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Gerald Edelmans Zwischenbilanz eines Forschungsprogramms

Wie Bewusstsein entsteht

Von Peter Markl

Populäre Stereotype sterben langsam. Zum Beispiel die Vorstellung, dass es so etwas wie den typischen Wissenschaftler gibt. Zerstreute Leute gibt es schließlich auch in anderen Berufen, die eine hohe Konzentration auf ein Thema notwendig machen. In der Wissenschaft findet man die Frau mit den "goldenen Händen", die, wie es ein alter Witz haben will, selbst einen reifen Quargel noch dazu bringt, zu kristallisieren, ebenso wie den wortkargen mathematischen Physiker, der ohne Tafel und Kreide hilflos zu sein scheint.

Es gibt aber - ziemlich selten - einen Typ von Wissenschaftler, der aus diesem ganzen Spektrum heraussticht: von überragender, schneller Intelligenz, mit selbst für erfolgreiche Wissenschaftler noch überdimensional entwickeltem Ego, ausgestattet mit nur wenig Geduld für Meinungen, die er nicht interessant findet, aber einem ziemlich treffsicheren Gespür für wissenschaftlich fruchtbare Probleme und dafür, wie man sie anpacken kann. Die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick gehören zu ihnen oder der theoretische Physiker Steven Weinburg.

Aber selbst in dieser exklusiven Gruppe gibt es zwei Persönlichkeiten, die herausstechen, weil ihre wissenschaftliche Brillanz eingebettet ist in eine umfassende Bildung, ganz im "klassischen", europäischen Sinn. (Allein deshalb sind sie vielen ihrer amerikanischen Kollegen etwas unheimlich). Sie sind einander in vielem ähnlich: Murray Gell-Mann, geboren 1929 in New York als Sohn jüdischer Eltern, deren Familie aus der Umgebung von Czernowicz stammte, erhielt für seine Arbeiten zur Klassifikation der Elementarteilchen 1969 den Nobelpreis für Physik; Gerald Edelman, geboren 1929 als Sohn eines praktischen Arztes, aufgewachsen auf Long Island, besuchte im ländlichen Pennsylvania ein deutsches Reform College, studierte dann Medizin und kam - auf einigen Umwegen - zu den molekularbiologischen Grundlagen der Immunologie. 1957 ging er an die New Yorker Rockefeller University, wo er als Graduate Student begann und 1966 Professor wurde. 1972 erhielt er für seine Arbeiten über die Struktur der Antikörper den Nobelpreis für Medizin. Beide - sowohl Gell-Mann wie Edelman - haben nach ihrem Nobelpreis ein neues Thema aufgegriffen und für beide waren es komplexe adaptive Systeme, die sie faszinierten.

Rätsel Immunsystem

Für Gerald Edelman war das Thema natürlich nicht ganz neu, denn das Immunsystem ist ein Modell eines solchen komplexen, adaptiven Systems: die Antikörper "passen" zu den eingedrungenen Fremdstoffen, den Antigenen, als ob sie maßgeschneidert wären. Eine solche Passung kann durch zwei Mechanismen zustande kommen. Der Antikörper könnte unter Verwendung von Informationen über die Struktur des Antigens "maßgeschneidert" werden - ein Fall von Passung auf Grund von (struktureller) Information.

Der australische Nobelpreisträger Macfarlane Burnet hat jedoch schon 1959 einen alternativen, Darwin'schen Mechanismus vorgeschlagen, bei dem nichts auf Grund von Instruktionen passend gemacht wird: es wird nur selektioniert. Ein reiches Sortiment von verschiedenen B-Lymphozyten, also weißen Blutkörperchen, durchstreift den Körper, ständig auf der Fahndung nach eingedrungenen Fremdstoffen. Jede dieser Zellen hat an ihrer Oberfläche einen Antikörper sitzen, der in seiner Funktion einer Antenne gleicht. Diese "Antenne" hat eine ganz verschiedenen Passungsstelle für eine Oberflächenstruktur eines möglichen Antigens. Taucht ein passendes Antigen in der Umgebung der Zelle auf, so wird es an diese "Passungsstelle "andocken" - ein Signal für den Lymphozyten, dass ein Antigen aufgespürt wurde.

Darwin'scher Mechanismus

Was darauf folgt, ist eine rasante Aufrüstung des Immunsystems: der "erkennende" Lymphozyt beginnt sich rasant zu vermehren und wird so die erste Zelle eines speziellen Klons von Zellen - alle dazu fähig, den wirksamen Antikörper zu produzieren. Instruktion durch das Antigen gibt es dabei nicht, die Antigen-Antikörper-Passung ist allein das Resultat der Selektion eines Klons von B-Lymphozyten aus einem vorgefertigten Repertoire von verschiedenen B-Lymphozyten.

