten der heutigen Wissenschaftler die Evolution im Großen nach den gleichen Mechanismen ablaufen sehen wie die Mikroevolution innerhalb einer Spezies, halten Gould und Eldredge ihnen entgegen, dass die Belege der Paläontologen nicht - wie auch schon Darwin angenommen hatte - derart lückenhaft seien, dass sie diese Vermutung nicht widerlegt hätten. Goulds Ansicht nach kann die Makroevolution mit den Mechanismen der Mikroevolution nicht vollständig erklärt werden. Vor allem in den Jahren von 1992 bis 1997 gab es darüber in der "New York Review of Books" eine lang hingezogene scharfe Debatte mit Richard Dawkins, Daniel Dennett und Steven Pinker - alle ebenso eloquent wie Gould und mit vergleichbar üppigen Egos ausgestattet. Die Auseinandersetzung wurde immer wieder auch so ätzend, dass sie der englische "Kriegsberichterstatter" Andrew Brown als die "Darwinischen Kriege" bezeichnete und amüsiert anmerkte, dass man dabei eine Art der Kriegsführung kennen lernen konnte, wie man sie bisher nur von den Yanamamos kannte: wenn es in diesem extrem gewalttätigen und sexistischen Stamm Meinungsverschiedenheiten gibt, werden sie in einem Ritual beigelegt, das der Anthropologe Marvin Harris so beschreibt: Wenn ein Mann etwas mit einem anderen auszutragen hat, dann fordert er ihn nach einigen Runden heftiger verbaler Beschimpfungen zu einem Duell mit etwa zweieinhalb Meter langen Stecken heraus. Der Herausforderer steckt seinen Stecken in den Sand, lehnt sich daran und beugt den Kopf. Sein Gegner packt jetzt seinen Stecken und drischt mit knochenzermalmender Gewalt auf den dargebotenen Schädel. Sollte der Gegner das überstehen, hat er das Recht zu einem unmittelbar darauf folgenden gleichartigen Gegenschlag. Bis eben einer ausfällt.

Goulds großes letztes Buch ist ein einziges Plädoyer für eine neue Sicht der Struktur der Evolutionstheorie, geschrieben im Stil des vorvergangenen Jahrhunderts: immer wieder ausufernd und doch kunstvoll verschachtelt ist es nicht nur der Versuch Goulds, seine Sicht seiner Position in der Geschichte der Evolutionstheorie klarzulegen, sondern auch ein Spiegel einer etwas barocken Weltsicht. Nicht unbedingt für eilige Leser und in seiner umwegigen Indirektheit eine Herausforderung für junge Wissenschaftler, welche ihre Fachlektüre auf eine spezielle Art sprachlicher Dürftigkeit konditioniert hat.

Ein Buch mit langem Atem

Eigentlich besteht dieser Block von einem Buch ja aus mehreren Teilen, die bei einem Autor mit weniger langem Atem als getrennte Bücher veröffentlicht worden wären: der erste Teil - an die 490 Seiten - befasst sich mit der Entstehungsgeschichte des Darwinismus und seiner logischen Struktur, so wie man sie heute meist rekonstruiert, wobei Gould in eigenen Kapiteln Weiterentwicklungen behandelt, die es - nach seinem Urteil - notwendig machen, die Struktur der Evolutionstheorie neu zu sehen. Er konstatiert, dass die lange pluralistische Sicht der Triebkräfte der Evolution sich nach der (partiellen) Integration der einzelnen Teildisziplinen der Evolutionstheorie immer mehr verengt hätte: immer mehr hätte man die natürliche Selektion als die (fast) ausschließliche Triebkraft der Evolution angesehen, sie nur mehr auf einem einzigen hierarchischen Niveau ansetzen lassen - lange Zeit als Selektion unter verschieden fitten Organismen und schließlich, vor allem bei Dawkins, als Selektion von Genen innerhalb des Genoms. Gould sieht die Selektion jedoch auch unter verschiedenen konkurrierenden Gruppen oder Spezies am Werk - etwas, das die meisten der heutigen Theoretiker zwar nicht für unmöglich halten, aber doch für so unwahrscheinlich, dass es sehr selten sein müsste. Vor allem aber widmet er buchlange Kapitel allen den Faktoren, welche die "Allmacht der Selektion" einschränken und so die Entwicklungsgeschichte der Organismen prägen - vor allem die Einschränkungen im Spektrum möglicher Entwicklungen durch innere Faktoren, welche die unbestreitbare außerordentliche Beständigkeit biologischer Strukturen trotz dramatischer Veränderungen in ihrer Funktion erklären könnten. (Die Knochen und Knorpel, welche Menschen beim Schlucken, Sprechen und Hören verwenden, entstanden als Teile des Kiemenapparats ihrer fischähnlichen Vorfahren und wurden in der späteren Entwicklung nur umfunktioniert - ein Prozess, den Gould und Elisabeth Vrba "Exaptation" getauft haben.)

Gould plädiert dafür, bei der Erklärung der morphologischen Konstanz von Organen, welche sich zu den ganz spezifischen Bauplänen der Organismen fügen, nicht zu übersehen, wie sehr sie nicht nur von der natürlichen Selektion, sondern auch von den physikalischen und chemischen Eigenschaften ihrer Bauteile geprägt wird. Diesem großen Thema, nämlich der Integration zwischen Struktur und Funktion in der Stammesgeschichte sowie deren Einfluss auf die Entwicklung des Individuums vom befruchteten Ei zum erwachsenen Organismus - ein unter dem Labor-Slogan "Evo-Devo" zur Zeit in der Forschung sehr "heißes" Thema - widmet Gould zwei Kapitel mit insgesamt 270 Seiten.

Weitere 280 Seiten gelten seiner Theorie der Makroevolution in "durchbrochenen Gleichgewichten" - jener Aufeinanderfolge von Perioden langer Stabilität, die von (in Zeitmaßen der Paläontologie gemessen) relativ kurzen Perioden schnellen evolutionären Wandels durchbrochen sind. Es war vor allem diese Theorie, welche in den "Darwinischen Kriegen" zu wahren intellektuellen Gemetzeln geführt hat. Man bezeichnete die Theorie als schlechthin falsch, oder leer oder trivial oder eine Taschenspielerei, motiviert durch Ruhmsucht, unehrlich und - noch die freundlichste Charakterisierung - ein Produkt intellektueller Konfusion.

Gould diskutiert die hässlichsten Argumente auf 25 Seiten und zieht eine nüchterne, vorläufige Bilanz, die auch für andere der umstritteneren Teile des monumentalen Buches stehen könnte: "Alles, was klar geworden war, ist, dass eine heftige Debatte ausgelöst wurde, die dazu führte, dass man erneut die Haltbarkeit der bisherigen Ansichten über evolutionäre Mechanismen diskutiert und die Belege neu gewertet hat. Alles das zeigt, dass es um die Evolutionstheorie gut steht und die Wissenschaftler das tun, was man von ihnen erwartet - nämlich Fragen stellen."

Steven Jay Gould: The Structure of Evolutionary Theory. 1.433 Seiten. Harvard University Press. Cambridge, Massachusetts and London, 2002.

Freitag, 07. Juni 2002

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