Es war Gerald Edelman, der zeigte, dass Burnets Darwin'scher Mechanismus zur Erzeugung von Passung nicht nur ein Gedankenspiel ist, sondern genau das, was das Immunsystem so erfolgreich macht. Nachdem sein Beitrag dazu mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war, ging er daran, zu untersuchen, ob die "Passung" der Hirnprozesse an die Realität nicht auch durch eine Folge solcher Darwin'schen Selektionsprozesse erklärt werden könnte - Selektionsprozesse, die sich im Lauf der Evolution herausgebildet haben und unter vorgebildeten neuronalen Strukturen jene auswählen, die das Überleben hinreichend wahrscheinlich machen, von der einfachen Informationsverarbeitung der Signale von Sinnesorganen bis zum Bewusstsein.

Edelman - übrigens ein begeisterter Musikliebhaber, ausgebildeter Geiger und Fan von Jascha Heifitz - hat dieses gewaltige Forschungsprogramm seit 1980 mit bewundernswerter Hartnäckigkeit verfolgt. Er ist auch als "Fund Raiser" Weltklasse, was es ihm ermöglicht hat, ein eigenes Laboratorium ins Leben zu rufen: das Neuroscience Institut in der Nähe von La Jolla in Kalifornien, wo 45 Wissenschaftler mit zeitlich befristeten Verträgen, ergänzt durch zehn Gäste, auf einem weiten Spektrum von Spezialdisziplinen am großen Thema arbeiten. Das Budget von zurzeit jährlich etwa 7 Millionen Dollar kommt heute ausschließlich aus privaten Quellen: den großen amerikanischen Foundations und der pharmazeutischen Industrie.

Edelman sieht in dem Institut so etwas wie "ein wissenschaftliches Kloster", abgeschieden von der Hektik des sonstigen Wissenschaftsbetriebs, kaum Bürokratie, keine Lehrverpflichtungen, keine Notwendigkeit, in das Schreiben von Projektanträgen Zeit zu investieren. Das Institut hat unzählige spezialisierte Einzelprojekte bearbeitet, deren Resultate sich immer mehr zu einem - wie natürlich auch Edelman betont - noch unvollständigen Bild davon zusammenfügen, wie aus Materie Bewusstsein entsteht. Die jüngste Zwischenbilanz dieses Forschungsprojekts findet sich in dem Buch "Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht" von Gerald M. Edelman und Giulio Tononi, dessen amerikanische Ausgabe vor zwei Jahren erschienen ist.

Gerald Edelman hat dazu bereits vorher eine Reihe von Büchern vorgelegt; der neue Band ist sicher derjenige, der am wenigsten mit technischen Details befrachtet ist. Es kommt den Autoren vor allem darauf an, ihre Theorie, die für ihre Beurteilung relevanten Beobachtungsdaten sowie eine Reihe von methodischen Grundsätzen klar zu machen, von denen sie bei ihrer Arbeit ausgehen. Sie sind in Bezug auf die Möglichkeit, dafür Erklärungen zu finden, nicht so skeptisch wie jene Scharen von Philosophen, welche - zu oft unter Aussparung fast aller experimentellen Befunde - extrem pessimistisch sind. Edelman und Tononi finden, dass ihre Haltung auf Folgendes hinausläuft:

"Egal, was Wissenschaftler auch tun, die Erste-Person-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive eines bewussten Individuums werden sich nie miteinander vereinbaren, die Erklärungslücke nie überbrücken, und das 'harte' Problem - die Entstehung von Empfindungen, phänomenalen Zuständen und Erlebnissen aus dem rastlosen Gesumme von Neuronen - niemals lösen lassen."

Edelman und Tononi widersprechen dem nicht, aber sie konstatieren, dass man das auch nicht erwarten sollte, wenn man eine halbwegs realistische Einschätzung dessen hat, was wissenschaftliche Erklärungen - auch auf anderen Gebieten - zu leisten vermögen und was nicht: "Wissenschaftliche Erklärungen können die Bedingungen beschreiben, die notwendig und hinreichend sind, damit ein Phänomen stattfinden kann, sie können die Eigenschaften des Phänomens erklären und sogar begründen, warum ein Phänomen unter eben den Bedingungen stattfindet. Keine wissenschaftliche Beschreibung oder Erklärung kann das real vorhandene Ding selbst ersetzen. Jeder von uns trägt dieser Tatsache Rechnung, wenn er etwas beschreibt, beispielsweise einen Wirbelsturm: Um welchen physikalischen Prozess es sich handelt, warum er die Eigenschaften hat, die er hat, und unter welchen Bedingungen er sich bildet. Niemand aber würde erwarten, dass eine wissenschaftliche Beschreibung eines Hurrikans selbst ein Hurrikan ist oder einen solchen verursacht."

Physik genügt für Erklärung

Was Edelman und Tononi dazu vorlegen, geht von einigen methodischen Vorannahmen aus. Bewusstsein ist eine besondere Form von physikalischem Geschehen, das sich aus der Struktur und Dynamik bestimmter Arten von Gehirnen ergibt. Zu seiner Erklärung genügen konventionelle physikalische Prozesse - Dualismus ist nicht erlaubt. Was man braucht, sind jene physikalischen Prozesse, welche zwei Eigenschaften zu erklären vermögen, die alles bewusste Erleben kennzeichnen: Es ist ein unteilbares, integriertes Ganzes und gleichzeitig hoch differenziert, weil man Milliarden verschiedener Bewusstseinszustände haben kann.

Bewusstsein ist im Tierreich durch natürliche Selektion im Verlauf der Evolution entstanden und damit an bestimmte biologische Strukturen geknüpft, die durch eine bestimmte Morphologie möglich wurden. Das Gehirn ist kein Computer, auch wenn man neuronale Prozesse in Computern abbilden und aus solchen Abbildungen etwas über bestimmte Aspekte neuronaler Prozesse lernen kann.

Edelmans Theorie, eine Theorie der Selektion von Gruppen von Neuronen, hat man als "neuronalen Darwinismus" bezeichnet. In ihr spielen Selektionsvorgänge auf verschiedenen Organisationsniveaus die entscheidende Rolle.

Die Individualentwicklung beginnt schon in sehr frühem embryonalem Stadium, weit vor der Geburt. Die ursprüngliche Hirnanatomie ist nicht streng genetisch vorgezeichnet, sondern nur eingeschränkt durch genetische Faktoren. Dabei entstehen dicht verästelte Muster von Neuronen, welche über ihre Synapsen mit anderen Neuronen in Verbindung stehen. Somatische Selektion führt dann dazu, dass im weiteren Entwicklungsverlauf die Synapsen zwischen Neuronen, welche gleichzeitig feuern, verstärkt werden, die anderen werden abgeschwächt. Dadurch entstehen Gruppen enger miteinander verknüpfter Neuronen, unter denen dann mit denselben synaptischen Mechanismen auf Grund von Erfahrung der Außenwelt weiter selektioniert wird.

Das Bindungsproblem

Ein für jede Theorie des Bewusstseins zentrales Problem ist das so genannte Bindungsproblem: Wodurch entsteht die überwältigende Einheit des Bewusstseins, wenn die neuronalen Karten, in denen sensorische und motorische Ereignisse niedergelegt sind, sich über das ganze Hirn verteilt finden. Gerald Edelman sieht die Lösung des Bindungsproblems in so genannten "reentranten" Wechselwirkungen - ein Prozess, bei dem einzelne, räumlich voneinander getrennte Gehirnkarten über massive parallel geschaltete und in den meisten Fällen in beide Richtungen funktionierende anatomische Verknüpfungen Signale austauschen, was zu einer Koordination der Funktionen der in räumlich weit auseinander liegenden Arealen deponierten Neuronenkarten führt.

Edelman und Tononi sind sich darüber klar, dass solche "rückleitigen" Verbindungen ein zentraler Bestandteil ihrer Lösung des berühmten Bindungsproblems sind. Auch Francis Crick sieht, dass an der Vermutung, dass rückleitige Bahnen oder Bahnen, die nach einem oder mehreren Zwischenschritten wieder am Ausgangspunkt ankommen, dabei eine wichtige Rolle spielen, etwas Wahres sein könnte; die neurophysiologischen Belege dafür, dass derartige Bahnen für Bewusstsein notwendig sind, scheinen ihm aber (noch) so mager, dass er vorschlägt, das Kriterium der rückleitigen Verbindungen vorderhand nur mit Vorsicht zu gebrauchen.

Gerald Edelmans "neuraler Darwinismus" gehört zu den Theorien des Bewusstseins, die zu dem, was man von Biologie weiß, nicht nur nicht im Widerspruch stehen, sondern die Evolutionstheorie ernst nehmen, was man von den unzähligen Varianten überwiegend philosophischer Theorien nicht sagen kann. Sie ist immer noch eine Erklärungsskizze; Edelman und Toninos Buch umreißt, wie weit man im Rahmen dieses Forschungsprogramms bereits gekommen ist.

Gerald M. Edelman, Giulio Tononi: Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht. Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg. Verlag C. H. Beck, München, 2002.

Freitag, 12. April 2002

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